echo : 22.08 UTC — Vor zwei Jahren notierte ich eine Geschichte von zwei alten Frauen, die seit Monaten aufgehört haben zu sein. Die Geschichte aber, die ich erzählte, existiert weiter fort. Sie geht so: Vor dem Rollstuhl, in dem die alte Dame hockte, kniete ein Mädchen im Alter von 6 Jahren. Die alte Dame erzählte dem Mädchen eine Geschichte. So leise war die Stimme der alten Dame geworden, dass sie kaum noch zu hören war, manche der leisen Wörter waren nur in Gedanken zu vernehmen, waren Vermutung. Je mehr der Vermutungen sich in den laut ausgesprochenen Wörtern der Erwachsenen, die links und rechts des Rollstuhles stehend, in gebückter Haltung lauschten, aneinander reihten, desto strenger wurde der Blick der alten Dame, sie schien unzufrieden, vielleicht sogar verzweifelt zu sein. Plötzlich sagte das Mädchen: Ihr hört nicht richtig zu! Die Tante sagt, dass sie an Weihnachten immer den Gottesdienst in der Kirche St. Paul besuchte. Sie sagt überhaupt gar nichts über das Wetter morgen. Unverzüglich begann die alte Dame zu lächeln. Sie winkte das Mädchen zu sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ja, sagte das Mädchen, das stimmt, ich kann gut hören, ich glaube, ich kann auch Fledermäuse hören, wenn sie bei uns im Garten herumfliegen. Die alte Dame flüsterte etwas Weiteres in das Ohr des Mädchens, sofort stand das Mädchen auf und schob den Rollstuhl der alten Dame auf den Flur hinaus. Im Flur vor einem Fenster hockte eine weitere alte Dame in einem Rollstuhl, sie schien zu schlafen. Schnee fiel vor dem Fenster, dichte, große und runde Flocken. Bald saßen nun zwei alte Damen Seite an Seite in ihren Stühlen. Und das Mädchen ging vor den Damen in die Hocke. Sie weckte die schlafende alte Dame und sagte mit ihrer hellen Stimme: Du, du wolltest heute Morgen meiner Tante etwas erzählen. Ich bin jetzt ganz Ohr! — stop
Aus der Wörtersammlung: gehör
15 Uhr 14
romeo : 15.14 UTC — Seit einer halben Stunde das Wort Jenniferfive in meinem Gehör, warum? — stop
löffel
echo : 22.38 UTC — Etwas merkwürdiges ist geschehen. Ich beobachtete, wie sich eine künstliche Intelligenz (sie wird soeben in diesen Monaten entwickelt, in dem man über sie forscht, als existierte sie in Gedanken schon lange Zeit) mit Wörterbüchern der digitalen Welt in Verbindung setzte. Im Arbeitsspeicher des Zeichenwesens waren plötzlich unter anatomischen Bezeichnungen wissenschaftlicher Art, Begriffe unserer menschlichen Umgangssprache zu bemerken, Körperwörter, beispielsweise, sind nun für das Atoll der Ohren folgende verzeichnet: Trommelfell Ohr Lauschlappen Hörorgan Ohrwaschl Gehör Lauscher Löffel. Für das Atoll der Augen: Pupille Sehloch Glubscher Oculus Auge Sehorgan Sehwerkzeug Gucker. Großartige Sache. — stop
add on
echo : 20.18 UTC — Immer wieder die Vorstellung eines menschlichen Lebewesens, das Jahre in seinem persönlichen Code nach Informationen sucht, die nicht zu ihm selbst gehören, Add-ons, die Literatur sind. Sagen wir: „Je seltener ich spreche, desto genauer denke, höre, sehe ich.“ — stop
von zeichenfühlern
delta : 7.16 UTC — Ich träumte einen Mann, der in einer staubigen Stadt auf einem Schemel vor einer Schreibmaschine hockte. Der Mann schien zu warten, mit geschlossenen Augen oder schlief. Sobald sich jemand näherte und sich vor den Mann hin auf einen weiteren Schemel setzte, hob der Mann die Schreibmaschine vom Boden auf und setze sie auf seinen Oberschenkel ab, dann lauschte er. Nach wenigen Sekunden hob er eine Hand, um eine Sprechpause zu bewirken. Es war eine mächtige Geste, die Vögel hörten auf zu singen, und der Wind und die Automobile schwiegen. In dieser Stille, die ihm persönlich zu gehören schien, begann er unverzüglich die Tasten seiner Schreibmaschine mit winzigen, runden Papieren zu bekleben, zeichnete sodann mit roter Farbe Zeichen auf die Papiere, um kurz darauf mit einer zarten Handbewegung, den vor ihm Wartenden zu ermuntern, weiterzusprechen. Vorsichtig tippte er nun Zeichen um Zeichen in die Tasten, sie waren von zahllosen Papieren derart erhöht, dass sie wie Fühler eines Schreibmaschinentieres wirkten, die mit jeder Berührung einer der Tasten federnd sich hin und her und auf und ab bewegten. — stop
sarajevo
