Aus der Wörtersammlung: sekunde

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loop

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sier­ra : 0.08 — Geschich­ten, die sich gut begrün­det wie­der­ho­len, ver­traut gewor­de­ne Geschich­ten. Die­se hier, zum Bei­spiel, im Febru­ar 2008 aus der Luft gefischt: Da war mir doch in den Zei­ten der Vogel­grip­pe, bei klei­ne­ren Tur­bu­len­zen, im Gang eines Flug­zeu­ges eine uralte Lady ent­ge­gen­ge­kom­men, deren Gesichts­zü­ge mich sofort an Coco Cha­nel erin­ner­ten. Von zier­li­cher Gestalt trug sie einen dunk­len Man­tel, leich­te, fla­che Schu­he und mach­te Schrit­te wie ein Matro­se auf hoher See. Vor allem ihr schloh­wei­ßes Haar und ihr äußerst wil­lens­star­ker Blick sind nah geblie­ben, auch ihr hell­rot geschmink­ter Mund, der min­des­tens acht­zig Jah­re alt gewe­sen sein muss­te, und doch bei­na­he wirk­te wie der Mund einer jun­gen Frau. Eines Abends, wäh­rend ich einer Nach­rich­ten­sen­dung folg­te, erin­ner­te ich mich an die­se selt­sa­me Frau, und ich stell­te mir vor, wie sie aus der drit­ten Eta­ge eines Miets­hau­ses in den Kel­ler steigt, um ein Roll­wä­gel­chen zu suchen, das sie dort für immer abge­stellt hat­te, nach­dem sie beim Ein­kau­fen um ein Haar gestürzt war. Es ist also frü­her Mor­gen, es ist Win­ter und noch dun­kel, als die alte Dame das Haus ver­lässt. Ich sehe sie mit vor­sich­ti­gen Schrit­ten in ihrem Man­tel und Pelz­stie­fel­chen über die Stra­ße gehen. An der ers­ten Ampel biegt sie nach links ab, über­quert einen Platz, folgt einer wei­te­ren schma­len Stra­ße, jetzt ist sie vor einem Super­markt ange­kom­men. Sie stellt ihr Roll­wä­gel­chen in der Nähe der Kas­se ab, geht in die Geträn­ke­ab­tei­lung und nimmt eine Fla­sche Was­ser aus dem Regal. Sie trägt die Fla­sche zu ihrem Wägel­chen, kehrt zurück, nimmt sich die nächs­te Was­ser­fla­sche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägel­chen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heim­weg über die Stra­ße gezo­gen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hau­ses ange­kom­men. — Jetzt stellt sie das Wägel­chen neben die Trep­pe, die zur Haus­tü­re führt. — Jetzt ist sie mit einer der Fla­schen im Haus ver­schwun­den. — Zehn Minu­ten ver­ge­hen. Dann erscheint sie wie­der auf der Stra­ße. Sie hat ihren Man­tel aus­ge­zo­gen, trägt eine graue Jacke und Sport­schu­he. Kurz, für zwei oder drei Sekun­den, hält sie sich am Gelän­der der Trep­pe fest. — stop
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im albtraum

