MELDUNG. Mosul, Nabi Jorjis St., 3. Etage, steinernes Zimmer : Kirsche No 2801 [ Marmor, Carrara : 3.65 Gramm ] vollendet. — stop
Aus der Wörtersammlung: tage
nazamins schwester
echo : 5.08 — Ich träumte von merkwürdigen Tieren, die sehr flach sind und weich und außerdem schön gestaltet. Wenn man eines dieser Tiere auf einem Tisch in der Wirklichkeit vor sich liegend betrachten könnte, würde man vielleicht die Ähnlichkeit zu Briefmarken erkennen, so wie wir sie als Kinder entdecken und zu sammeln beginnen. Tatsächlich handelt es sich bei jenen Tieren, welche ich träumte, um Briefmarkentiere, die leicht sind, manche tragen die Zeichnung weiterer Tiere auf ihrem Körper, Zebras oder Schmetterlinge oder Singvögel sind häufig auf ihrem Rücken zu erkennen. An einem ihrer gezahnten Ränder sitzen sehr kleine Augen fest, dort soll sich gleichwohl ein Mund befinden, der feinste Stäube aus der Luft entnimmt, Pollensamen, Bakterien, Sporen jeder Art, davon ernähren sich Briefmarkentiere vornehmlich, es sein denn, sie werden mit feinstem Puderzucker vorsätzlich gefüttert. Briefmarkentiere sollen dort zu erwerben sein, wo man auch herkömmliche Postwertzeichen bestellen kann, sie sind zunächst nicht so preiswert wie das papierene Material, dafür mehrfach verwendbar. Um einen Brief mit einem Briefmarkentier zu versehen, legt man das betreffende Schriftstück im Kuvert auf einen Tisch, setzt nun behutsam eines der Briefmarkentiere an geeignete Stelle, nämlich genau dorthin, wo normalerweise papierene Briefmarken aufzutragen sind, und schon wird man beobachten, wie sich das Briefmarkentier mit seinem neuen Zuhause verbindet, es schmiegt sich an und ist fortan vom Brief nur noch mittels Gewalt zu trennen. Wie es jetzt leuchtet, wie es seine wunderbaren Farben zeigt, wie es mit Mustern spielt und mit Bildern, die zu Filmen werden, zu Geschichten, die das Briefmarkentier irgendwo gelernt haben muss. Und wenn nun der Brief auf die Reise geht, reist das Briefmarkentier mit ihm mit, und bleibt dem Brief so lange verbunden, bis der Brief geöffnet wird. In diesem Moment der Öffnung löst sich das Briefmarkentier von seinem Brief, der nun nicht mehr sein Brief sein kann. Es ist kaum zu glauben, aber es ist wahr, ich hab’s geträumt, das Briefmarkentier segelt sogleich durch die Luft davon, es ist schnell unterwegs, schnell wie ein Zugvogel kehrt es zu seinem Absender zurück, Tage oder auch Wochen ist es unterwegs, Schwärme von Briefmarkentieren wurden bereits in großer Höhe über dem Erdboden beobachtet. Zu Hause endlich angekommen, lungern sie dann gern an den Fenstern und warten. stop. Ende meines Traumes. stop – Nazamins Schwester wurde am vergangenen Samstag in den Bergen nahe Semdinli vermutlich von türkischer Militärpolizei getötet. Nazamins Schwester wird nie wieder erwachen. – stop
im zug nach amsterdam
ulysses : 0.18 — Wie ich im Zug meine Uhr beobachtete, die vor wenigen Tagen sich bis zur Ziffer 3 hin fortbewegte, um sich dann unverzüglich, um eine Stunde zurückzudrehen, in dem sie tatsächlich ihren Minutenzeiger rückwärts über das Zifferblatt wandern ließ, wie ich also im Zug meine Uhr beobachtete, wie sie mir eine Nachtstunde schenkte, stellte ich mir vor, in dem Zug, in welchem ich mich in Richtung Amsterdam fortbewegte, würde niemand über eine Uhr verfügen, weder Passagiere noch der Schaffner, der Lokführer, die Damen und Herren des Bordbistros. Auch Computer haben keine Uhren, die Fenster des Zuges sind verdunkelt, der Zug fährt also ohne Uhrzeit dahin, hält nirgends an, ist unbestimmte Zeit lang unterwegs, ich werde müde, schlafe, wache auf, spaziere herum, nehme ein Frühstück, bin mir plötzlich nicht sicher, ob nicht vielleicht Abend ist, treffe Menschen im Zug, die sagen, sie gehen jetzt gerade in diesem Moment zur Nachtruhe in ihr Abteil, während andere gerade aufgestanden sind, um einen neuen Tag zu beginnen. Ich sitze und höre auf das Schlagen der Schwellen gegen die Räder des Zuges, mach die Augen zu, suche nach dem Geräusch meiner inneren Uhr, all dies auf einer Reise nach Amsterdam. Was ich dort vorhatte zu tun, wonach ich suchte, davon erzähle ich später. — stop