charlie : 17.15 UTC — Ich erinnere mich an einen jungen Mann, mit dem ich einmal vor sechs Jahren eine seltsame Geschichte erlebte. Wenn sie mir damals jemand anderes als ich selbst erzählt haben würde, hätte ich sie vielleicht nicht geglaubt. Die Geschichte beginnt damit, dass ich in einem Café sitze und auf einen jungen Mann warte, der mir etwas erzählen will. Ich bin frühzeitig gekommen, bestelle einen Cappuccino und schalte mein kleines Handkino an, beobachte eine Dokumentation der Arbeit Maceo Parkers in New York, mitreißende Musik, gerade eben umarmt die Sängerin Kym Mazelle den Posaunisten Fred Wesley, als der junge Mann, den ich erwartete, plötzlich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den kleinen Bildschirm. Sofort kommen wir ins Gespräch. Ich frage ihn, welche Musik er gehört habe, als Kind in der belagerten Stadt Sarajevo. Jedenfalls nicht solche Musik, antwortet er, und lacht, no Funk, wir hatten keinen Strom. Avi ist heute Anfang dreißig, und dass er noch lebt, ist ein Wunder. Tatsächlich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sarajevo erzählt. Einmal fragte ich ihn, was er empfunden habe, als er von Radovan Karadžićs Verhaftung hörte. Anstatt zu antworten, perlte in Sekundenschnelle Schweiß von Avis Stirn. Heute beginnt er schon zu schwitzen, ehe er überhaupt zu erzählen beginnt, weil er weiß, dass er gleich wieder berichten wird von den Straßen seiner Heimatstadt, die nicht mehr passierbar waren, weil Scharfschützen sie ins Visier genommen hatten. Man schleuderte Papiere, Zigaretten, Brote, Wasserflaschen in Körben von einer Seite der Straße zu anderen. Diese Körbe wurden nicht beschossen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er nicht verstehen konnte, was mit ihm und um ihn herum geschah, auch dass ein Holzsplitter sein linkes Auge so schwer verletzte, dass er jetzt ein Glasauge tragen muss, das so gut gestaltet ist, dass man schon genau hinsehen muss, um sein künstliches Wesen zu erkennen. Er sagt, er könnte, wenn ich möchte, das Auge für mich herausnehmen. Aber das will ich nicht. Ich erzähle ihm, dass ich damals, als er klein gewesen war, jeden Abend Bilder aus Sarajevo im Fernsehen beobachtet habe. Was das für Bilder gewesen seien, will Avi wissen. Ich sage: Das waren Bilder, die rennende Menschen zeigten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fernsehen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und überall passierte. Und diese Geräusche. Plötzlich nimmt der junge Mann mein kleines Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopfhörer in seine Ohren ein, hört Maceo Parker, Kim Macelle, Fred Wesley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhythmus der Musik mit dem Kopf. Ein Wispern. — stop
ai : ÄGYPTEN
Amnesty International / MENSCH IN GEFAHR: „Am 22. September 2019 gegen 19 Uhr nahmen Angehörige der Sicherheitsbehörden in Zivil die bekannte Menschenrechtsanwältin Mahienour el-Masry fest, als sie das Gebäude der Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit in Alexandria verließ. Sie brachten sie in einem Kleintransporter an einen unbekannten Ort. Kurz zuvor, am 20. und 21. September, waren in mehreren ägyptischen Städten regierungskritische Proteste ausgebrochen. Die Anwältin wollte sich bei der Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit über den Stand der Ermittlungen gegen die bei den Protesten Festgenommenen erkundigen, die den Rücktritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi gefordert hatten. Am 23. September befragte ein Staatsanwalt Mahienour el-Masry und entschied, sie während der Ermittlungen im Fall 488 von 2019 für 15 Tage im Frauengefängnis Al Qanater zu inhaftieren. Bei diesem Fall geht es um die regierungskritischen Demonstrationen vom März 2019. Ihr wird „Zusammenarbeit mit einer Terrorvereinigung zur Erlangung ihrer Ziele“, die „Verbreitung falscher Nachrichten“ und „Nutzung der Sozialen Medien zur Veröffentlichung von Falschmeldungen“ vorgeworfen. / Mahienour el-Masrys Inhaftierung ist Teil des bislang härtesten Vorgehens gegen Andersdenkende in der Amtszeit von Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Bei den Protesten am 20. und 21. September 2019, auf denen der Rücktritt des Präsidenten gefordert wurde, wurden mehr als 2.300 Menschen festgenommen./ Amnesty International ist der Ansicht, dass Mahienour el-Masry eine Menschenrechtsverteidigerin und gewaltlose politische Gefangene ist, die sich nur deshalb in Haft befindet, weil sie friedlich ihrer Arbeit nachgegangen ist, die darin besteht, Betroffene von Menschenrechtsverletzungen zu verteidigen.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 21.11.2019 unter > ai : urgent action
