nordpol : 4.56 — Flughafen. Früher Morgen. Regen. Das Licht verspätet sich, Flugzeuge, die weite Strecken gegen die Nacht geflogen sind, reihen sich, eine Kette zitternder Lichter, hintereinander bis zum Horizont. Neben mir auf einer Bank, den Blick auf die Landebahn gerichtet, sitzt ein alter Mann. Er heißt Menkem. Menkem lebt seit vielen Jahren in Deutschland, ein afrikanischer Mann, der Italienisch fließend spricht, Trigrinja und auch Deutsch, eine Sprache, die ihm nicht so leicht von den Lippen gehen will, weswegen er sehr langsam, Wort für Wort, formuliert. Wir warten auf einen weißen Vogel, einen Airbus 380, Linienflug LH 401 New York JFK – Frankfurt am Main, um 5 Uhr 15 soll das Flugzeug eintreffen. Da noch Zeit ist, frage ich, ob sich Menkems Familie in Sicherheit befinden würde oder ob sie vielleicht von Hunger bedroht sei in diesen Wochen. — Lange andauerndes Schweigen. — Dann antwortet mir der alte Mann. Er sagt: Afrika ist groß, sehr, sehr groß. Wir essen in Eritrea nicht vom Boden, wir sitzen immer auf einem Stein oder auf einem Stück Holz, wenn wir eines finden, oder wir haben ein Tuch, auf das wir uns setzen können. Wir sind einfache Mahlzeiten gewöhnt, wir essen nicht komplizierte Dinge wie die Menschen in Äthiopien, sofern sie nicht in Armut leben. Aber wir essen niemals vom Boden. Unsere Speisen sind scharf gewürzt. Oft haben wir sehr wenig. Immer müssen wir uns beeilen, essen, und dann sofort weiter. Der alte Mann macht eine schnelle Bewegung mit seiner Hand, als wollte er etwas von sich werfen. — stop
Aus der Wörtersammlung: anis
PRÄPARIERSAAL : nachtzeit
india : 20.18 — Regen. Schnüre von Regen. Dämmerung heute bereits gegen 18 Uhr. Seit drei Stunden höre ich Tonbandaufnahmen ab, Stimmen, die präzise formulierend vom Präpariersaal und seiner Umgebung erzählen. Immer wieder halte ich die Maschine an, schreibe auf, was ich hörte, stemple Zeitangaben. Christopher kurz vor acht Uhr über seine Erfahrung jenseits der Tage: > Was ich nachts gemacht habe? Meine Freundin sagt, ich würde in lateinischer Sprache mit ihr gesprochen haben : pause 2 sec : Vielleicht habe ich etwas mimische Muskulatur repetiert. Musculus frontalis. Musculus corrugator supercilii. Musculus orbicularis oculi. Das war eine sehr wichtige Nachtarbeit, die ich da verrichtet habe, verstehen Sie? Ich hatte Schwierigkeiten diese fremdartigen Wörter auszusprechen. Wie sollte ich sie im Kopf behalten, wenn ich sie nicht sprechen konnte! : pause 3 sec : Ich habe also nachts nicht wirklich geträumt, sondern nur Sprechübungen gemacht. : pause 5 sec : Auch dann, wenn ich wach war, das können Sie mir glauben, habe ich Wörter geübt. : pause 4 sec : Das Wort Leiche wollte ich nicht aussprechen. Ich habe immer von Körpern gesprochen. : pause 3 sec : In den ersten Tagen manchmal, sobald ich den Präpariersaal betreten habe, hatte ich den Eindruck einer gewissen Unwirklichkeit der Situation. Ich hatte den Eindruck, jene toten Menschen verkörperten nur eine Vorstellung, als hätte man sie für uns hergestellt, organische Ausstellungsräume, mit Erde bezeichnete Lehmkörper. Auch wenn das vielleicht seltsam klingen mag, die erste Berührung des Körpers auf dem Tisch war eine Bewegung, die der Vergewisserung diente, dass der Körper vor mir auf dem Tisch wirklich anwesend war. : pause 2 sec : Körper also. Sie boten meinen Händen Widerstand. Sie waren kühl und sie wirkten zeitlos. — stop
kokons
echo : 22.58 — Im botanischen Garten das leise, das Nichtdenken geübt. Ich legte mein Ohr auf einen hölzernen Tisch und dachte nichts. Aber da war etwas merkwürdig: Mein Ohr auf dem Tisch hörte sich selbst. Und das andere, zum Himmel gerichtete Ohr, erlebte den Besuch einer Ameise. Also dachte ich doch an die Ameise, wie sie meine Ohrmuschel untersuchte. Wie gut, an Ameisen und an nichts Weiteres denken zu müssen. Dann schlief ich ein. Als ich erwachte, dachte ich sofort weiter an nichts. Die Ameise war verschwunden, aber ich hörte mein Ohr auf dem Tisch, und ich hörte den Gesang einer Nachtigall, die zunächst geschwiegen, dann aber meinen Besuch vielleicht vergessen hatte, weil ich reglos zu einer Pflanze unter anderen Pflanzen geworden war. Ich fragte mich, denke ich, indem ich der Stimme eines Vogels lausche? Ist das Denken nur dann gedacht, wenn ich meiner denkenden Stimme zuhöre, mich und meine denkende Stimme also wahrnehme? Immer wieder bemerkt, dass ich Sekunden zuvor noch an etwas oder über etwas gedacht habe, obwohl ich mir nicht zugehört hatte. Eine Gedankenerinnerung. Manchmal verhalten sich Gedanken wie Räume, Kokons, die verwickelte Gedankenpakete enthalten. Schallplattengedanken. Ich könnte demnach Schallplatten verzeichnen, die angenehme Stimmen und Stimmungen wiederholen, frohe Begegnungen und gelungene Gespräche. — stop
eisschrank
himalaya : 5.57 — Ob es möglich ist, einen hölzernen Kühlschrank zu bauen? Keine halbe Sache. Nichts Postmodernes. Nicht einen Kühlschrank von Edelholz verkleideter Tür beispielsweise. Nein, ein wahrhaftig hölzerner Kühlschrank müsste durch und durch aus Holz bestehen, jede Schraube, jede seiner Wände, jedes Fach, auch das Eisfach, wären organischen Ursprungs. Kann ich einen Kühlschrank ernsthaft denken, der wie eine Schreibmaschine mit einer Handkurbel zu bedienen ist, einen Kühlschrank, der im Frühling austreiben wird und blühen im Mai, sagen wir einen Kühlschrank, den jede Biene für einen Magnolienbaum, und jedes Scoiattolo für einen Ginkgo halten möchte? — stop
malta : operation odyssey dawn
echo : 22.01 – Zu Fuß die Straße von Mdina rauf zu den felsigen Höhen, ihrem großartigen Blick südwärts über das Meer. Links und rechts der asphaltierten Straße, Felder, wie in Fächer gelegt von steinernen Wällen umgeben. In den Blättern der Kakteengewächse sitzen Schnecken in Höhlen und schmausen vom faulig gewordenen Fleisch. Was ich höre in diesen Minuten des Laufens ist der Wind, der sich an den Widerständen der wilden Landschaft reibt. Er scheint gegen die steilen Felsen, die schon in nächster Nähe sind, himmelwärts zu pfeifen, ein afrikanischer Wind an diesem Tag ein Mal mehr, ein Wind aus einem militärischen Operationsgebiet, das einen Namen trägt: Odyssey Dawn. Aber vom Krieg ist nichts zu sehen an dieser Stelle, in diesem Moment, da ich die Cliffs erreiche, wie mein Augenlicht sich zu einem Kameralicht verwandelt, wie das Land unter den Füßen weicht, wie ich für einen kurzen Moment glaube, abheben zu können und zu fliegen weit raus auf himmelblaue Wasserfläche, deren Ende nicht zu erkennen ist. Kein Flugzeug, kein Schiff, außer einem kleineren Boot, das auf dem Weg nach Misurata sein könnte, eingeschlossenen Menschen Mehl und Medikamente zu bringen. Tauben lungern im bereits tief über dem Horizont stehenden Licht der Sonne auf warmen Steinen, Eidechsen, grün und blau und golden schimmernd, sitzen erhobenen Kopfes und warten. Sie benehmen sich, als hätten sie noch nie zuvor ein menschliches Wesen gesehen. — stop
an der nachtzeitküste
ginkgo : 6.00 – Flughafen. Terminal 1. Drei Uhr und fünfzehn Minuten. Ich stoße auf Charlie, 36, Arbeiter. Der Mann, der in Togo geboren wurde und lange Zeit dort gelebt hatte, sitzt unter schlafenden Reisemenschen an der Nachtzeitküste. Er sieht seltsam aus an dieser Stelle, ein Mann, der in seinem Leben noch nie mit einem Flugzeug reiste, stattdessen in Zügen, Bussen, Schiffen durch den afrikanischen Kontinent Richtung Europa geflüchtet war, ja, merkwürdig sieht Charlie aus, wie er so unter schlummernden Nordamerikanern, Usbeken, Chilenen, Japanern, Neuseeländern sitzt. Er trägt Sicherheitsschuhe, ein kariertes Holzfällerhemd und Hosen von kräftigem Stoff, mit Katzenaugen besetzte dunkelblaue Beinkleider, die in jede Richtung reflektieren. Nein, unsichtbar ist Charlie, auch im Dunkeln, sicher nicht. Er macht gerade Pause, trinkt