india : 6.22 — Schaute gegen den Himmel. Bemerkte, dass sich die Dunkelheit wie eine Flüssigkeit verhielt. Vögel hüpften in dieser feuchten Lichtlosigkeit in Kastanienbäumen von Ast zu Ast, ein traumartiges Bild. Vielleicht habe ich etwas gesehen, das ich nur deshalb beobachten konnte, weil ich ohne jeden Grund auf der Straße stand, wie aus einem Versehen heraus, ein Mann, der die falsche Tür genommen hatte. Jetzt, etwas später, ahne ich, dass ich dort vor dem Haus gelandet war, weil ich insgeheim wünschte, mit meinen Gedanken an den gewaltsamen Tod eines Torhüters, unter freiem Himmel zu stehen. Und wie ich so wartete, hörte ich die Stimme seiner mutigen, jungen Frau in meinem Kopf, eine Stimme, die versuchte, von all dem Wahnsinn, dem Wahnsinn des Verheimlichens zu sprechen. Da war einmal ein Mensch gewesen, der nicht weiterleben konnte, der sterben musste, weil er seine Verletzlichkeit, seine Schwäche, seine Menschlichkeit nicht zeigen durfte oder glaubte, sie nicht zeigen zu dürfen. So könnte das gewesen sein. Ein Mensch, der lange Zeit über Wasser hastete. So weit ist er gelaufen, dass kein Land mehr zu sehen, kein Laut mehr zu hören gewesen war. — 2 Uhr und fünfzehn Minuten. Die Welt dreht sich, um einen Atemzug langsamer geworden, weiter, immer weiter. Soeben wurde amtlicherseits die Öffnung folgender Weihnachtspostämter, nördliche Hemisphäre, bekannt gegeben: Nordpol-Grönland Santa Claus Nordpolen, Julemandens Postkontor DK-3900 Nuuk / Finnland Santa’s Main Post Office FIN-96930 Napapiin / USA Santa Claus Indiana 47579.
Aus der Wörtersammlung: etwas
ohrensegel
whiskey : 0.01 – Gespräch mit einer kleinen Philosophin am frühen Abend in einer Straßenbahn, weswegen ich nun für den Rest meines Lebens gerührt sein werde von einem ihrer Gedanken, der mir zu erklären versuchte, weswegen ihre Ohren etwas größer seien als die Ohren ihrer besten Freundin. Das wäre nämlich so, dass ihre Ohren deshalb größer seien, weil sie viel weniger sprechen würde als ihre Freundin üblicherweise. Ich kann, fuhr sie fort, mit meinen Ohren sogar meine eigene Stimme hören, obwohl ich gar nichts sage. Blinde segelten durch die Luft. — stop
weitrufend
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : RADAR
Mein lieber Jonathan. Noch immer kein Zeichen. Aber ich weiß, ich spüre, dass Sie am Leben sind. Deshalb schreibe ich weiter, übermittle meine Nachrichten an Sie in der Hoffnung, dass irgendwann einmal eine Antwort eintreffen wird. – Vor zwei Tagen von einer kleinen Reise zurückgekommen, bin ich noch etwas müde, aber froh und voller Zuversicht. Ich habe in einem Saal vor Menschen aus einem Text vorgelesen, den Sie bereits kennen. Ich konnte meine Zuhörer nicht sehen, weil mein Gesicht beleuchtet war. Und weil ich sie so wenig hören wie ich sie sehen konnte, dachte ich für einen Moment, dass sie vielleicht aufgehört haben zu atmen oder ganz verschwunden sind, ohne dass ich ihre Flucht bemerkte. Ich beobachtete meine Stimme, während ich las. Sie war zunächst eine fremde, öffentliche Stimme gewesen, entfernt, aber dann, Wort für Wort, kam sie zu mir zurück. Ja, wie ich langsamer wurde, weil mein Herz sich langsamer, ruhiger bewegte. Wie jene Wörter, in einer weiteren Zeile als der gerade beschallten Zeile, bereits hörbar waren in meinem Kopf. Ihre besänftigende Gegenwart, mein lieber Jonathan! Und nun bin ich also zurück und denke nach und schreibe Ihnen in der Hoffnung, dass Sie lesen werden, was ich für sie notiere. Ich habe von Ihnen erzählt, wissen Sie! Ich habe erzählt, dass ich mich um Sie sorge. Und ich war stolz, von dem ersten Menschen berichten zu können, der sich mit künstlichen Lungen versehen, in die nordamerikanische Wildnis wagte. Ja, mein lieber Kekkola, ich weiß, dass Sie noch am Leben sind. — Ihr Louis