lebenszeichen
india : 11.28 UTC — Da sind Thermometerwerkzeuge, 5 + 1, zur Messung der Temperaturen eines Zimmers. Und flackerndes Regenlicht, das von den Fenstern her kommt. Ein Computerbildschirm, in dem sich der Computer selbst befindet, zuletzt vor fünf Jahren angeschaltet. Auf dem Schreibtisch ruhen anatomische Bücher, gedruckt in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bitterer Duft steigt auf, sobald sie geöffnet sind. Das Handbuch eines Opel-Rekord und eine Blechdose, drin sind Liebesbriefe: Meine Liebste, wie ich mich nach Dir sehne! Eine Zigarrenschachtel weiterhin voller Briefmarken des Deutschen Reiches, die der Junge noch sammelte. Ein Kinderbuch: Zwei Pinguine winken. Ein Gerät, das den Strom zu vermessen vermag, haardünner Zeiger. Eine Karte der Stadt Lissabon und Fahrkarten einer Straßenbahn, die in Lissabon noch immer anzutreffen ist. Zwei Menschen waren dort, die Lissabon liebten. Dem Jungen, der Lissabon später einmal lieben sollte, gehörten zwei Schulbücher, er wird später ein Doktor der Physik und ein Verehrer Andrei Sacharows. Sein Vater war Arzt gewesen, deshalb auch Skalpelle auf rotem Samt und eine Schachtel, in welcher sich Objektträger befinden. Dort Spuren, die gelblich schimmern. Und Dioden und Widerstände und Rechenkerne auf Platinen geschraubt. Auch Luftpostbriefe, die ein junger Student an sich selbst oder seine Geliebte notierte, da waren sie noch nicht nach Lissabon gereist, prächtige Marken und Stempel und Sonderwertzeichen der Ballonpost zu einer Zeit, als Expressbriefe noch durch Eilboten zugestellt worden waren. Eine Filmdose und noch eine Filmdose, die man nicht wagt im Regenlicht zu öffnen. Auf einem Dia ist sehr klein eine junge Frau zu erkennen, die vor dem World Trade Center in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Sohnes sofort bekannt. In einer Kladde verschnürt, Blätter eines Herbariums: Schlüsselblume von Bleistiftbeschriftung umgeben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funkantennen wie Fühler eines Insektes ohne Strom. Eine Postkarte ist da noch und immer noch Regen draußen vor den Fenstern. Auf der Postkarte steht in großen Buchstaben rot umrandet vermerkt: Lebenszeichen von L.K. aus der Braubachstraße / 8. II. 44: Meine Lieben! Wir sind gesund und unbeschädigt. Marie & Familie. — stop
am nachmittag
foxtrott : 16.22 UTC — Im Park hörte ich ein Geräusch, das mich an einen Trompetenstoß erinnerte. Das Geräusch wiederholte sich, war mal lauter, dann wieder leiser zu hören, vielleicht weil es vom Wind davongetragen wurde. Wenig später trat ein Cello aus dem Unterholz. Das Cello spazierte auf zwei Beinen in Richtung des Geräusches, das ich als Trompetengeräusch identifizierte. Bald war es jenseits des Weges unter den Schattenschirm einer Kastanie getreten, wo es stoppte. Das Instrument, dessen Holz leuchtete, schien zu warten. Als ich nun weiter spazierte, begegneten mir ein Becken, das sich auf acht kurzen Beinen fortbewegte, die sich sowohl vorwärts als auch kreisend bewegten, nur Minuten später eine Oboe, die in einer horizontalen Haltung marschierte. Der Wind, der in ihr Mundstück drang, erzeugte leise hupende Klänge, ganz wundervoll. Als Becken, Oboe und Cello sich unter der Kastanie vereinigten, sendeten sie gemeinsam seltsame Frequenzen über die Wiese, die sich westwärts zur Stadt hin erstreckte. Dann Stille, dann von Neuem eine Wiederholung des bereits Gehörten, und wieder Stille. Man wartete nebeneinander stehend wie an einer Bushaltestelle, man wartete gemeinsam, worauf auch immer. — stop
regen
zoulou : 18.07 UTC — Ein Freund erzählte von einer Rede, die er an einem späten Sommerabend auf einem Anrufbeantworter vorfand, als er nach Hause gekommen war. Diese kleine liebevolle Rede war von seiner sterbenskranken Frau kurz vor ihrem Tod im Hospital für ihren geliebten Mann gesprochen worden, während er gerade auf dem Fahrrad von ihr zurück nach Hause fuhr. Es hatte geregnet. Er saß in der Küche im letzten Licht des Tages. Er erzählte, er habe lange Zeit geweint, sich die Rede immer wieder angehört, dann beschlossen, die Stimme seiner geliebten Frau mittels eines Tonbandes aufzunehmen. Irgendetwas muss kurz darauf geschehen sein, wovon er nicht berichten wollte. — stop