Kaffee aus einer schreiend gelben Thermoskanne und genießt ein Stückchen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorgfältig kaut er vor sich hin, nachdenklich, vielleicht weil er sich auf ein Spiel konzentriert, das er seit Jahren bereits an dieser Stelle wartend studiert. Charlie tippt Lotto. Charlie ist ein Meister des Lottospiels, Charlie spielt mit System. Er hat noch nie verloren. Er hat noch nie verloren, weil er noch nie einen wirklichen Cent auf eine der Zahlenreihen setzte, die er in seine Notizbücher notiert. Charlie ist ein beobachtender Spieler, Vater von fünf Kindern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nachtarbeiter ist. Wenn ich mich neben ihn setze und ihm zusehe, wie er mit einem roten Kugelschreiber Zahlenkolonnen in seine Hefte notiert, freut er sich, macht eine kleine Pause, erkundigt sich nach meinem Befinden, und schon schreibt er weiter, analysiert, rechnet, sucht nach einer Formel, die seine Familie zu einer reichen Familie machen wird. Einmal frage ich Charlie, ob er noch Briefe schreiben würde an seine Eltern in Lomé. Ja, sagt Charlie, jede Woche schreibe er einen Brief an seine Eltern, die am Meer leben, am Atlantik nämlich. Ein andermal will ich wissen, warum er nicht einen Computer einsetzen würde, um vielleicht schneller finden zu können, was er sucht. Charlie lacht, sieht mich an durch kräftige Gläser einer Brille, sagt, dass er wisse, wie bedeutend Computer seien für die Welt, in der wir leben, seine Kinder spielten mit diesen Maschinen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er weiter. Eine ruhige, klare Schrift. Rote Zeichen. In diesem Moment begreife ich, dass ich einer Beschwörung beiwohne, einem Gebet, Malerei, einer Komposition, der allmählichen Verfertigung der Idee beim Schreiben. Hermann Burger — stop
nachtfalter
alpha : 0.03 – Truman Capotes feine Geschichte Music for Chameleons. Das Porträt einer Aristokratin, die dem amerikanischen Schriftsteller während der 50er-Jahre auf Martinique Gastgeberin gewesen war. Ich hatte die Geschichte vor langer Zeit bereits gelesen und seither nie aus den Augen, nie aus dem Nahgedächtnis verloren. Wie eine elegante Lady auf einem gut gestimmten Klavier eine Mozart-Sonate spielt, und wie sich Chamäleons, von den Geräuschen des Instruments angezogen, zu ihren Füßen versammeln. Ich konnte mich gut erinnern an Geisterwesen, an rotäugige kleine Menschen weiß wie Kreide, an einen Garten riesiger Nachtfalter, an Pfefferminztee und Absinth, an Gauguins schwarzen Spiegel. Und wie die Chamäleons in ihren Farben, die über ihren Körper blitzten, die Musik Mozarts improvisieren, davon hatte ich begeistert immer und immer wieder einmal erzählt. Und dann lese ich Capotes Geschichte wieder. Da waren Nachtfalter und Menschen von kreideweißer Haut, und Pfefferminztee und Absinth, Mozart, Gauguin, allerlei Geister, eine Lady und ihr Klavier, und natürlich Chamäleons, Chamäleons lavendelfarben, gelb, lindgrün, scharlachrot. Ich las und wartete, wartete darauf, dass ich bald jene Stelle erreichen würde im Text, da Farben improvisierend die Körper der Chamäleons beleuchteten. Wartete vergeblich. Wartete noch, als der Text schon lange Zeit zu Ende gelesen war. — Existiert vielleicht eine geheime Schreibmaschine in meinem Kopf, die Lektüren meines Lebens geräuschlos weiterschreibt? — stop
motel chronicles
~ : louis
to : Mr. Shepard
subject : MOTEL CHRONICLES