gesendet am
28.10.2009
23.58 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
radiosonar
sierra : 5.22 – Ich könnte vielleicht sagen, dass ich die Anatomie meiner Wohnung großzügig kenne. Ich weiß zu beschreiben, wo sich meine Küche befindet und wo genau dort Kühlschrank, Tassen, Kaffee. Aber schon mit meinem Radio, seiner inneren Gestalt, fängt die Welt der nächsten Nähe an, seltsam unbekannt zu werden. – Da ist noch etwas. Seit zwei Tagen habe ich das Gefühl, für jedes neue Wort, das ich lerne, ein anderes zu vergessen. Warum? — stop
zwei erfinder
~ : louis
to : Mr. sami tupavuari
subject : penelope
Sehr geehrter Herr Tupavuari! Guten Abend! Ich heiße Louis. Sie werden mich nicht kennen. Ich hörte, Sie sollen ein Geräuschworterfinder sein. Bis vor Kurzem wusste ich nicht, dass Menschen wie Sie existieren. Umso glücklicher fühlte ich mich, als mir ein Freund von ihren Fähigkeiten berichtete. Ich wende mich nun mit einer dringenden Bitte an Sie. Es geht darum, dass ich Ihnen von Penelope zu erzählen wünsche, einer sehr besonderen Person, einer Frau, die in der Lage ist, Finger in der Art und Weise der Eidechsen von sich zu werfen. Sie werden sich vielleicht wundern, wie so etwas möglich ist. Glauben Sie mir, auch ich wundere mich von früh bis spät über dieses faszinierende Geschöpf. Reine Erfindung und doch schon ein dringender Fall. Sie müssen wissen, ich komme nicht weiter, weil ich ein Wort entbehre, das mir nicht einfallen will, ein Wort, eine Lautschrift, die ein Geräusch wiedergeben oder darstellen könnte, das in genau jenem Moment entsteht, wenn sich ein Finger Penelopes von ihrem Körper löst. Ein Wort müsste das sein, welches von Haut und Knochen ist, ein leichtes, windiges, sanftes, erstaunliches Wort. Wie unermesslich dankbar wäre ich Ihnen, lieber Herr Tupavuari, wenn Sie mir weiterhelfen, wenn sie sofort Ihre Arbeit aufnehmen könnten. Ich frage Sie nun in aller Eile: Was würde ein Wort, wie das gewünschte Wort, in etwa kosten? Mit besten Grüßen – Ihr Louis
gesendet am
28.09.2009
23.58 MESZ
1405 zeichen
situs inversus / apsis 5
tango : 8.58 – Früher Morgen. Eine Nacht schwerer Arbeit liegt hinter mir. Ich hatte gestern noch einer Freundin, deren Vater gerade gestorben ist, während eines Spazierganges von meiner Suche nach Rheinelefanten erzählt. Wie ich auf und ab fahre, Stunde um Stunde mit dem Zug zwischen Bingen und Koblenz, die Kamera gezückt. Und wie sie in ihrer Trauer doch für einen Moment herzhaft lachte. Dann sitze ich vor dem Schreibtisch und habe partout kein Verlangen nach anatomischen Dingen. Dem entgegen menschenleere Szenen weiter gelesen. Ich lehne an einer Wand des Präpariersaal’s. Irgendwo klappert ein Stück Metall, nichts weiter ist zu hören. Oder doch vielleicht ein schimmerndes Geräusch in meinem Kopf, leise, leise. Jenseits der Fenster hüpfen Vögel in den Bäumen, Bewegung, die anzeigt, dass ich weder vor einem Gemälde noch vor einer Fotografie Platz genommen habe, dass ich mich von der Wand lösen und zu einem der Tische wandern könnte, etwas verändern, den Faltenwurf einer Decke vielleicht, oder eine Seite umblättern in einem anatomischen Atlas, der im Saal zurückgelassen wurde. Ich sollte ein Stück Kreide in die Hand nehmen und auf eine Tafel schreiben: Situs inversus / Apsis 5 Tisch 82
kaukasus : unsichtbare fotografie
sierra : 2.08 – Oktoberlicht, das auf eine Straße fällt. In der Mitte dieser Straße liegt eine junge Frau auf dem Rücken. Sie liegt, als würde sie bald schlafen, die Beine von sich gestreckt. Eine blaue Bluse. Gelbe Turnschuhe. Jeans. Da und dort segelt ein Schatten unter der Haut ihrer Wangen, und doch ist das Gesicht ein schneeweißes Gesicht mit einem roten, blühenden Mund. Augen, die halb geschlossen sind. Unendlich müde blaue Augen oder doch eher unendlich müde dunkle Augen, ja, doch eher dunkle Augen, das Blau der Bluse irrt auf ihrem Gesicht herum. Auch ihre Hände sind weiß und etwas blau. Eine Hand liegt auf der Straße, die andere Hand auf dem Bauch der jungen Frau. Hände, die etwas planten vielleicht, Hände, die angehalten wurden oder aufgehalten, indem man die Zeit im Körper der jungen Frau stoppte oder löschte. Ja, kühl muss sie sein, kühl geworden, ohne jedes Lebensfeuer, wie sie so auf der Straße liegt. Kein Blut weit und breit. Nur ihr Mund, der blüht, weil die Farbe nicht ihre Farbe ist im Sternlicht auf einem Gesicht ohne Namen. Man darf das Gesicht jetzt fotografieren von allen Seiten. Also fotografiert man das Gesicht von allen Seiten. Man darf jetzt schreiben, die junge Frau sei aus dem Süden gekommen, vom Kaukasus her. Also schreibt man, die junge Frau sei aus dem Süden gekommen, vom Kaukasus her. Eine weite Reise, ihre Reise nach Moskau. Dort liegt sie jetzt. Eine Bombe. Sie soll eine lebende Bombe gewesen sein. Welche Schule besuchte sie? Was hatte sie erlebt? Schwarzes Haar. — stop
sprechgeräusche
ginkgo : 2.15 – Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend im Garten eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlief ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Fangen wir an. – stop – Drei Uhr und zwölf Minuten in Isfahan, Iran. – stop
zeppeline
alpha : 8.06 — Seit Tagen denke ich darüber nach, weshalb mich die Ansicht japanischer Fesselbombenballone irritiert. Ich komm nicht dahinter. Vielleicht einmal eine Geschichte erzählen, die von oder mit Bombenballonen handelt, eine Art fabulierende Denkbewegung, die die Substanz dieser seltsamen Idee in meinem Leben wirklicher, greifbarer werden lässt. Nicht also erfinden, sondern etwas Gefundenes buchstabieren, um es genauer denken oder überhaupt als etwas Eigenes spüren zu können. Gestern Abend noch erzählte ich in einem Gespräch von Zeppelinkäfern, wie sie durch meine Wohnung schweben. Ich erzählte in einer Weise, dass ich eher sagen müsste, dass ich von der Erscheinung der Zeppelinkäfer in meinem Zimmer berichtete, weil sie, im Februar zunächst wortweise auf Notizpapier gesetzt, für mein Gehirn zur einer wirklichen Erscheinung geworden sind. — Eine beruhigende Beobachtung. — stop
ohrwesen
romeo : 0.08 – Kurz nach Mitternacht. Leichter Regen, aber nur als Vorstellung, als Übung, als Suche in den Magazinen meines Gehörs. Plötzlich erinnerte ich mich, einmal heimlich ein Ohr aus nächster Nähe beobachtet zu haben, ein Wunder der Schöpfung. Ich betrachtete dieses Ohr so liebevoll und so lange Zeit, dass ich bald etwas ganz anderes in ihm sehen wollte, als eine halbe Stunde noch zuvor, ein Wesen nämlich ganz für sich. Der Gedanke, ich könnte jederzeit ein schlafendes Ohr mit meinem Blick berühren, ohne dass es davon wach werden würde, fasziniert mich außerordentlich. Wenn ich aber sagen würde, leise, leise: Du bist wunderschön, dann würde das Ohr mich vielleicht ansehen, ein noch halbwegs träumendes Auge von einer Sekunde zur anderen Sekunde, und ein Mund, ein Mund, der lächelt. — Gute Nacht.