romeo : 0.03 — Für diesen Tag, es ist der 4. November, habe ich mir vorgenommen, kein Wort aufzuschreiben, sondern alles das, was ich mir denke, alles was zu mir hereinfällt, im Kopf aufzubewahren. Ich sollte unverzüglich eine Methode entwickeln, jeden Gedanken oder jede Erinnerung, die mir wichtig zu sein scheint, mit einer Boje zu versehen, die ich wiederfinden werde und damit den Gedanken, der an ihr befestigt ist. – Null Uhr und fünf Minuten: Ich schalte jetzt die Schreibmaschine aus. — stop
Aus der Wörtersammlung: sonde
fasankino
tango : 0.02 — Gestern, Dienstag, ist Ilse Aichinger 90 Jahre alt geworden. Ich erinnerte mich an einen Text, den ich vor einiger Zeit bereits aufgeschrieben habe. Der Text scheint noch immer nah zu sein, weshalb ich ihn an dieser Stelle wiederholen möchte. Ich betrachtete damals, als ich den Text notierte, eine Filmdokumentation. Es war ein früher Morgen und ich fuhr in einem Zug. Immer wieder spulte ich, Zeichen für Zeichen vermerkend, was ich hörte, den Film zurück, um kein Wort des gesprochenen Textes zu verlieren oder zu verdrehen. Und so kam es, dass auch Ilse Aichinger, von einem unruhigen Geleise geschüttelt, immer wieder auf dem handtellergroßen Bildschirm unter spazierenden Menschen vor mir auftauchte, indem sie von ihrer Kinoleidenschaft erzählte: Wenn ich mich recht erinnere, hörte ich in meiner frühen Kindheit eine ältere Frau zu einer anderen sagen: – Es soll jetzt Tonfilme geben. – Das war ein rätselhafter Satz. Und es war einer von den ganz wenigen rätselhaften Sätzen der Erwachsenen, die mich nicht losließen. Einige Jahre später, ich ging schon zur Schule, sagte die jüngste Schwester meiner Mutter, wenn wir an den Sonntagen zu meiner Großmutter gingen, bei der sie lebte, fast regelmäßig am späten Nachmittag: > Ich glaube, ich gehe jetzt ins Kino. < Sie war Pianistin, unterrichtete für kurze Zeit an der Musikakademie in Wien und übte lang und leidenschaftlich, aber sie unterbrach alles, um in ihr Kino zu gehen. Ihr Kino war das Fasankino. Es war fast immer das Fasankino, in das sie ging. Sie kam fröstelnd nach Hause und erklärte meistens, es hätte gezogen und man könne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasankino nicht, und sie holte sich dort nicht den Tod. Den holte sie sich, und der holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn sich im Fasankino geholt, denn sie liebte es. Aber man hat keine Wahl, was ich nicht nur bezüglich des Todes, sondern auch bezüglich der Auswahl der Filme zuweilen bedauere, wenn meine liebsten Filme plötzlich aus den Kinoprogrammen verschwinden. Obwohl ich es gerne wäre, bin ich leider keine Cineastin, sondern gehe sechs oder siebenmal in denselben Film, wenn in diesem Film Schnee fällt oder wenn die Landschaften von England oder Neuengland auftauchen oder die von Frankreich, denen ich fast ebenso zugeneigt bin. Ilse Aichinger: Mitschrift
vorwinterzeit : beobachtung in der warenwelt
india: 12.05 — Ein wesentliches Merkmal, das in der Warenwelt eine verkaufende Person von einer einkaufenden Person unterscheidet, scheint die Art und Weise zu sein, mit Stoffen, zum Beispiel, mit Winterpullovern umzugehen. Die einen, jene, die hinzugetreten sind, weil sie sich, in Ahnung des Winters, einen Pullover wünschten, entfalten und verrücken, was andere, jene, die schon da gewesen sind, weil sie hier arbeiten, geordnet, das heißt, gefaltet haben und getürmt. Weil zwischen diesen sich offensichtlich entgegenwirkenden Personengruppen ein Gefälle besteht, [die einen sind zahlreich, die anderen nicht], handelt es sich sowohl bei der Faltung, als auch bei der Sortierung der Ware nach Größe, um einen sehr ernst zu nehmenden und zeitaufwendigen Vorgang. Aus diesem Grund insbesondere scheint der Zustand der faltend sortierenden Personen ein stationärer Zustand zu sein, während jene anderen entfaltenden Personen, Unordnung sozusagen im Vorüberkommen produzieren. Dieser gerade eben erwähnte Produktionsvorgang ist nun genau genommen ein Akt der Zerstörung oder aber beschleunigter Entropie. Zerstört wird, was vorausgesetzt, was erwartet ist, Übersichtlichkeit, sagen wir, Berechenbarkeit und Konzentration. Alle roten Pullover, Kaschmirwolle, liegen südlich synthetischer Modelle von blauer Farbe auf dem Auslagetisch. Weil die einen im Vorübergehen zerstören, was die anderen mit Liebe oder pflichtgemäß errichtet haben, sind letztere weder glücklich noch zufrieden, üblicherweise vielmehr von einer vorausahnenden Morgenwut oder von einem gut verständlichen Abendzorn besetzt. — stop
sekundenzeit
india : 10.01 — Ich habe eine lustige Geschichte mit mir selbst erlebt. Ich stand in einem Garten am späten Abend und versuchte, indem ich mich konzentrierte, die Umrisse meines Körpers wahrzunehmen, nicht die Umrisse einer bestimmten, einer ausgewählten Region meines Körpers, sondern die Umrisse meines Körpers insgesamt. Plötzlich meinte ich, mich in einem Film zu befinden, einem Film, der sich sehr langsam bewegte, mit einem Bild pro Jahrhundert, sagen wir, sodass ich mich nicht erinnern konnte, überhaupt schon einmal in Bewegung gewesen zu sein. Auch der wolkenlose Himmel über mir hatte sich noch nie zuvor bewegt, und die gefrorenen Blätter der Bäume und ihre Nachtschatten. Wie ich in dieser Weise verharrte und mich in die Vorstellung der Bewegungslosigkeit vertiefte, für einen Moment der Eindruck, Minutenzeit wahrnehmen zu können. — stop
trockenzungen
delta : 6.22 — Ich träumte einmal von einem Schlafsaal, in dem einhundert arme Dichter wohnten. Sie liefen sehr langsam, sagen wir, vorsichtig herum, weil sie nicht wach waren, sondern schliefen. Eines Abends wurden sie in dem Auftrag geweckt, feine Formulierungen für einen besonderen Regen zu finden, einen Regen, der eine große Stadt unter Wasser setzen sollte. Ihre Freude, ihre Begeisterung, vielleicht endlich wieder gehört zu werden. Wie sie durcheinander spazierten. Und das Rascheln der Papiere, das Knirschen der Stifte, das Geräusch ihrer suchenden Trockenzungen. — stop
col-X77b
romeo : 20.07 — Das Besondere, gleichwohl das Tragische im Leben der Feuerkäfer ist, dass sie in Flammen aufgehen, sobald sie, entgegen einer inneren, warnenden Stimme folgend, ihre Flügel entfalten. — stop
staten island ferry : blizzard
papille : 16.28 — Eigenartig, das Verhalten der Papiere, das Verhalten meiner Hände, meiner Bleistifte. Seit ich wieder stundenweise mit einfachsten Werkzeugen notiere, mit Werkzeugen, die ohne Elektrizität funktionieren, der Verdacht, dass von eigensinniger Natur ist, was ich auf kleinere oder größere Zettel schreibe. Meine Wörter wollen sich nicht auf Linien legen, sie wollen fliegen, weshalb sie über den Zeilen aufwärts steigen. An einem anderen Tag, wieder einem Tag ohnmächtiger Horizonte, sinken sie, ohne dass ich präzise sagen könnte, warum es an dem einen Tag aufwärts und an dem anderen Tag abwärtsgehen will, immerhin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwischen da und dort zu verzeichnen gewesen. Auch mit den Buchstaben habe ich Mühe, mal bricht die Bleistiftspitze, dann wieder ist ein Zeichen gemalt, das man doch eher für ein ganz anderes halten möchte. Die Buchstaben Z und G sind besonders widerspenstige Gestalten, und das S und das A machen schon immer, was sie wollen. Dagegen sind das I und das M an jedem meiner Arbeitstage zuverlässige Erscheinungen, Welle und Giraffenhals, schlicht und weich. Ich nehme das jetzt, gerade wie es kommt, in aller Ruhe. — stop
PRÄPARIERSAAL — so haben wir angefangen
delta : 22.20 — Sobald ich mein Tonbandgerät betrachte, wenn ich beobachte, wie sich zierliche Rädchen hinter einer Scheibe bewegen, Lust, die kleine Maschine auseinanderzunehmen, alles zu betrachten und dann wieder zusammenzusetzen, auch wenn vielleicht Jahre vergehen, bis die Zusammenhänge der Maschine wieder fehlerlos hergestellt sein werden. An diesem Abend, da im Hintergrund eine weitere, eine digitale Tonbandmaschine Joshua Redman wiederholt, ist alles noch in Ordnung, unberührt, sagen wir. Tom erzählt: > Man geht also vorsichtig los, man kommt durch eine Klapptür in den Saal und sieht sofort, dass da sehr viele Menschen sind. Ich hatte zunächst ein paar Probleme damit, die Knöpfe meines Kittels in die Finger zu bekommen, weil ich einen Atlas unter den Arm geklemmt hatte und ein Paar Latexhandschuhe in der einen Hand und in der anderen meinen Werkzeugkasten, eine hölzerne Schachtel mit Pinzetten und Skalpellen. Ich habe mir gedacht, du musst jetzt nicht besonders souverän sein, mein Junge, sondern zunächst einmal deinen Tisch finden und deine Leute und dann wirst Du ganz einfach anfangen. Also bin ich gleich nach links gelaufen, weil ich wusste, dass ich in einer Abteilung arbeiten werde, die links liegt, wenn man das von der Tür aus betrachtet. Aber dann hatten wir natürlich keine Ahnung, wie wir anfangen sollten. Wir standen um einen Tisch herum und haben zunächst einmal abgewartet. Wir waren acht Leute. Weil wir uns noch nicht alle kannten, haben wir uns erst einmal vorgestellt. Vielleicht bekomm ich sie grad schnell zusammen. Da war, zum Beispiel, Mika, eine Norwegerin, und Michael, der mir am Tisch gleich gegenüber arbeitete, und Susan, die sich ein Tuch um ihren Kopf gebunden hatte, damit das Haar ihr nicht ins Gesicht fallen konnte. Und da waren Zue natürlich, eine Afrikanerin von der Elfenbeinküste, die uns nicht immer verstehen konnte, weil sie die englische und französische Sprache flüssiger sprechen konnte als die deutsche Sprache, und Ismene, eine Griechin, die uns sofort erzählt hatte, dass sie Chirurgin werden wolle. Ich erinnere mich, Ihre Augen waren stark gerötet, vielleicht weil ein scharfer Geruch in der Luft hing, irgendetwas, das die Augen reizte. Ich konnte diesen Geruch bereits auf der Straße wahrnehmen, und später, am Abend, zu Hause, hatte ich ihn an den Händen. Kurzum, wir haben dann also gewartet. Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir so gewartet haben. Das war eine seltsame Situation. Wir haben uns immer wieder angelächelt. Ich glaube, wir waren alle sehr verlegen und standen zu diesem Zeitpunkt unter einer großen Spannung. Der Tisch hatte die Nummer 4/12. Eine rote Plane war über diesen Tisch ausgebreitet und wir konnten eine Kontur erkennen, eine Erhebung. Wir wussten, dass da ein Körper lag und dass dieser Körper eher klein sein musste, zierlich, sagen wir. Ich hatte die Vorstellung, dass dort unter der Decke eine Frau liegen könnte. Und ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment überlegte, ob das Geschlecht des Körpers, den ich in den kommenden Wochen auseinander nehmen würde, eine Bedeutung für mich haben würde oder nicht. Und dann ging alles sehr schnell. Unser Coassistent kam zu uns an den Tisch und erkundigte sich, ob alles o. k. sei. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute jeden einzelnen von uns an und lachte sehr freundlich. Wir haben dann damit begonnen, das rote Tuch vom Tisch zu nehmen. So haben wir angefangen.
manhattan transfer
~ : oe som
to : louis
subject : DOS PASSOS
date : july 31 11 5.15 p.m.
Anstrengende Tage liegen hinter uns, Regen, stürmische Winde, schwerer Seegang, Pelikane kreisen hoch über dem Schiff. Vor zwei Tagen zuletzt schickten wir Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer zu Noe hin abwärts. Ein schweres Buch, das in vierhundert Fuß Tiefe von einer warmen südlichen Strömung abgetrieben wurde, bald darauf in einer Pendelbewegung derart heftig nordwärts gezogen wurde, dass wir fürchteten, Noe könnte von dem Gewicht des Romans getroffen oder das Buch von der Senkleine in unergründliche Tiefen fortgerissen werden. Drei Stunden später hielt Noe John Dos Passos in Händen. Unser Taucher bemerkte sogleich, dass es sich bei diesem weiteren Unterwasserbuch um ein besonderes Werk handeln musste, eine umfangreiche Satzversammlung, von innen her, Seite für Seite, Zeichen für Zeichen aprikosenfarben sanft beleuchtet. In derselben Minute, da Noe das Buch öffnete, begann er laut zu lesen. Er las drei Stunden, dann schlief er kurz ein, um noch im Halbschlaf befindlich seine Lektüre fortzusetzen: Die Sonne ist nach Jersey gerückt, die Sonne steht hinter Hoboken. Hüllen schnappen über Schreibmaschinen, Rollladenschreibtische schließen sich. Aufzüge fahren leer in die Höhe, kommen vollgepfropft herunter. Es ist Ebbe in der City, Flut in Flatbush, Woodlawn, Dyckman Street, Sheepshead Bay, News Lots Avenue, Canarsie. Rosa Zeitungen, grüne Zeitungen, graue Zeitungen. Sämtliche Börsenkurse. Sportresultate. Lettern wirbeln über ladenmüde, büromüde schlaffe Gesichter, wunde Fingerspitzen, schmerzende Fußriste, muskulöse Männer, Gedränge im U‑Bahn-Express. — Kurz vor Sonnenuntergang. Das Meer sucht nach uns, mit Zungen von Gischt. Ein riesiger Schwarm Makrelen nähert sich von Norden her, ungeheure Bewegung, wie eine riesige Hand fährt sie auf dem Radarschirm langsam die Küste entlang. Noe wünscht, eine Fotografie John Dos Passos’ zu sehen. So etwas hat’s noch nie gegeben. — Ahoi! Dein OE
gesendet am
31.07.2011
1962 zeichen
PRÄPARIERSAAL : libelle
echo : 6.12 — Ich habe auf einem Fernsehbildschirm Jonathan Franzen beobachtet, wie er in seinem New Yorker Arbeitszimmer sitzend von Apparaturen erzählt, die ihm behilflich sein könnten, den Lärm der Stadt oder des Hauses, in dem er sich befindet, von seinen Ohren zurückzuhalten. Er berichtet das ungefähr so: Ich habe eine Menge Lärmschutzvorrichtungen. Ich schütze mich gegen Lärm mit Schaumgummistöpseln. Sie sind wichtig. / Und darüber hinaus habe ich meine Kopfhörer. Und zudem noch rosa Rauschen auf CD. / Das ist wie weißes Rauschen, aber es ist etwas wärmer im Ton. Es beschränkt sich auf die niedrigen Frequenzen. Es klingt wie eine Raumkapsel in der Atmosphäre mit einem wundervollen Brausen, ein alles umhüllendes Brausen, das plötzlich verschwindet. stop. Weit nach Mitternacht, kühle Luft. stop. Lungere auf dem Sofa herum, höre anatomische Tonbandaufnahmen ab, Wörter, Sätze, Gedanken einer ferneren Zeit, die sofort wieder sehr nahe kommen, vielleicht deshalb, weil sie von typischen Geräuschen jenes Ortes, an dem sie aufgenommen wurden, begleitet sind. Das Rauschen der Stimmen hunderter Menschen. Pinzetten, die gegen Metall klopfen. Eine Lautsprecherdurchsage: Denken Sie bitte daran, der Präpariersaal wird vor dem Testat am kommenden Montag bereits um 7 Uhr geöffnet. Das kleine Wiedergabegerät, das neben mir auf einem Kissen ruht, bewegt sich nicht oder nur so leicht, dass meine Augen diese Bewegung nicht wahrnehmen können. Einmal denke ich an etwas anderes, als das, was zu hören gewesen war, und bemerke in dieser Weise, dass ich, in dem ich an etwas denke, das entfernt ist, meine Ohren auszuschalten vermag. Deshalb musste ich soeben das Band zurückspulen und Thomas’ feine Geschichte wiederholen, die von einer Libelle erzählt. Hört zu: Wir hatten einen Mann auf dem Tisch, einen männlichen Körper von dunkler Farbe und von außerordentlicher Größe. Ich glaube, dieser Körper war der größte Körper des Kurses. Ich war erstaunt, weil ich mit einem Präparat, das größer sein würde, als ich selbst, nicht gerechnet habe. Nein, einen Hünen hatte ich wirklich nicht erwartet. Sie müssen wissen, ich habe mir sehr bewusst keine genauen Vorstellungen von der Wirklichkeit des Anatomiesaales gemacht. Ich hatte vermutet, dass die Luft kühl sein würde, aber an dem Tag, als wir unsere Arbeit aufnahmen, war es sommerlich warm und ich schwitzte und hatte Mühe, ohne Unterbrechung daran zu denken, mir mit den feuchten Handschuhen nicht ins Gesicht zu fahren. Ich hatte erwartet, dass das Licht im Saal eher gedämpft sein würde, aber es war strahlend hell, ein Licht, das kaum einen Schatten warf. Und ich hatte einen überschaubaren Körper erwartet, einen eher kleinen Körper, den Körper eines uralten Menschen. Ich habe mit alternden Menschen immer Gestalten in Verbindung gebracht, die zerbrechlich sind, Körper, die kleiner werden, die sich zurückziehen, die man stützen muss, führen, die noch im Leben durchlässig werden für das Licht. Dort vor mir auf dem Tisch aber lag ein Mann, der geradezu strotzte vor Kraft. Er war nicht fett, sondern muskulös, und am Bauch und an der Brust, an Armen und Beinen sehr stark behaart gewesen. Ich werde diesen Anblick mein Leben lang nicht vergessen. Ich habe den Mann sehr lange Zeit betrachtet. Dieses geschwollene Gesicht war das Gesicht eines schlafenden Boxers. Seine Augen waren geschlossen, die Hände zu Fäusten geballt und seine Füße sahen ganz so aus, als hätte er sie schon vor sehr langer Zeit vergessen. Ich habe ihn mehrfach umkreist, und dann haben wir ihn gemeinsam auf dem Tisch herumgedreht. Sehr fest mussten wir zugreifen. Ich sage Ihnen, das ist nicht leicht, am ersten Tag in diesem Saal so fest zuzufassen. Man ist ja sehr vorsichtig und man ist dankbar für dieses Geschenk, das ein Mensch für uns zurückgelassen hat. Und als wir ihn dann herumgedreht hatten, konnten wir eine Libelle erkennen. Sie war links oben auf seinem Rücken eintätowiert, regio scapularis, Sie verstehen? Ein erstaunlich präzise gezeichnetes Bild, nicht sehr groß, vielleicht gerade so groß wie ein Mittelfinger des Mannes und in blauen, roten und grünen Farbtönen ausgeführt. In diesem Moment hatte ich eine Vorstellung, die in das Leben des Mannes auf dem Tisch zurückführte. Ich habe mir vorgestellt, wie er als junger Mann in einer Badeanstalt mit den Muskeln spielte, wie er seinen Insektenvogel in Bewegung setzte, um einer Frau zu gefallen vielleicht. Aber da war noch etwas anderes, da war die Frage, was wir sehen würden, sobald wir die Haut unter der Libelle so weit gelöst hätten, dass ein Blick auf ihre Rückseite möglich werden würde.