romeo : 0.25 — Stand in einer Schlange wartender Menschen, machte Rechenübungen im Kopf. Nach fünf oder zehn Minuten konzentrierter Arbeit war ich dann soweit gekommen, einzusehen, dass jene Zahlengrößen, die ich jonglierte, mein Denkvermögen deutlich überforderten. Rechnete bald in meinem Notizbuch notierend mit Bleistiftzahlen weiter voran: Erstens / Ein Papiertierchen, sobald es seine Arme streckt, misst 0,087 mm von Ost nach West. Zweitens / 2413 Papiertierchen säumen den Rand eines beschreibbaren lebenden Papiers an seiner schmalen Seite, 3218 Papiertierchen des selben Papiers an seiner längeren Seite. Drittens / 7765034 Papiertierchen sind Teile einer Struktur, der ich einen Namen zu geben habe. — Wunderbare, frühe Nacht. Ein großer Frieden in angenehmer Spannung. Alle sind sie jetzt da, sitzen an meinen Zimmerwänden und rühren sich nicht. — Guten Morgen!
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Aus der Wörtersammlung: alt
nahaufnahme
india : 0.02 — Erscheinungen auf Bildschirmen, die sich wie Traumbilder, wie bewegte Gemälde verhalten. Wollte sie berühren, jenen isländischen Mann im Moment, da er aus dem Atem des Vulkans auf eine Wiese tritt, dieses vollkommen graue Wesen, staubig, steinern, und auch das Schaf an seiner Seite, unsicheren Schrittes, ein steinernes Schaf. Aber dann, in dem sie näherkommen, die Augen des Mannes und die Augen des Schafes, wie sie zwinkern, zwei Leuchtkörper in Dunkelheit, überlebt, eine Chiffre des Widerstandes. – Man müsste jetzt ein gut trainierter Atlantikschwimmer sein.
morsen
echo : 0.25 — Gestern, am späten Abend, eine erste Zeile in meinen Bogen lebenden Papiers eingetragen, einen Satz, den Walter Benjamin vor langer Zeit einmal unter dem Begriff Kaktusblüte verzeichnete. Dieser Satz geht so: Der wahre Liebende freut sich, wenn der geliebte Mensch streitend im Unrecht ist. — Zärtlich, ohne zu atmen, arbeitete ich Zeichen für Zeichen voran. Und als ich fertig geworden war mit einem schließenden Punkt, lehnte ich mich zurück und wartete. Ich wartete lange. Ich wartete solange, bis ich eingeschlafen war. Dann wachte ich auf und staunte. Sicher ist nun, dass sich Papiertierchen mittels einer Sprache verständigen, die morsenden Zeichen ähnlich ist. Sie verfügen demzufolge über Ohren und ihre Stimmen sind hell, sehr hell, sind Fledermäusen, Walen und Delphinen nur vernehmbar.
animals
kilimandscharo : 0.58 — Die wirklich kleinen Dinge dieser Welt sind dem menschlichen Auge nicht sichtbar. Sie befinden sich in Räumen des Ahnens, des Wünschens, des Erfindens. Niemand könnte je sagen, ob man von dort aus betrachtet wird. Wenn ich nun ein Papiertierchen ganz für sich belichte, dann erkenne ich zunächst, seine Gestalt ist rund.
nachtende
sierra : 15.08 — Oder der Vordämmerungsschein der Schneekirschbäume, indem sie ihre Papiere entfalten.
animals
remmington : 0.01 — Eintausendachthundert Zeichenrücken Schwarz auf Weiss ist gleich eine Seite erzählendes Papier. stop
suspense
ginkgo : 0.55 — Im forschenden Gespräch mit Taini*. Vor einiger Zeit hatte sie auf meine Frage hin, ob sie sich jetzt, da sie schon viele Jahren in Europa lebt, als Europäerin wahrnehmen würde, geantwortet, sie sei doch eher noch immer eine Indianerin und das würde sich wohl niemals ändern, schon deshalb nicht ändern, weil ihre Gesichtszüge, weil das tiefe Schwarz ihres Haares und ihre äußerst zierliche Gestalt sie an ihren Ursprung täglich erinnerten. Ich sehe mich, sagt sie, ja, ich sehe mich! Wie sie jetzt lachend erzählt, dass sie einst schleichend ihre Sprache verloren habe, die verbotene Sprache ihrer Kindheit, und dass sie nun die Sprache jener Männer denken und sprechen würde, vor welchen sie sich als Mädchen in die Bäume flüchten musste. Langsam formuliert sie, Wort für Wort, betrachtet auch dann, wenn ich sie nicht ansehe, mein Gesicht, indem ich notiere, was sie erzählt. Selten wirft sie einen Blick auf das Notizbuch, das neben der Tonbandmaschine auf dem Tisch zwischen uns liegt, macht manchmal eine Kopfbewegung, die bewirkt, dass ich mein Werkzeug herumdrehe, damit sie sehen kann, was ich aufgeschrieben habe. Deine Schrift ist nicht zu lesen, bemerkt sie und schüttelt amüsiert den Kopf, vielleicht weil ich noch immer nicht gelernt habe, so zu schreiben, dass sie meine Gedanken entziffern könnte. Also lese ich ihr vor, zum Beispiel die Frage, wie Ameisen schmecken oder das Stichwort Schule. Kannst Du Dich noch an Deinen ersten Schultag erinnern? Ihr Schweigen. Eine anmutige, in sich suchende Erscheinung. Du musst eine spannende Geschichte daraus machen, sagt sie einmal. Ihr Blick, als ich sie frage, was sie denn unter einer spannenden Geschichte verstehen würde.