von zeitungen
india : 3.18 — Morgens liegt die Tageszeitung wie ein Wunder vor der Tür, an jedem der Tage einer Woche, nur an Sonntagen nicht. Es existieren Winterzeitungen, die von Schnee bedeckt sind, und Sommerzeitungen, welche kühler sind als die Morgenluft, außerdem Herbstzeitungen und Frühlingszeitungen. Herbstzeitungen sind von Blättern bedeckt, feucht vom Nebel der Morgenstunden, feucht wie Frühlingszeitungen, die nur feucht sind, aber nicht von Blättern bedeckt. Alle diese Zeitungen sind schwere Objekte in den Händen einer alten Frau. Es ist immerzu sehr viel geschehen seit der Zeitung des Tages zuvor, und auch jene frühere Zeitung war schwer gewesen, weil viel geschehen war in der Zeit, als die alte Frau im Garten arbeitete. Ja, das Gehen fällt nicht mehr so leicht, und auch das Lesen nicht. Es geschieht so viel, sagt die alte Frau, und sie meinte vielleicht, dass zu viel geschieht, dass die Zeitung zu schwer geworden ist, für ihre alten Hände. Und sie sagt, dass sie nicht alles, was in der Zeitung geschrieben steht, lesen könne, sie sagt das so, als ob sie meinte, es sei zu viel in der Zeitung geschrieben, das sie nicht lesen würde, sie sei der Zeitung nicht länger würdig, weswegen wir nun hoffen und darüber nachdenken, was vielleicht zu tun ist in dieser Zeit, das die papierenen Zeitungen zu schwer geworden sind. — stop
lichtzeituhr
echo : 3.18 — Liesl, die vor wenigen Tagen 85 Jahre alt wurde, erzählte von einer Zeitschaltuhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzubringen wünschte. Er habe, hatte ihr Sohn berichtet, nachts immer wieder einmal wahrgenommen, dass Liesl einschlafen würde, ohne ihre Nachttischlampe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Lichtscheins, den er vom Schlafzimmer der Mutter her kommen sah, aufgestanden und habe sich vorsichtig an ihr Bett begeben und das Licht gelöscht. Einmal habe er überlegt, ob er nicht das Gesicht seiner schlafenden Mutter, wie zum Beweis fotografieren sollte, ein so helles Gesicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, das Gesicht einer tatsächlich Schlafenden zu betrachten. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie keine Zeitschaltuhr neben sich wünsche, sie sei doch kein Aquarium, habe sie gesagt, lieber schlafe sie im strahlenden Licht der Nachtlampe ein, plötzliche Dunkelheit, um Himmelswillen, nein. Ihr Sohn reiste wieder ab. Liesl erzählte, dass sie mit ihm nie wieder über Zeitschaltuhren gesprochen habe, unlängst aber, in einer Septembernacht, sei dann plötzlich das Licht ausgegangen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vorsichtig aus dem Bett gestiegen, sei auf Knien durch das stockdunkle Zimmer gekrochen zu einem Lichtschalter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewesen, Donnerwetter! — stop
oqaatsut
himalaya : 2.03 — Gestern erreichte mich eine Nachricht Opalkas. Er meldete sich aus einem grönländischen Städtchen, welches an der Westküste der Insel liegt. Er notierte: Lieber Louis, bei dichtem Schneetreiben mit Propellerflugzeug in Oqaatsut eingetroffen. Fischer Roon, der mich vom Flugplatz abholte, erzählte, es sei glücklicherweise nicht wirklich Winter geworden, — 7 °C, heftige Winde vom Meer, viel Schnee, haushohe Wehen, fast dunkel. Gegen Abend zu, im Schein der Lampen einer Schneeraupe, besuchten wir einen Strand. Unter der dichten Haut von feinem Schnee waren noch Spuren eines gestrandeten Wals zu erkennen, Rudimente seines Schädelknochens, Teile der Wirbelsäule. Das Eis weit draußen, das sich heftig bewegte, donnerte zu uns herüber, es ist wunderbar, der Boden zitterte und mein Atem pulsierte unter dem Eindruck zarter Luftdruckwellen. Ich werde Dir in den kommenden Tagen eine Tonaufnahme der Eismeergeräusche anfertigen, auch Du wirst vermutlich begeistert sein. Lidvien, die im Magen des Wals jenen Rechner entdeckte, den ich für Dich untersuchen werde, wird bald eintreffen. Sie soll das Gerät bereits geöffnet und eine Indizierung der Dateien vorbereitet haben. Bald Nacht, lieber Louis, wünsch Dir eine gute Zeit, freu mich, dass J. bald wieder aufwachen wird. Dein Opalka. — stop