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tan­go : 0.05 — Ich hat­te ein Muse­um geträumt, ein Alb­traum, ein Muse­um, des­sen Säle für Besu­cher zur Nacht­zeit nur geöff­net waren. Fol­gen­des: Eine Spiel­zeug­ma­schi­ne erhebt sich dort, Saal 107, von einem Tisch, eine Stadt ohne Staub. Da sind Häu­ser, Bara­cken, geschot­ter­te Wege, Mau­ern, ein Platz. Und Bäu­me sind da noch. Und Schie­nen. Und Tür­me. Höl­zer­ne Tür­me. Guss­ei­ser­ne Lam­pen. Schar­fes Licht, wei­ßes Licht, Gewit­ter­licht. Kein Laut, kein Schat­ten, kei­ne Bewe­gung. Aber in den Kro­nen der Bäu­me, Unru­he, beben­des War­ten. Es ist wie­der die sechs­te Sekun­de, dann die sieb­te, dann die ach­te. Jetzt geht alles sehr schnell von­stat­ten. Ein hel­ler Ton, ein Pfiff, kaum hör­bar. Eine Loko­mo­ti­ve, wei­ßer Dampf, rast auf Schie­nen aus dem Halb­dun­kel jen­seits der Umzäu­nung her­an, ein Zug, ein lan­ger Zug. Auch in die Stadt ist nun Bewe­gung gekom­men. Per­so­nen. Vögel. Hun­de. All das so vor­an, als wäre es auf­ge­zo­gen, wür­de sich ent­la­den, ruck­ar­tig, als habe man einem Film Sekun­de für Sekun­de Bil­der ent­nom­men. Der Zug stoppt. Figu­ren, Men­schen­fi­gu­ren, Hun­der­te, auch Kin­der­fi­gu­ren, flie­ßen aus Wag­gons, for­mie­ren sich zu einer Linie, die sich bald teilt. Wis­pern und Zwit­schern. Dann Rauch. Nadeln von schwar­zem Rauch. Rauch bis zur Him­mels­de­cke. Und Geruch. Ein selt­sa­mer Geruch, sehr senk­recht, selt­sam, Geruch von geschmol­ze­nem Metall, von Zinn, süß, von Gebäck. Alles ist wie von Sand bewor­fen, so ein­ge­färbt, auch jene Men­schen, die klein sind und schnell und bald schon ver­schwun­den, waren von der Far­be hel­len San­des. Dann wie­der Stil­le. Kei­ne Bewe­gung. Nur die Bäu­me, das Blatt­werk, unru­hig. — stop

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zwitschern

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india : 22.10 — Selt­sa­me Spur, die Twit­ter auf mei­nem Com­pu­ter schreibt. Mel­dun­gen, Sekun­den nur oder Minu­ten von­ein­an­der ent­fernt: > mw — bos­ton : Just saw a mou­se in the apart­ment! EEEEK!!!!!! Im get­ting a barn owl./ ky — tehe­ran : uncon­firm­ed — 150 peo­p­le kil­led last week/ mv — absu­di­stan : Ich glau­be, mein Blick sagt gera­de Vorm-Schlafengehen-möchte-ich-Blut-fließen-sehen./ sb — zürich : ich wer­de von men­schen regiert, mit denen ich nicht mal reden würde./ ft — tehe­ran : Crack­down on Jour­na­lists: Jour­na­lists are repor­ted­ly arres­ted in Bous­h­ehr, Mas­had and Rasht/ mb — ber­lin : könnt ihr mal ähm feed­back geben, ob der feed­rea­der wie­der funk­tio­niert für mein blog?/ ft — tehe­ran : Allah Akbar and Death to Dic­ta­tor cry out over Iran tonight, as in other nights/ ts — mün­chen : “Was sol­len das für Spra­chen sein, die sich von Ihnen beherr­schen las­sen” Kurt Tucholsky/ cb — geor­gia : today is a good day to die say the cheyene/ pk — ham­burg : ich habe einen Wake­Up-Tweet in die Köp­fe mei­ner schla­fen­den Time­line gesendet/ sl — nord­see : More vide­os coming in from Tehr­an. A man down and a bus in flames./ ft — tehe­ran : for­eign embas­sies in Tehr­an ope­ned their doors to the woun­ded & Injured/ cnn — ever­y­whe­re : moussa­vi to pro­tes­ters: ‘The coun­try belongs to you. The revo­lu­ti­on and the sys­tem is your heritage.’/ kiwi — tehe­ran : We have a few moments to tweet with you — our fri­ends — from a DSL connection.

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sonar

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echo : 0.50 — Wal­ter Kem­pow­ski bemerkt in einem Gespräch, dass die wich­ti­gen Din­ge im Leben in Sekun­den­zeit gesche­hen. Er habe vor sehr lan­ger Zeit ein­mal von einem fah­ren­den Zug aus, in einem Fens­ter oder in einer Tür eines gleich­falls fah­ren­den, eines ent­ge­gen­kom­men­den Zuges, die Gesich­ter drei­er Lager­häft­lin­ge gese­hen. Das dau­er­te nur eine Zehn­tel­se­kun­de: Nie ver­ges­sen! — Sein gro­ßes Werk vom Lau­schen, Fra­gen, Sam­meln, Sor­tie­ren, Kon­fi­gu­rie­ren: Echo­lot. — stop

