india : 11.28 UTC — Da sind Thermometerwerkzeuge, 5 + 1, zur Messung der Temperaturen eines Zimmers. Und flackerndes Regenlicht, das von den Fenstern her kommt. Ein Computerbildschirm, in dem sich der Computer selbst befindet, zuletzt vor fünf Jahren angeschaltet. Auf dem Schreibtisch ruhen anatomische Bücher, gedruckt in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bitterer Duft steigt auf, sobald sie geöffnet sind. Das Handbuch eines Opel-Rekord und eine Blechdose, drin sind Liebesbriefe: Meine Liebste, wie ich mich nach Dir sehne! Eine Zigarrenschachtel weiterhin voller Briefmarken des Deutschen Reiches, die der Junge noch sammelte. Ein Kinderbuch: Zwei Pinguine winken. Ein Gerät, das den Strom zu vermessen vermag, haardünner Zeiger. Eine Karte der Stadt Lissabon und Fahrkarten einer Straßenbahn, die in Lissabon noch immer anzutreffen ist. Zwei Menschen waren dort, die Lissabon liebten. Dem Jungen, der Lissabon später einmal lieben sollte, gehörten zwei Schulbücher, er wird später ein Doktor der Physik und ein Verehrer Andrei Sacharows. Sein Vater war Arzt gewesen, deshalb auch Skalpelle auf rotem Samt und eine Schachtel, in welcher sich Objektträger befinden. Dort Spuren, die gelblich schimmern. Und Dioden und Widerstände und Rechenkerne auf Platinen geschraubt. Auch Luftpostbriefe, die ein junger Student an sich selbst oder seine Geliebte notierte, da waren sie noch nicht nach Lissabon gereist, prächtige Marken und Stempel und Sonderwertzeichen der Ballonpost zu einer Zeit, als Expressbriefe noch durch Eilboten zugestellt worden waren. Eine Filmdose und noch eine Filmdose, die man nicht wagt im Regenlicht zu öffnen. Auf einem Dia ist sehr klein eine junge Frau zu erkennen, die vor dem World Trade Center in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Sohnes sofort bekannt. In einer Kladde verschnürt, Blätter eines Herbariums: Schlüsselblume von Bleistiftbeschriftung umgeben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funkantennen wie Fühler eines Insektes ohne Strom. Eine Postkarte ist da noch und immer noch Regen draußen vor den Fenstern. Auf der Postkarte steht in großen Buchstaben rot umrandet vermerkt: Lebenszeichen von L.K. aus der Braubachstraße / 8. II. 44: Meine Lieben! Wir sind gesund und unbeschädigt. Marie & Familie. — stop
Aus der Wörtersammlung: film
regen
bamako : 18.55 UTC Morgen oder übermorgen werde ich eine Geschichte erzählen, die mit Jack Kerouac in einer gewissen losen Verbindung stehen wird. Als ich die Geschichte zu notieren begann, erinnerte ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jahren an dieser Stelle bereits gesendet hatte. Es war gleichwohl im September gewesen, es regnete damals und ich spazierte unter einem Regenschirm. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelte. Das war ein feines Gefühl gewesen, unter dem klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehen und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich wiederum an einen kleinen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrieben hatte. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer, auch heute, 12 Jahre später, ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal, zum dritten Mal, für Sie wiederholen: Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works. — stop
16 uhr 18
lima : 16.18 UTC — Hörte Friedrike Mayröcker von Steinen sprechen: Ist das Schreiben etwa wie das Ansetzen von Dominosteinen? — stop
am telefon
echo : 16.12 UTC — In Traum erzählte mir eine sehr alte Frau am Telefon, ich dürfe, sollte ich einmal zu Besuch kommen, ihr weder Fotografien noch Filmaufnahmen zeigen, die ich vielleicht entdeckt und aufbewahrt haben könnte. Sie sagte, dass sie sich vor Fotografien fürchte, sie habe immer sofort alles im Blick, sie könne nicht einfach nur eine kleine Portion betrachten, einen Ausschnitt eines Ortes, vor dem sie sich fürchte, es wäre immer alles sofort gegenwärtig, die Absicht des Bildes oder ein Zufall. Ich erinnere mich in diesem nächtlichen Gespräch versichert zu haben, ihr niemals eine Fotografie von dort zu zeigen. Aber ich gab nicht sofort auf. Ich bemerkte, dass es immerhin möglich wäre, Fotografien in kleinere Teile zu zerlegen, ich könnte diese Teile nummerieren und mit ihr gemeinsam auf einem Tisch Teilbild für Teilbild sehr langsam ergänzen, sie könnte sich in diesem Falle also an ein langsam entstehendes Bild zunächst gewöhnen, indessen ich ihr erzählen würde, was auf den Teilbildern bereits von der Absicht oder einem Zufall zu sehen ist. Als ich meine Rede unterbrach, blieb es still da drüben jenseits meines Telefonhörers, der selbst als ein vollständiges Telefon bezeichnet werden könnte. Dann wachte ich auf, es war Sonntag. — stop