vom zählen
romeo : 22.01 — Ein älterer Herrn bewegte sich schwankend durch einen Zug, er zählte Menschen. Eine Frau kam ihm entgegen, auch sie zählte Menschen. Beide notierten die Zahlenfrüchte ihrer Arbeit je in eine eigene Liste. Diese Begegnung zweier Zählender im Zug wiederholte sich mehrfach. Wenn sich der zählende Mann und die zählende Frau auf dem Gang des Zuges trafen von Zeit zu Zeit, gaben sie vor, sich nicht zu kennen. Zunächst hatte ich erwartet, sie würden sich ihre Zahlen gegenseitig erzählen, vielleicht um eine Summe zu bilden, aber nein, sie sprachen nicht, würdigten sich keines Blickes. Vermutlich werden Summen etwas später gebildet, vielleicht sobald Abend geworden ist, wenn sich die gezählten Menschen der Tageszüge verlaufen haben und sich Zahlen gefahrlos addieren. — stop
bahnsteig 24
ginkgo : 2.32 — Zentralbahnhof kurz nach 3 Uhr in der Nacht. Vier Stunden in der Zeit zurück sind zuletzt flüchtende Menschen mit einem Intercity-Zug auf Bahnsteig 7 angekommen. Einige junge Männer sitzen nun im Kreis in der Nähe der Aufnahmezone auf dem Boden. Zwei Familien mit Kindern ruhen nicht weit entfernt auf Matten, unter goldenen Isolierdecken geborgen, die schimmern, indem sich die Menschen bewegen. Sie sind erschöpft, schlafen, ein Junge aber ist noch wach. Er liegt auf dem Rücken, Hände und Arme auf die knisternde Decke abgelegt, ganz still und schaut zum Dach der Halle hinauf. Vielleicht beobachtet er Vögel, die zu dieser Stunde noch immer hin und her springen von Strebe zu Strebe, als wäre nicht Nacht, sondern Tag. Unweit hocken Frauen und Männer der städtischen Berufsfeuerwehr auf Bänken. Sie haben die Flüchtenden, an diesem Abend sind es nicht so viele Menschen gewesen wie an den Abenden zuvor, empfangen. In einem Moment, da die Flüchtenden ihre Namen in die Ohren der Übersetzer sprachen, wurden sie zu Angekommenen, viele zu Überlebenden. Ich höre, eine der Familien, die über Geldmittel in Dollar verfügen soll, habe ihre Flucht von der Stadt Homs bis hierher nach Mitteleuropa in nur fünf Tagen geschafft. Sie sind jetzt in meiner Gegenwart, wirklich geworden. Menschen, die ich möglicherweise auf einem Fernsehbildschirm beobachtet hatte, wie sie durch zerstörte, höllische Straßen rennen, staubig, voller Schrecken, wie flüchtende Menschen in den Straßen Lower Manhattans kurz nach Einsturz der Twin Towers. Wenn nur für einen Moment in dieser nächtlichen Stille eines Bahnhofes hörbar oder sichtbar werden würde, welcher Art die Geräusche und Bilder sind, die sie vermutlich in ihrer Erinnerung tragen. — stop
nahe centralbahnhof
von eichhörnchen
tango : 8.12 — Vor wenigen Tagen hörte ich am Telefon, ein Freund sei wegen eines Postings auf Position Facebook bedroht worden, das war eine Drohung gegen Leib und Leben. Er hatte sich einem Pegida-Fan gegenüber kritisch geäußert, darauffolgende öffentliche Unterhaltungen eskalierten. Mein Freund bemühte sich zunächst, Spuren im Internet, die zu seinem Wohnort führen könnten, zu löschen, eine schwierige Arbeit, sehr viele Spuren waren zu notieren und jede einzelne für sich bedeutete bittende oder fordernde Kommunikation über Eingabemasken mit entsprechenden Webseiten oder Institutionen. Seit zwei Wochen trainiert er Möglichkeiten, sich eines körperlichen Angriffes zu erwehren, nach Einbruch der Dunkelheit verlässt er das Haus durch einen Hintereingang, die Straße vor dem Haus wird von ihm beobachtet, weshalb er zum ersten Mal entdeckte, dass in den Bäumen jenseits der Straße zwei Eichhörnchen wohnen. Heute ist Donnerstag. — stop