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papierhaut

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alpha : 18.07 — Blät­ter­te in Janet Frames auto­bio­gra­fi­scher Erzäh­lung Ein Engel an mei­ner Tafel. Blitz­ar­tig, nach Jahr­zehn­ten des Lesens, von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de bemerkt, dass Tex­te über sicht­ba­re Struk­tu­ren, dass sie über Unter­bre­chun­gen ihrer Zei­chen­ket­ten ver­fü­gen, dass Kapi­tel oder Absät­ze sie zer­le­gen, dass sie also por­tio­niert sind, dass sie insel­wei­se auf einer Papier­haut von Stil­le schwim­men. — stop

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red

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sier­ra : 14.12 — Im Licht mei­ner hand­li­chen Fern­seh­ma­schi­ne lehn­te ein Mann am Stamm eines ver­wit­ter­ten Bau­mes. Röt­li­ches Gebir­ge war noch zu sehen, Abraum einer Kup­fer­mi­ne. Dort im süd­li­chen Afri­ka tief in der Erde hat­te der Mann, der am Baum­stamm lehn­te und in mein Zim­mer schau­te, ein hal­bes Leben lang gear­bei­tet. Vor zwei Wochen nun war Schluss gewe­sen. Von einem Tag zum ande­ren Tag, sag­te der Mann, habe ich mein Haus ver­lo­ren und mei­ne Kin­der wer­den bald nicht mehr zur Schu­le gehen. 22 Jah­re lang nie krank, obwohl ich hohes Fie­ber hat­te und Hus­ten. Im Febru­ar waren wir noch pro­fi­ta­bel gewe­sen, fuhr der Mann fort und deu­te­te mit einer Hand über sei­ne Schul­ter. Er schwieg für eini­ge Sekun­den, aber er dreh­te sich nicht um, schau­te wei­ter gera­de­aus zu mir ins Zim­mer. Das ist Fol­ter, setz­te er hin­zu, das ist Folter.

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yanuk : xin

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sier­ra

~ : yanuk le
to : louis
sub­ject : XIN
date : mar 18 09 10.52 a.m.

Seit ges­tern Abend ist es wie­der mög­lich, zu notie­ren, weil ich mei­ne Schreib­ma­schi­ne zurück­er­hal­ten habe. Mein lie­ber Lou­is, so ver­ge­hen nun die Tage wie­der schnel­ler, als die Tage zuvor noch ohne Schreib­ma­schi­ne, da ich auf mei­ner Platt­form Höhe 510 war­te­te, dass Xin, – so nen­ne ich das Mäd­chen, das mich mei­nes Schreib­ge­rä­tes beraub­te -, sie mir zurück­ge­ben wür­de, auch Blei­stif­te, Hef­te und mei­nen Foto­ap­pa­rat, die sie eines Nachts, wäh­rend ich schlief, mit sich genom­men hat­te. Es ist selt­sam, wenn man so sitzt und denkt und doch über kei­ne Werk­zeu­ge ver­fügt, auf­zu­schrei­ben, was man dach­te, wird man müde. Natür­lich habe ich in erprob­ter Wei­se, Zei­chen in den Baum­stamm hin­ter mir geritzt, aber wäh­rend ich an ihnen arbei­te­te, wuss­te ich doch in jeder Sekun­de, dass ich sie zurück­las­sen, dass ich sie viel­leicht nie wie­der­se­hen wür­de. Ja, man wird müde, wenn man denkt, ohne notie­ren zu kön­nen, als wür­de man in lau­war­mem Was­ser lie­gen, im Halb­schlaf alle die­se fei­nen, ver­geb­li­chen Stim­men im Kopf. — Ich neh­me an, Du hast Dich um mich gesorgt, weil ich kei­ne Nach­richt sen­de­te. Vor weni­gen Stun­den noch hör­te ich das Geräusch eines Flug­zeu­ges, das sehr lang­sam den Him­mel dort oben durch­kreuz­te. Natür­lich bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch nur ein Wunsch­ge­räusch hör­te. Das flie­gen leich­te Mäd­chen Xin jeden­falls schien nichts gehört zu haben. Sie ver­harrt wie­der in mei­ner Nähe, hängt an einem Arm über dem Abgrund, schläft und spricht träu­mend in ihrer merk­wür­di­gen Spra­che lei­se vor sich hin. Ich wünsch­te, ich könn­te sie ver­ste­hen. Mor­gen wer­den wir auf­bre­chen, wer­den wei­ter auf­wärts stei­gen. Nach wie vor ist nicht zu erken­nen, woher das Licht kom­men mag, das uns so ange­nehm flat­ternd bestrahlt. Cucur­ru­cu – Yanuk

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20.58 UTC
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yanuk to louis »

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MELDUNGEN : YANUK LE TO LOUIS / ENDE

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papiersegel

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romeo : 0.05 — Das Ver­gnü­gen, ein Manu­skript auf Papier zu dru­cken. Die nadeln­den, sum­men­den, pfei­fen­den Geräu­sche der Maschi­ne, Satz für Satz Sekun­den­sei­ten. Wie ich Arbeit von Tagen, von Wochen, vor mir zu einem Segel auf den Boden brei­te. Wie ich zufrie­den und still vor dem Wind­ge­fäß im Zim­mer ste­he. Wie ich, bald wie­der stür­misch gewor­den, in die Knie gehe, um wei­te­ren Flug­sand mit der Hand aufs Papier zu set­zen. — Notier­te: Ein mensch­li­ches Gehirn ruh­te in mei­nen Hän­den. Und ich dach­te, kühl ist es und weich und schwer. Ich hör­te deut­lich eine den­ken­de Stim­me, als wäre da noch ein ande­rer Beob­ach­ter gewe­sen, als ich selbst. Dann bemerk­te ich, dass ich mit blo­ßem Auge nicht erken­nen konn­te, in wel­cher Spra­che jenes Gehirn, das ich in mei­nen beben­den Hän­den hielt, ein Leben lang träum­te, auch nicht, ob es glück­lich oder doch eher unglück­lich gewe­sen ist. Eine schwei­gen­de, eine ver­las­se­ne, eine Welt ohne Licht. Ja, lili­mam­bo, das Leuch­ten leben­der Men­schen! — stop

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bild schlafen

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whis­key : 2.15 — Vor dem Fens­ter knis­tern Kas­ta­ni­en­bäu­me, viel­leicht davon sind Vio­let und Dai­sy auf­ge­wacht. Ein lei­ses Geräusch zunächst, das schnur­ren­de Geräusch einer Peda­le, dann das Klap­pern einer Schreib­ma­schi­ne im ange­nehm war­men Licht eines höl­zer­nen Zim­mers lan­ge vor mei­ner Zeit. Was für eine selt­sa­me Schreib­tisch­lam­pe! Und wie die Mäd­chen lächeln, in einer Wei­se lächeln, dass sie zu leuch­ten schei­nen. Es sieht ganz so aus, als hät­te das eine Mäd­chen dem ande­ren Mäd­chen gera­de eben noch eine Geschich­te erzählt. Zufrie­den lauscht sie ihren Wor­ten nach, wäh­rend das ande­re Mäd­chen die Geschich­te in die Maschi­ne notiert. Zwei Mäd­chen exakt glei­chen Alters, viel­leicht schon jun­ge Frau­en. In die­sem Moment, in die­ser Minu­te, da ich wie­der ein­mal notie­re oder bemer­ke oder erin­ne­re, dass Dai­sy und Vio­let Hil­ton an einer Stel­le ihres Kör­pers der­art inein­an­der ver­wach­sen sind, dass kein Luft­raum sie je von­ein­an­der tren­nen wird, wie­der der ver­trau­te Ein­druck, dass ich ihnen zu nahe kom­men könn­te, indem ich ihnen schrei­be. Und tat­säch­lich sind sie nun wach gewor­den. Wie Dai­sy ihren Kopf zur Sei­te neigt, eine kaum wahr­nehm­ba­re Bewe­gung. Wie ich müde wer­de von einer Sekun­de zur ande­ren. Wie Dai­sy noch sagt: Vio­let, schau, ist das nicht ein merk­wür­di­ger Mann? War­tet so lan­ge, war­tet und war­tet, dass wir uns bewe­gen. Und jetzt ist er eingeschlafen.

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