lichtgeister
delta : 22.18 UTC — Im Vorspann des Films Tracks erscheint in der ersten Minute der Hinweis für jene Zuschauer, die Aborigines oder Torres-Strait-Insulaner sind: Bitte beachten Sie, dass dieser Film möglicherweise Bilder oder Stimmen Verstorbener enthält. Wie zart, wie ernst dieser Hinweis auf die Sterblichkeit der im Film auftretenden Persönlichkeiten. — stop
jonathan
echo : 20.12 UTC — Ich habe Jonathan ungefähr drei Jahre lang nicht gesehen. Als ich ihm zuletzt begegnete, erzählte er von einem Film, der ihn hörbar beeindruckt hatte. Er sprach damals so schnell und aufgeregt, dass ich ihm nicht folgen konnte. Ich dachte nur immer wieder: Jonathan, dass Du so schnell und unentwegt sprechen kannst, wo hast Du das gelernt? Vor wenigen Minuten setzte sich Jonathan im Zug zu mir und ich machte mich auf eine weitere rasende Geschichte gefasst. Es war aber ganz anders gekommen, er sprach zunächst kaum ein Wort: Hallo Louis, lang nicht gesehen. Kurze Pause. Ja, ich arbeite noch immer in der Nacht. Lange Pause. Fünf Minuten schwieg Jonathan. Er sah zu seinen Händen hin, die in seinem Schoß ruhten. Dann begann sich seine linke Hand behutsam zu bewegen. Seine rechte Hand indessen war geöffnet. Jonathan schien einen Text zu schreiben auf einer nicht sichtbaren Tastatur, die dort für ihn sichtbar sein musste. Weitere fünf Minuten vergingen in dieser Weise des Notierens. Plötzlich hörte er auf, zu schreiben. Er führte seine rechte Hand unter seine linke Hand und begann zu lesen. — stop
schnee
romeo : 20.05 UTC — Es ist später Nachmittag geworden eines Tages nach einer langen Nacht. Wieder, ich erinnerte mich, liegt ein Buch Julio Llamazares’ vor mir auf dem Schreibtisch. Ich habe das Buch geöffnet, um nach einem zärtlichen Satz zu sehen, ob er noch da ist. Er geht so: Für meine Mutter, die schon Schnee ist. Dieser Satz ist nun auch mein Satz. – stop
von birnen
nordpol : 15.01 UTC — In der chinesischen Region Sichuan, einer hügeligen Gegend, sollen hunderte Menschen auf Leitern in Birnenbäume steigen, um sie mittels Entenfederbüscheln mit Pollen zu bestäuben. Das alles sei notwendig geworden, weil weder Bienen noch Hummeln existieren, die von Pestiziden getötet worden seien. Diese Informationen habe ich einem Film entnommen, dessen Einzelbilder ich mit eigenen Augen gesehen habe. Ich wollte ihn meiner Mutter zeigen. Sie liegt seit langer Zeit in einem Bett im Haus der alten Menschen. Vorsichtig näherte ich mich mit meiner flachen Bildschirmschreibmaschine, aber sie wollte ihre Augen nicht öffnen. Deshalb erzählte ich ihr meine Geschichte von den menschlichen Bienen, die in Birnbäume steigen, und kann noch immer nicht sagen, ob sie in den Ohren meiner Mutter einen Platz finden konnte. — stop
ein fahrrad
whiskey : 5.16 UTC – Einmal, vor fünf Jahren sprach ich mit Martha, die kürzlich gestorben ist, über das Vergessen oder Vergesslichkeit. Sie sagte, dass man, wenn man wirklich vergesslich wird, diese Vergesslichkeit nur dann bemerkt, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Wohnung aufhalte, könne sie vergessen, soviel sie wolle, es würde ihr selbst nicht und niemand anderem auffallen, dass sie eigentlich einen Film betrachten wollte, aber auf dem Weg zum Fernsehgerät plötzlich ein Buch auf dem Tisch entdeckte, weshalb ihr Filmwunsch verloren ging. – Liebe Martha, notierte ich, Du hast versäumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzählte. Ich sende diesen Text noch einmal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vorlesen wirst. Hier ist der Text, den Martha damals vermutlich noch wahrgenommen hatte. Er geht so: Eines der letzten bewegten Bilder, die ich von meinem Vater in Erinnerung habe, zeigt ihn, wie er in seinem Arbeitszimmer am Computer arbeitet. Auf dem Bildschirm sind dutzende Programmfenster geöffnet. Der alte Mann sitzt fast bewegungslos in seinem Sessel. Manchmal tastet eine Hand durch die Luft, greift unsicher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wieder auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zeiger über den Bildschirm fahren. Ein weiteres Programmfenster öffnet sich. Ein kleines Mädchen fährt in diesem Fenster auf einem Fahrrad über einen sandigen Weg. Sie bewegt sich in Schlangenlinien dahin, lacht hoch zur Kamera, die rückwärts durch die Luft zu fliegen scheint. Es ist ein heiterer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öffnet sich wie von Geisterhand noch ein Fenster, das den heiteren Film verdeckt. Eine Fotografie, Mutter nahe Lissabon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Computer sitzt, im Sand. Er trägt Turnschuhe. Auch meine Mutter trägt Turnschuhe. Ich fragte mich, wer diese Aufnahme machte, und komme nicht darauf. Ein Schatten ist zu erkennen, der Schatten eines Fotografen vielleicht. In diesem Moment ruft die Frau, die auf der Fotografie zu sehen ist, von unten, vom Wohnzimmer her, dass das Mittagessen bald fertig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fenster, die er im Laufe des Vormittages geöffnet hatte, wieder zu schließen. Nein, alles muss aufgeräumt werden. Mein Vater steht nicht einfach auf, um sich sofort unsicheren Schrittes auf die Treppe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zeiger auf dem Bildschirm den Rahmen der Programmfenster nähert. Er scheint das Symbol für das Schließen der Fenster zu suchen, aber das Symbol ist nicht zu entdecken, nicht zu erkennen. Der Zeiger irrt auf dem Bildschirm herum, Fenster drängen sich in den Vordergrund und verschwinden wieder. Dann kommt Mutter herbei, sie ruft zärtlich: Komm, komm, das Essen ist fertig. Schritte auf der Treppe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwitschern der Vögel vom Garten her. Im Zimmer auf dem Schreibtisch ist der Computer längst eingeschlafen. – stop
ai : NIGER
MENSCHEN IN GEFAHR: „Der multinationale Ölkonzern Shell und die Regierung des südnigerianischen Bundesstaates Rivers haben es versäumt, die Bewohner_innen von Ogale, einer Region außerhalb von Port Harcourt, der Hauptstadt von Rivers, regelmäßig mit sicherem Trinkwasser zu versorgen. Die meisten der dort lebenden Menschen müssen entweder Wasser kaufen oder Grundwasser trinken, das laut einer 2011 veröffentlichten Studie der Vereinten Nationen gefährlich verschmutzt ist./ Die Studie des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme, UNEP) ergab, dass die Bewohner_innen von Ogale Wasser aus Brunnen tranken, das so stark mit dem bekannten Karzinogen Benzol verunreinigt war, dass es den nach internationalen Richtlinien festgelegten Grenzwert um das 900-fache überschritt. Das Wasser zu trinken werde „sicher langfristige gesundheitliche Folgen“ haben. UNEP empfahl der nigerianischen Regierung, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, damit die Menschen in Ogale nicht weiterhin Trinkwasser aus kontaminierten Brunnen trinken müssen, und ihnen eine alternative Quelle für sauberes Wasser zur Verfügung zu stellen. Trotz dieses dringenden Aufrufs gibt es noch immer keinen Zugang zu solch einer Quelle. / Am 1. September 2018 besuchte Amnesty International Ogale und sprach mit Anwohner_innen. Die meisten von ihnen kaufen ihr Wasser für den persönlichen und häuslichen Gebrauch, etwa zum Trinken, Kochen und Waschen, obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten können. In einigen Fällen geben Bewohner_innen ein Drittel ihres wöchentlichen Einkommens für Wasser aus, sodass sie manchmal statt drei Mahlzeiten am Tag nur zwei essen können. Diejenigen, die es sich nicht leisten können, Wasser zu kaufen, trinken und nutzen das örtliche Grundwasser – trotz der Warnschilder, die darauf hinweisen, dass das Wasser ihre Gesundheit gefährdet. Manche trinken Wasser aus lokalen Brunnen und Bohrlöchern, auch wenn auf dem Wasser ein öliger Film zu sehen ist. Einige Bewohner_innen bezahlen sogar für das Wasser aus den Bohrlöchern. Andere nutzen Regenwasser, in dem sich schwarze Flöckchen befinden. Die Bewohner_innen haben keine andere Wahl, da sie nicht das nötige Geld aufbringen können, um Wasser von privaten Anbieter_innen zu kaufen und die Regierung bereits seit über einem Jahr kein sauberes Wasser mehr bereitstellt. Zeitgleich mit dem Besuch von Amnesty International in Ogale wurden einige der von der Regierung regulierten Wasserleitungen wieder in Betrieb genommen. Doch die Bewohner_innen berichten, dass die Wasserversorgung lediglich eine Stunde am Morgen oder am Nachmittag funktioniert und die zur Verfügung gestellte Wassermenge nicht ausreicht, um den grundlegenden Wasserbedarf zu decken. Amnesty International hat Grund zu der Annahme, dass auch dieses Wasser nicht den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation für Trinkwasserqualität entspricht.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 3.8.2018 unter > ai : urgent action