Aus der Wörtersammlung: vermutlich

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stille zählen

in louisiana

tan­go : 22.58 UTC — Beob­ach­tung einer Opfer­zahl, Lebe­we­sen der Zeit­ge­schich­te, wel­ches für die Stadt Mariu­pol aus­ge­wie­sen wird. Berich­te geflüch­te­ter Men­schen, Anga­ben der Täter, Unter­su­chung von Luft­bild­auf­nah­men, Zäh­lun­gen inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen, Anga­ben der Lei­chen­ar­bei­ter, die unter Lebens­ge­fahr aus dem besetz­ten Ter­ri­to­ri­um berich­ten. Zunächst 3 Tau­send, dann 8 Tau­send, dann 10 Tau­send, dann 20 Tau­send, dann 100 Tau­send ver­lo­re­ne Men­schen. Die Zahl steigt über Mona­te und Jah­re, auch ver­mut­lich des­halb, weil vie­le ver­miss­te Men­schen sich noch immer nicht gemel­det haben. Das Schwei­gen, das ist denk­bar, wird gezählt. Die Stil­le. — stop

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silence

silence

bamako : 10.22 UTC — Mut­ter sag­te im Novem­ber des Jah­res 2016, nach­dem Donald J. T. zum Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten gewählt wor­den war: Das ist doch ver­rückt! Ich hör­te heut Nach­mit­tag ihre Stim­me. Mei­ne Gedan­ken­stim­me ant­wor­te­te: ja Mut­ter, voll­kom­men ver­rückt und gefähr­lich. Es ist selt­sam, ich kann mich auch an die Stim­me mei­nes Vaters wie­der erin­nern. Er ist noch vor Novem­ber 2016 gestor­ben. Ver­mut­lich wür­de er prä­zi­se wie­der­holt haben, was Mut­ter sag­te am Tele­fon an einem frü­hen Mor­gen. John Cage notier­te in sei­nem wun­der­ba­ren Buch Silence: Gib einem Gedan­ken einen Stoß, er fällt leicht um. — stop

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vor dem bildschirm

bildschirm

romeo : 10.22 UTC — Eine lie­bens­wer­te Erfin­dung scheint mir fol­gen­de in Kurz­form dar­ge­stell­te Tau­cher­platt­form für Hams­ter zu sein: Gewicht: Ver­mut­lich 30 Gramm. Mate­ri­al: Kunst­stoff. Far­be: tür­kis, ober zitro­nen­gelb. Befes­ti­gung: Gum­mi­napf­hal­te­rung. Sitz­flä­che: Luft gefe­dert. Wie­der­auf­stieg über Lei­ter: Zwölf Spros­sen. Anwen­dung am inne­ren Ran­de jed­we­des Aqua­ri­ums. Zur ers­ten Übung mit Hams­ter ist zu tun. Ers­tens: Man tem­pe­rie­re das Bade­was­ser auf min­des­tens 28 °Cel­si­us. Zwei­tens: Man set­ze das Hams­ter­tier auf vor­ge­se­he­ne Sitz­flä­che. Drit­tens: Man beob­ach­te, wie das Tier lang­sam in den Flu­ten des Aqua­ri­ums ver­sinkt. Bald, nach zwei oder drei Sekun­de, wird man sehen, dass Hams­ter­tie­re begeis­tert sind. Kaum noch wol­len sie das Aqua­ri­um ver­las­sen. — Heu­te wie­der mei­nen Fern­seh­ap­pa­rat betrach­tet. Es war Nacht, der Bild­schirm dun­kel. Ich dach­te noch, was in die­ser Dun­kel­heit, Kanal 128 Über­see, wie­der Ver­rück­tes im Augen­blick der Betrach­tung der Dun­kel­heit gespielt wer­den wird. All die­ses War­ten, dass man kaum noch zu den­ken wünscht. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Vater versuchte
bereits im Jahr 1971
Ame­ri­ka und sei­ne Menschen
zu ver­ste­hen. Er näher­te sich
zunächst mit einem
Fotoapperat.
New York
Soho

 

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vom fenster meines hauses aus

fenster

alpha : 15.01 UTC ‑Ein Paket­bo­te wur­de ange­kün­digt. Er und sein Fahr­zeug waren kurz nach elf Uhr auf einer digi­ta­len Kar­te mei­ner Schreib­ma­schi­ne sicht­bar gewor­den, die eine Gegend anzeig­te, die mir bekannt ist, weil ich dort woh­ne. Das Sym­bol eines Auto­mo­bils saß eini­ge Stra­ßen­zü­ge ent­fernt auf der Kar­te fest. Noch sie­ben Stopps, ehe das Auto­mo­bil vor mei­nem Haus erwar­tet wur­de. Ich stand am Fens­ter, 5. Stock, hat­te das Fens­ter geöff­net, schö­ner Blick in die Bäu­me, Flie­gen tanz­ten im Licht der Son­ne, die Luft war schwer und feucht, eine hal­be Stun­de lang beob­ach­te­te ich ein­mal die Stra­ße, dann wie­der das Ver­hal­ten des Sym­bols auf dem Bild­schirm. Das Auto­mo­bil schien sich zunächst zu ent­fer­nen, dann kam es wie­der näher, ein letz­ter Stopp vor einem Haus auf der Stra­ßen­sei­te gegen­über. Tat­säch­lich war soeben ein Auto­mo­bil dort in gel­ber Far­be ein­ge­trof­fen, hat­te unter einer Kas­ta­nie Platz genom­men. Im Schat­ten des Baums, es war kurz vor 1 Uhr, öff­ne­te ein jun­ger Mann die hin­te­re Tür sei­nes Fahr­zeu­ges, hob eine Sack­kar­re her­aus, dann drei grö­ße­re Paket­stü­cke, die er über­ein­an­der türm­te, um bald mit Sack­kar­re und Turm in einem Tor zum Hof zu ver­schwin­den.  Kaum wie­der zurück, stell­te der jun­ge Mann sei­ne Sack­kar­re zurück in das Fahr­zeug, setz­te sich in die Fah­rer­ka­bi­ne  und schloss die Tür.  Ein Fens­ter wur­de geöff­net, Rauch­wölk­chen stie­gen von dort her in die Luft, sie waren weiß und brei­te­ten sich sehr lang­sam in allen Rich­tun­gen aus. Der jun­ge Mann, der ver­mut­lich höchst­per­sön­lich rauch­te, muss­te in die­sem Moment sei­nen Sta­tus gemel­det haben. Viel­leicht waren es die Pake­te selbst gewe­sen, deren neu­er Besit­zer ihre Ankunft quit­tier­te. Mein Bild­schirm mel­de­te 0 Stopps bis zur Ankunft. Was für ein wun­der­ba­rer Mit­tag. Stra­ßen­bah­nen quietsch­ten in den Kur­ven, die Schu­le war aus, Schul­ran­zen wipp­ten auf klei­nen Rücken, so groß, als wür­den Sys­te­me jun­ger Astro­nau­ten zur Lebens­er­hal­tung in sich tra­gen. Ein Herr in einem Anzug ver­speis­te auf und ab gehend ein Sand­wich, das dampf­te. Zwei Eich­hörn­chen hetz­ten über die Stra­ße von Ost nach West. Das war kurz vor 2 Uhr gewe­sen. — stop

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von maschineller übersetzung

maschinellem übersetzung

nord­pol : 16.22 UTC — In der Umge­bung des rus­si­schen Über­falls auf die Ukrai­ne, selt­sa­me Wör­ter des Krie­ges: Was­ser­te­le­fon (ver­mut­lich Rohr­lei­tung) . Hagel­kör­ner (Gra­na­ten) . Ziga­ret­ten­feld (Bedeu­tung noch unbe­kannt) . Stra­ßen­dampf­schiff (Pan­zer) . Milch­zäh­ne (Pan­zer­sper­re) . Muscheln (Bom­ben) . Dreh­ar­bei­ten (Beschuss) . Tier­heim (Schutz­raum) . Glü­hen­de Todes­zei­ten (Schrapnel­le) . Einer ara­bisch den­ken­den Maschi­ne ent­neh­me ich das Wort Rake­ten­bir­ne für eine eben­falls noch unbe­kann­te ara­bi­sche Wort­be­deu­tung vor maschi­nel­ler Über­set­zung. — stop

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sirenen

9

sier­ra : 19.12 UTC — Am Nach­mit­tag beob­ach­te­te ich, wie mei­ne Schreib­ma­schi­ne eine Spei­che­rung ihres Gedächt­nis­ses voll­zieht, ein lei­ses Knis­tern ist zu hören aus dem Käst­chen, in das notiert wird, was ich spä­ter zur Ver­fü­gung haben wer­de, wenn ich zu wis­sen wün­sche, wie es heu­te gewe­sen ist, um kurz nach 15 Uhr an die­sem 8. Sep­tem­ber 2024. Es ist noch warm und feucht. In der Nacht wur­de Kyjiw von Droh­nen atta­ckiert, Char­kiw und Odes­sa. Müde Men­schen notie­ren auf der Posi­ti­on Face­book von Schlaf­lo­sig­keit. Auch schlaf­lo­se, müde Men­schen in Gaza, in Hai­fa. Gegen 18 Uhr erneu­te Beob­ach­tung mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Das Pro­gramm Time Maschi­ne mel­det 181 Tsd. Ände­run­gen des Sys­tems seit letz­ter Aus­füh­rung zwei Stun­den zuvor. Wie­der lei­ses Knis­tern und Schnur­ren in nächs­ter Nähe, zar­te Töne. Selt­sa­me Sache. — stop

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von den papierwörtern

9

nord­pol : 2.24 UTC — Um kurz nach zwei Uhr nachts, ich las gera­de zur Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol durch rus­si­sche Streit­kräf­te im März 2022, Besuch eines Sil­ber­fisch­chens. Bei schwa­chem Licht husch­te das selt­sam wun­der­ba­re Wesen über mei­nen Küchen­tisch. Unter einer Hand­lu­pe fei­ne, unheim­li­che Struk­tu­ren. Anten­nen such­ten in der Luft her­um. Ich war ver­mut­lich ein Schat­ten in sei­nen Augen. Was viel­leicht haben sei­ne Anten­nen von mei­ner Per­son wahr­ge­nom­men? Mor­gens dann bei­na­he sicher, dass das Sil­ber­fisch­chen ver­mut­lich ein Papier­fi­schen gewe­sen war, eines dem­zu­fol­ge, das sich gern von Papie­ren ernährt, dem­zu­fol­ge gleich­wohl Papier­wör­ter ver­zehrt, ver­letz­li­che Wesen. In die­ser Hin­sicht, in der Nähe einer Popu­la­ti­on der Papier­fisch­chen, sind Papier­wör­ter von digi­ta­len oder elek­tri­schen Wör­tern gut zu unter­schei­den. — stop

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von farben

9

marim­ba : 23.18 UTC — S. ist schwarz und ich bin weiß. Selt­sa­me For­mu­lie­rung. Stem­pel­satz, dem zahl­rei­che wei­te­re selt­sa­me Stem­pel­ge­dan­ken fol­gen, Gedan­ken, die eben nicht hör­bar, aber sehr wir­kungs­voll sind. Ich stell­te ihr vor­sich­tig eine Fra­ge, die sie mir selbst ver­mut­lich nie stel­len wür­de. Ich fra­ge, wie sie Ras­sis­mus in ihrem All­tag erle­be. Sie kön­ne hun­der­te Geschich­ten erzäh­len, vom Über­se­hen wer­den, von Men­schen, die ihr in selt­sa­mer Spra­che ant­wor­ten wür­den, als sei sie ein Baby, vom offe­nen Stau­nen, dass sie einen deut­schen Pass besit­zen wür­de, der Pass wird mehr­fach kon­trol­liert, ein­mal flog sie wie­der zurück über den Atlan­ti­schen Oze­an, weil man ihr die Ein­rei­se grund­los ver­wei­ger­te. Ein jun­ger Mann bemerk­te im Zug, dass sie Tru­man Capo­te lese. Sie sei intel­li­gent, setz­te er hin­zu. Im Blick man­cher Men­schen, wenn sie sie betrach­te­ten, wür­de etwas fla­ckern, sehr selt­sam, sag­te sie, spoo­ky. — stop

