nordpol : 7.05 — Gestern Abend folgte ich mittels der Google-Earthmaschine einer besonderen Route durch das südliche Manhattan. Ich kannte diese Strecke, war dort im Spätsommer des vergangenen Jahres auf eigenen Füßen spaziert, war Malcolm Lowry auf der Spur gewesen, seinen enger und enger werdenden Kreisen, die den Schriftsteller ein halbes Jahrhundert zuvor in das Bellevue Hospital führten, wo er sich, in höchster Not befindlich, vom Schmerzmantel des Alkohols zu befreien suchte. Immer wieder hatte ich damals jene Gegend nahe des East River aufgesucht, sodass ich eine beinahe vertraute Umgebung in digitaler Weise berührte. Gegen Mitternacht dann, ich hatte die Third Avenue gekreuzt, bog ich nach Norden ab, erreichte 30 Minuten später die 70th Straße. Da war an einer Ecke ein kleiner Laden, an den ich mich erinnerte. Versuchte ihm näherzukommen, zoomte heran, aber dann überquerte ich im Sprung die Straße mittels einer zarten Bewegung der Mouse, bewegte mich im Kreis und bemerkte in diesem Augenblick, dass eine Frau mit Hund, die gerade noch die Straße in nächster Nähe überquert hatte, verschwunden war, indem ich die Kreuzung von Osten her betrachtete. Auch war die Straße dunkler geworden, als wäre kurz zuvor Regen gefallen oder die Dämmerung des Abends eingetroffen. Um ein paar weitere Meter gedreht, war die Frau dann wieder da gewesen und ihr Hund, den Schwanz erhoben, und die Straße trocken. Eine Kreuzung, so mein Eindruck, gefalteter Zeit. Ich muss das beobachten. — stop
Aus der Wörtersammlung: alt
kalkutta
echo : 17.05 — Im Traum in Kalkutta gewesen. Spazierte unter einem Regenschirm bis zu den Hüften hin in schillerndem Wasser. Büchsen und Tüten und Schuhe dümpelten um mich herum, darunter strahlende, lachende Gesichter von Kindern, die badeten, in dem sie mit hellen Stimmen zu mir sprachen. Bald zogen sie mich mit sich fort durch enge Straßen, die hölzerne Häuser säumten. In die Wand eines dieser Häuser war ein Computerbildschirm eingelassen, darunter eine Tastatur mit Tasten je so groß wie eine ausgewachsene menschliche Hand. Die Kinder erzählten, jene gefangene Maschine sei ihre Maschine. Sie hüpften vor der Wand hin und her, in dem sie einen Text notierten, den ich nicht lesen konnte. Auch deshalb nicht lesen konnte, weil ich meine Arme und Beine beobachtete, die je in eine andere Himmelsrichtung fortgetragen wurden. Eine Selbstauflösung, die sich in Minutenfrist vollzog, als sei der Text der Kinder eine Beschwörung gewesen, die meine anatomische Gestalt sorgfältig in kleinere Teile zerlegte. Eines der Kinder nahm meinen Kopf mit sich nach Hause. Behutsam wurde ich getragen und voller Stolz herumgezeigt. Eine gespenstische Geschichte vielleicht, die sich ereignete am Montag bereits gegen 3 Uhr am Nachmittag. — stop
herr auf bahnsteig
echo : 6.28 — Ein älterer Herr abends spät auf dem Bahnsteig einer Metrostation. Der Mann ist offensichtlich glücklich. Gerade noch, vor wenigen Minuten, passierte er mit einem Koffer in der linken Hand eine Bildschirmwand, las im langsamen Gehen einen Text, der eine halbe Minute zuvor dort erschien. Dieser Text, eine Meldung, berichtet von Forschungsergebnissen eines nordamerikanischen Institutes, man habe nämlich herausgefunden, dass die Intensität der Gefühle mit dem wachsenden Alter eines Menschen steigen würde, man könne sich mit 60 Jahren am besten in eine andere Person hineinversetzen, gleichwohl schwierigen Zeiten etwas Gutes abgewinnen. Wie er diesen Text nun liest, wird der alte Mann langsamer, hält schließlich an, wendet sich dem Licht des Bildschirmes zu, setzt den Koffer neben sich auf den Boden ab. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, ein Schatten, eine Silhouette, die sich auch dann nicht bewegt, als die Nachricht, die von der Natur, vom elektrischen Wesen des alten Mannes persönlich erzählt, verschwindet und stattdessen ein Wetterbericht (Eis und Schnee), eine Reiseempfehlung (Ägypten), sowie aktuelle Devisenkurse (Dollar steigend) erscheinen. Der alte Mann wartet, er wartet zwei oder drei Minuten, bis der Text, den er studierte, wiederkehrt. Weitere Minuten vergehen, dann nimmt der alte Mann seinen Koffer vom Boden, dreht sich auf dem Absatz herum, sieht mich an, er lächelt und geht weiter. Eine Frau nähert sich in diesem Moment, da ich notiere, dem Luftraum vor dem Bildschirm. Sie trägt einen länglichen Pappkarton, in dem sich, einer Zeichnung folgend, ein Weihnachtsbaum (Tanne) befinden soll. Aber das ist schon eine ganz andere Geschichte. Guten Morgen! — stop
lufteisschrift
romeo : 2.18 — Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Guten Morgen. Heute ist Mittwoch. — stop
hydra
nordpol : 17.58 — Hörte im Radio vor wenigen Minuten eine merkwürdige Geschichte. Man erzählte, durch New Jersey sollen seit Wochen Vorortzüge mit Abteilen von Stille in Richtung Manhattan fahren: Telefone und Spieldosen jeder Art verboten. Das könnte Gerücht, Erfindung, von Wünschen geträumt gewesen sein. Mit eigenen Augen dagegen habe ich beobachtet, wie im Supermarkt gleich um die Ecke, Zwergkakteen Mützen von rotem Stoff aufgesetzt worden sind. Bärte rauschen, weiße Bärte, mittels Nadeln sind sie an den Leib der Pflanzen genagelt. Auch dass es regnet, hier in meiner nächsten Nähe, das ist ganz sicher der Fall, so sicher der Fall wie das Wachstum einer weiteren elektrischen Hydra im Prozess der Selbstbehauptung. Gestern Abend, mitteleuropäische Zeit, verfügte sie über 208, kurz nach Mitternacht über 355 und weitere 12 Stunden später über 507 einander gleichende Köpfe. — Da war noch dieser alte Mann auf einem Basar zu Marrakesch. Wie er vor einer 40 Jahre alten Schreibmaschine sitzt und Liebesbriefe notiert gegen eine kleine Gebühr für Menschen, die nie gelernt haben, zu schreiben, zu lesen. — stop
verschwinden
tango : 18.57 — Was hätte ich zu unternehmen, wenn ich wüsste, dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen mit dem Gedanken spielte, mich so rasch wie möglich ums Leben zu bringen. Wie viele Spuren meines Aufenthaltsortes sind in dieser Textlinie zu finden, sodass man die Positionen, die ich bewohne, identifizieren könnte. Weiß man von meinen Freunden? Welche Verzeichnisse im Internet müsste ich von Hinweisen befreien, wen inständig bitten, kein Wort über mich zu verlieren? Wie also unsichtbar werden, nach und nach einer sein, der nie existierte? Ich könnte mich bewegen, reisen, bis ich ein armer Hund geworden bin. Könnte dann innehalten, könnte vorgeben, als habe ich geträumt, meine perforierte Seele, oder selbst noch zum Jäger werden. — stop
time
foxtrott : 0.28 — Merkwürdig, die Wahrnehmung der Zeit. Wenn ich keine Zeit habe, kann ich die vergehende Zeit nicht bemerken, weil ich mich so schnell bewegen muss von einem Ort zum anderen, von Gespräch zu Gespräch, von Aufgabe zu Aufgabe, dass ich etwas später vielleicht meinen möchte, ich hätte nicht existiert. Auch dann, wenn ich trauere, habe ich keine Zeit, sagen wir, keine wirkliche Zeit, weil ich aus meinem üblichen Leben heraus gefallen bin. Ich stehe zum Beispiel in einer U‑Bahn und unterhalte mich, ich lache, ich stelle Fragen, und doch bin ich an einem ganz anderen Ort, spreche mit der Vergangenheit, vielleicht mit einem Menschen, von dem ich weiß, dass ich ihn nie wieder berühren werde, von dem ich hoffe, dass er noch irgendetwas zu hören vermag, indem ich mich zu ihm sprechend an ihn erinnere. Ich verweile also in dieser seltsamen Zeit der Vergangenheit, einer suchenden Zeit, die deshalb zeitlos ist, weil sie sich wiederholen will, weil sie keinen Fortgang kennt. Manchmal sitze ich in einem Café, einer Bibliothek, im Zug, im Kino oder einem Theater herum, ich schau auf die Uhr. Ich sage: Beweg Dich! — stop
virtuelle befragung
tango : 6.35 — Vor einem Jahr zuletzt die Frage: Wie mutig wäre ich im Widerstand gegen den geheimdienstlichen Zugriff einer Diktatur auf meine Person? Wie genau würde ich mich verhalten, wenn man versuchte, mich für Spionagearbeit unter Freunden zu gewinnen? Bin in der Suche nach einer Antwort noch keinen Schritt vorangekommen. Stattdessen weitere Fragen. Welcher Art könnten die Werkzeuge sein, Druck auf mich auszuüben? Würde mir Tortur angekündigt oder nahestehende Menschen mit dem Tod bedroht? Existieren Orte meiner Persönlichkeit, die sich als so schwach erweisen, dass man dort Zugang finden könnte? Habe ich einen geheimen Preis? Meine Schreibmaschine? Meinen Reisepass? Ist es sinnvoll, diese Fragen in einem virtuellen Raum zu stellen? — stop
lichtschirm
echo : 7.10 — Aufbewahren für alle Zeit. Ich hatte diesen Satz vor langer Zeit in russischer Sprache auf dem Umschlag der Autobiografie Lew Kopelews entdeckt. Ein Stempel, rote Farbe. Erzählung vom Verschwinden der Menschen im Gulaglagersystem Sibiriens. In den vergangenen Tagen war mir dieser Satz immer wieder in den Sinn gekommen. Und San Suu Kyi. Ihr zartes, ihr kaum gealtertes Gesicht auf dem Bildschirm, wie sle nach sieben Jahren zum ersten Mal unmittelbar zu Menschen spricht. Die Methode der Inhaftierung im eigenen Haus, hinter dem Lichtschirm, hinter dem Sprechschirm, eine Versuchung des Erinnerungsvermögens. — stop
moskitoeintagsfliegen
ulysses : 5.24 — Bald einmal menschliche Wesen von 20000 Jahren Lebenserwartung gestalten, Hüter der Plutoniumwerke, memorierende Beobachter, flüsternde Sprecher durch Räume der Zeit, die bisher nicht vorstellbar sind, weil wir sie weder fühlen noch träumen, weil unsere Herzen durch die Atomzeit rasend schlagen wie die Herzen der Moskitoeintagsfliegen. — stop