Eine Depesche, verehrter Mr. Shepard, an diesem frühen Morgen in Europa. Bei Ihnen da drüben in Amerika wirds gerade dunkel werden. Notiere begeistert, dass ich Ihre Motel Chronicles geöffnet habe. Obwohl äußerst müde gewesen, las ich eine Halbstunde voran, ohne eine Pause einzulegen. Ihre präzise Sprache, die leicht ist wie Bimsstein, vulkanisch, von Zeithöhlen durchwachsen. Ob es vielleicht möglich ist, ihre Geschichten zu nehmen, um sie in eines der Bücher zu übertragen, die ich erfinde für Nachtpersonen, oder eine Zeile nur wie diese, da das Glück fällt auf die linke Seite des Zufalls? Vielleicht werden Sie fragen, welche Eigenschaften ein Nachtbuch von Tagebüchern unterscheiden. Nun, ein Nachtbuch gebietet über wanderndes Licht in seinen Zeichen, welches müde Leser kaum merklich weiter lockt. Sobald sich nämlich studierende Augen schließen, leuchtet das Licht im nächsten Zeichen, im nächsten Wort voraus, sodass man nicht aufhören möchte, diesem Licht durch die Zeilen zu folgen. Eine Verführung, das könnte sein, ein Appell des Buches, das in den Buchstabensensoren, das Augenlicht der Lesenden zu spüren vermag. Eines dieser Nachtbücher könnte Ihres werden, lieber Mr. Shepard, Motel Chronicles, unsichtbare Zeichen des Tages, Licht in der Nacht. Erwarte Ihre Antwort oder Fragen mit Freude, wie auch immer sie sich für mich darstellen werden. Mit herzlichen Grüßen — Ihr Louis
gesendet am
17.02.2011
4.08 MEZ
1407 zeichen
herr auf bahnsteig
echo : 6.28 — Ein älterer Herr abends spät auf dem Bahnsteig einer Metrostation. Der Mann ist offensichtlich glücklich. Gerade noch, vor wenigen Minuten, passierte er mit einem Koffer in der linken Hand eine Bildschirmwand, las im langsamen Gehen einen Text, der eine halbe Minute zuvor dort erschien. Dieser Text, eine Meldung, berichtet von Forschungsergebnissen eines nordamerikanischen Institutes, man habe nämlich herausgefunden, dass die Intensität der Gefühle mit dem wachsenden Alter eines Menschen steigen würde, man könne sich mit 60 Jahren am besten in eine andere Person hineinversetzen, gleichwohl schwierigen Zeiten etwas Gutes abgewinnen. Wie er diesen Text nun liest, wird der alte Mann langsamer, hält schließlich an, wendet sich dem Licht des Bildschirmes zu, setzt den Koffer neben sich auf den Boden ab. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, ein Schatten, eine Silhouette, die sich auch dann nicht bewegt, als die Nachricht, die von der Natur, vom elektrischen Wesen des alten Mannes persönlich erzählt, verschwindet und stattdessen ein Wetterbericht (Eis und Schnee), eine Reiseempfehlung (Ägypten), sowie aktuelle Devisenkurse (Dollar steigend) erscheinen. Der alte Mann wartet, er wartet zwei oder drei Minuten, bis der Text, den er studierte, wiederkehrt. Weitere Minuten vergehen, dann nimmt der alte Mann seinen Koffer vom Boden, dreht sich auf dem Absatz herum, sieht mich an, er lächelt und geht weiter. Eine Frau nähert sich in diesem Moment, da ich notiere, dem Luftraum vor dem Bildschirm. Sie trägt einen länglichen Pappkarton, in dem sich, einer Zeichnung folgend, ein Weihnachtsbaum (Tanne) befinden soll. Aber das ist schon eine ganz andere Geschichte. Guten Morgen! — stop
central park — liegend
tango : 15.28 — Im Central Park für Stunden. Einmal lege ich mich ins Gras und notiere was ich sehe: Hunde, zum Beispiel, Riesenpudel im weißen Pelz, rosafarben die Haut ihrer Gesichter, Kreaturen, Menschenhunde, die uralte Bäume markieren. Das feine, helle Grün der Kronen, wisperndes Licht, als wär noch Frühling, solche Bäume, die geduldig flanierende Personen beschirmen. Und Läufer, männliche und weibliche Läufer, leicht bekleidet, entspanntes Lächeln, wie von unsichtbaren Fußsänften getragen. Vier Polizisten, je mit Mütze, schweres Gerät klimpert in der Mitte ihrer runden, festen Körper. Eisverkäufer streiten am Ufer eines Sees, auf dem Funksteuerboote segeln. Ein verliebtes Paar ist da noch, sie liegen, und ein weiteres, ein gleichgültiges Paar lungert auf einer Bank, die Frau einerseits türmt mit zartesten Bewegungen ihrer rot bemalten Zehen Baumsamenspreu zu Gebirgen, der Mann andererseits beobachtet ein filigranes Wesen, das von Leibwächtern umringt über eine Wiese nordwärts schreitet. Ich schlafe bald ein. Eine nordamerikanische Biene, brummend. Das Blau des Himmels. Zwei Luftballons wippen vorüber, als würden sie auf eigenen Beinen gehen. — stop