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delay line

9

zou­lou : 23.02 UTC — Ein hei­ßer Tag vor 12 Jah­ren. Tat­säch­lich Som­mer. Vater, der im Roll­stuhl im Gar­ten sitzt, bit­tet mich, ein Glas Milch zu holen. Ich ste­he vor dem Kühl­schrank. Die Tür des Kühl­schranks ist offen. — In der ver­gan­ge­nen Nacht im Halb­schlaf immer wie­der der Gedan­ke, dass ich ver­ges­sen hat­te, Vater das Glas Milch in den Gar­ten zu tra­gen. Ich such­te im Traum nach dem Kühl­schrank. Ich hol­te ein Glas Milch und trat in den Gar­ten. Ich dach­te noch: Es ist Nacht, Vater ist längst nicht mehr unter uns. Ich stell­te das Glas auf einen Tisch und leg­te mich wie­der ins Bett zurück — Im Jahr 1978 besuch­te ich Vater an sei­nem Arbeits­platz im Kern­for­schungs­zen­trum CERN. In der Box der Wis­sen­schaft­ler war es heiß und schwül. Ven­ti­la­to­ren rausch­ten. Vater war jung gewe­sen. Der Pull­over, noch bekannt im Som­mer vor 12 Jah­ren, ver­mut­lich auch die Hose, die er auf einer Foto­gra­fie fest­ge­hal­ten war, wel­che ich ges­tern ent­deck­te. Vater und sein Team ver­leg­ten Lei­tun­gen, Kilo­me­ter um Kilo­me­ter über Spu­len, um Signa­le in der Zeit zu ver­zö­gern. Elek­tri­sche Signa­le sind laut­lo­se Wesen. — Som­mer. Die Näch­te warm. — stop


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

CERN
im Som­mer einer
Nachtschicht

 

 

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louis

9

echo : 20.02 UTC — Seit eini­gen Tagen wohnt eine Flie­ge in mei­nen Zim­mern, mit mir unter dem Dach. Ich kann nicht mit Bestimmt­heit sagen, dass jene Flie­ge, die ich zuletzt beob­ach­tet habe, als ich kurz vor dem Schlaf noch ein­mal in die Küche trat, die­sel­be Flie­ge war, die mich mor­gens schon im Flur mit einem Flug­ma­nö­ver begrüß­te. Da ich mei­ne Fens­ter wäh­rend der Nacht geöff­net hat­te, könn­te die Abend­flie­ge mei­ne Woh­nung ver­las­sen haben, indes­sen die Mor­gen­flie­ge irgend­wann in der Nacht her­ein­ge­kom­men war, um zu blei­ben. Ich stel­le fest: Ich ver­mag, nach Beob­ach­tung ihrer Gestalt, eine Flie­ge von einer ande­ren Flie­ge nicht zu unter­schei­den; sie sind groß oder klein und schil­lern und haben eine Flü­gel­stim­me, die mir je ver­traut zu sein scheint. Nun ist jedoch Fol­gen­des zu erzäh­len. Die­se, eine Flie­ge, die ver­mut­lich bereits seit Tagen bei mir wohnt, ver­hält sich, wie noch nie eine Flie­ge zuvor in mei­ner Woh­nung sich ver­hal­ten hat­te. Sie folgt mir näm­lich Tag­ein, tag­aus. Sobald ich mich von einem Stuhl erhe­be, beglei­tet mich die Flie­ge in den Flur und wei­ter in mein Arbeits­zim­mer und wie­der zurück. Sie fliegt, weil sie mir im Gehen auf dem Fuß­bo­den, an einer Wand oder einer Decke, nicht fol­gen könn­te, an mei­ner Sei­te, und zwar in der Höhe mei­nes Kop­fes. Ich habe die­se Beob­ach­tung mehr­fach über­prüft, indem ich mei­ne Auf­merk­sam­keit auf die­se eine Flie­ge lenk­te, bevor ich eine Wan­de­rung durch die Woh­nung begann. Die Flie­ge scheint auf mich zu war­ten, dass ich etwas unter­neh­men möge. Ich habe ihr einen Namen gege­ben: Die Flie­ge heißt Lou­is. Lou­is wünscht, so mein Ein­druck, für den Rest sei­nes Lebens bei mir zu blei­ben. — stop



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