* Name geändert
denkfalter
india : 0.02 — Begeistert, nachdem ich in einem Wörterbuch der englischen Sprache zur Übersetzung der Zitronenfalter Variationen gesammelt habe. Brimstone butterfly, herrlicher Klang! Ich erinnerte mich, dass mir das Wort brimstone schon einmal begegnete, ich meine das Wort vor langer Zeit in Jan Gabrials Buch My Life with Malcolm Lowry entdeckt zu haben, ein vulkanisches Wort, und weil ich mir nicht ganz sicher gewesen war, noch einmal der Blick ins Kompendium. Eine Meeresgeschichte der Schwefelfalter wird nun denkbar, wie sie von salzigen Winden über Zinnobersand gewirbelt werden. Und da ist noch eine weitere, eine vielleicht seltsame Beobachtung an diesem Abend. Das ist nämlich so, ich kann nichts sagen über den eigentlichen Duft der Schmetterlingswesen.
wortklangstempel
echo : 0.06 — Da war ein i am frühen Morgen, vielleicht weil ich nach einer langen Traumnacht noch nicht ganz wach gewesen, in das Wort Lebende hineingeraten, so dass das Wort Leibende entstand. Im Zusammenhang einer blühenden Regenkäfergeschichte eigentlich kein verrücktes oder schlampiges Wort, und doch eine merkwürdige Sache, weil ich den kleinen Text zwei- oder dreimal, ehe ich ihn veröffentlichte, prüfte, ohne das nachdrücklich umgestaltende i entdeckt zu haben. Ich spiele nun mit dem Verdacht, dass ich Texte, die ich notiere und kurz darauf wieder lese, zunächst einem Nahzeitpeicher meines Gehirns entnehme, in welchem Wörter oder ganze Sätze eines Textes als scheinbar korrekte Klangstempel im Moment der Zeile erinnert werden. Und dann geh ich schlafen oder spazieren, beobachte einen Film oder unterhalte mich mit einem Freund oder einer Freundin, Zeit vergeht, in welcher die Stempel meines erfundenen Textes wieder zu Buchstaben, zu isolierten Tönen zerfallen, so dass ich meine Gedanken, meine Wörter und Sätze genau so zu lesen oder zu hören vermag, als wären sie von einem anderen Menschen notiert. Ja, so könnte das sein, so wollen wir das zunächst einmal annehmen. — Noch zu tun in dieser Nacht: Dimensionen der Papiertiere erspüren / µm = 10–6 m = 0,000.001 m.
windstille
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : WINDSTILLE
Es war Mittwoch, lieber Jonathan, trauriger Tag, mein letzter Fisch ist von mir gegangen. Als ich ihn besuchen wollte, ruhte er seitwärts auf sandigem Boden, eine scheinbar schlafende Gestalt. Das Gewicht seines Körpers kurz darauf in meiner Hand, nicht erwartete Kühle und die Rauheit seines Kopfes, den ich nie zuvor berührt hatte, ein seltsamer, ein bewegender Moment. Sie werden, lieber Kekkola, meine leise Trauer nach Jahren gemeinsamen Lebens verstehen, Sie ganz gewiss! — Sagen Sie, wie geht es Ihren Lungen, haben Ihre Atemflügel den Winter gut überstanden, ist alles so wie gewünscht, oder sind Sie vielleicht Stunden oder Tage ins Wasser zurückgekehrt, um Luft zu holen in vertrauter Art und Weise? Ein kuriose Vorstellung, wie mir scheint, Mr. Kekkola tauchend unter der Eishaut eines nordamerikanischen Sees. Ich darf Ihnen sagen, dass ich mich ein wenig vor Ihnen fürchte! Trotzdem hoffe ich, Sie haben sich bereits auf südöstlichen Kurs begeben. Ein wolkenloser Himmel sollte Sie erwarten, Windstille bei 17° Celsius, dort wo ich Sie lebend vermute. – Ihr Louis, ahoi!
gesendet am
18.03.2010
4.38 MESZ
1132 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »