alpha : 0.05 — Ein Datenspeicher, in dem alle je von Menschenhand geschriebenen Zeichensätze versammelt sein werden. Meine Schreibmaschine, ein Albtraum, könnte mit diesem frei schwebenden Gedächtnis in Verbindung stehen. Und während ich nun notiere, würde unverzüglich angezeigt, ob der gerade eingedachte Satz bereits aufgeschrieben wurde oder nicht. — Schneeflocken, Früchte, leiseleicht, die aus Nachtbäumen fallen.
Aus der Wörtersammlung: flocken
j.d.salinger : 160 west 71st street
tango : 2.15 — Kurz nach Mitternacht beginnt es zu schneien. Sitze mit Schreibmaschine vor dem Fenster und übe das Fangen einzelner Flocken mit den Augen. Ich mache das genau so, wie ichs als Kind schon machte, aber die Lichtpelze dieser Stunden fallen aus der Dunkelheit, während sie sich damals aus hellen Wolkenräumen lösten, deren Tiefe nie zu ermessen gewesen war. — Eine seltsame Nacht ist das heute. Ich habe eigentlich viel zu tun, und doch sitze ich hier am Fenster und schaue himmelwärts und denke an Salinger, an den großen geheimnisvollen Schriftsteller, der gestern gestorben sein soll. Ich hatte vor wenigen Wochen noch einen Ballon in meine Spazierkarte der Stadt New York eingetragen, um ein Gebäude in der 71. Straße West zu markieren, das Hotel Alamac genauer, Handlungsort der Geschichten um Franny und Zooey. Ich dachte mir, hier wirst Du einmal in den kommenden Jahren für Tage lungern und notieren und warten, auf J.D. Salinger warten, darauf warten, dass Dir der alte Mann erscheinen möge. Und so wird das nun also anders werden. Aber wirklich merkwürdig ist folgende Einsicht, die ich gewonnen habe in den vergangenen Stunden. Menschen, die so bescheiden lebten, dass man sie für nicht wirkliche Wesen ansehen konnte, werden wahrhaftig, werden lebendig, sobald man ihr Lebensende meldet. – Und nun wieder der Himmel und sein Licht. Zwanzig Uhr zwölf in Port-au-Prince, Haiti. — stop
dezember
echo : 20.55 — Im vergangenen Jahr noch, Mitte Dezember, wurde mir von einem jungen Moslem, dem ich gewogen bin, weil wir über seinen und über meinen Glauben sprechen können, ohne beleidigend oder abwertend sein zu müssen, ein Geschenk überreicht, ein kleines Buch, verbunden mit der dringenden Empfehlung zur Lektüre. Das Büchlein soll viel Licht enthalten, Weisheit, Wahrheit, Freiheit und auch Glück, weil es mir, so der Schenkende, beweisen werde, dass ich, der Autor dieser Zeilen, nicht von den Affen abstammen könne. Das Werk ist 18 cm hoch, 12 cm breit und 68 Seiten stark. Seit Wochen, eine Drohung, liegt es ungeöffnet auf meinem Schreibtisch. Und auch heute Nacht wird das nichts werden mit der Lektüre, weil ich Schneeflocken zählen, John Coltrane lauschen und über Geschichten nachdenken werde, die mir eine junge Indianerin erzählte, deren Schwester seit langer Zeit in den Wäldern Guatemalas verschwunden ist. Wie ihr das Wort Guerilla leicht von der Zunge fliegt, vielleicht weil das Wort schon immer zu ihrem Leben gehört. – Am 24. Dezember 2009 in Peking wurde der Schriftsteller Liu Xiaobo zu 11 Jahren Haft verurteil, da er die Gewährleistung der Menschenrechte in China eingefordert hatte.
lichtpelz
lima : 0.02 – In einer frühzeitigen Erinnerung, die ich gestern, während ich eine filmische Erzählung der Stadt Istanbul beobachtete, erreichen konnte, sind keine menschlichen Wesen zu entdecken, doch Körper von Licht. Ich liege in einem schwankenden Schiff, das durch eine Straßenbahn fährt. Über mir die Wärme der Glühbirnen, Glaskolben, in welchen wirkliches Feuer enthalten ist. Draußen, im Dunkeln, Schneeflocken, die aus sich selbst heraus zu leuchten scheinen, Lichtpelzfetzen. — Ich frage mich gerade, ob diese Erinnerung nicht eine ausgemalte Erinnerung sein könnte, Filmbildern nachgezeichnet. Aber da sind der Duft von gebrannten Mandeln und das Schrillen einer Klingel und das Geräusch einer Stimme, die später einmal sagen wird: Max-Weber-Platz.
schlaftastatur
tango : 0.01 — Ich träumt von grüner Nacht, wo Schneeflocken sich legten
auf die Augen des Meeres gleich Küssen. Arthur Rimbaud
mrs. callas zählt schneeflocken
marimbamarimba : 0.01 — Wenn Mrs. Callas Schneeflocken zählt, will sie jede Flocke mit ihren Zeigefingern berühren. Aus der Entfernung betrachtet, könnte man dann meinen, Mrs. Callas würde sich mit nicht sichtbaren Engeln unterhalten, oder mit Engeln, die so klein sind, dass sie für das Licht nicht ins Gewicht fallen. Ja, wenn Mrs. Callas Schnee zu zählen wünscht, spricht sie mit ihren Händen mit der Luft. Sie ist sehr schnell in dieser Bewegung des Sprechens und sie ist glücklich, habe ich den Eindruck, ein Mädchen, wie sie am kleinen See des Palmengartens auf Zehenspitzen steht und so herzlich lacht, dass die Reiher angeflogen kommen, die eigentlich längst schon nach Afrika abgereist sein sollten. Ich glaube, flüstert sie, jetzt habe ich den Überblick verloren. Wir sind dann noch herum spaziert zwei Stunden und haben diskutiert, was Mrs. Callas an Bord der Seatown gern tragen würde, etwas leichtes natürlich, wegen der schwülen Hitze, die zu erwarten sein wird, weil wir uns das so ausgedacht haben von Zeit zu Zeit, das Inventar einer Welt, die eigentlich nicht existiert.- stop