delta : 6.16 — Irgendwann einmal muss ich davon gehört haben, dass es in Amerika möglich ist, Gewehre für Kinder zu kaufen. Diese Gewehre sind ihrer Gestalt nach den Gewehren der Erwachsenen äußerst ähnlich, aber sie sind kleiner und bonbonfarben und vermutlich auch leichter. Das Seltsame ist, dass diese Kindergewehre ebenso wirkungsvoll sind, wie die Gewehre der Erwachsenen. Wenn ein Kind mit einem Kindergewehr einen Schuss auf ein anderes Kind abfeuern will, zum Beispiel auf dessen Kopf, oder versehentlich ein Schuss sich lösen sollte, wird das schießende Kind bemerken, dass das beschossene Kind zu Boden fällt und heftig blutet, vermutlich aus einem Loch, das sehr plötzlich in seiner Schädeldecke entstanden ist. Es liegt dann bebend einfach so da auf dem Teppich eines Zimmers oder im Garten unter einer blühenden Magnolie oder auf einer Straße, die von weinroten Blättern bedeckt ist, weil der tödliche Schuss zur Herbstzeit abgefeuert wurde. Verwundert, vielleicht schon weinend, wird das Kind, das die Folgen des Schusses betrachtete, in die Küche oder ins Schlafzimmer stürmen, wo die Mutter einerseits schläft oder andererseits gerade das Mittagessen zubereitet. Vielleicht hat die Mutter den Schuss selbst gehört und kommt ihrem bitteren Kind entgegen, beide haben ihre Augen weit geöffnet. Das Kind, das an den Bauch der Mutter stürmt, will vermutlich getröstet werden, es ist ja noch nicht einmal zehn Jahre alt, es braucht diesen Trost sehr sicher, weil das andere Kind nicht wieder aufstehen will, weil das gefallene Kind in einer Weise blutet, die nicht üblich ist. Wie dann die Mutter ihrem weinenden Kind folgen wird, wie beide den Ort des Geschehens erreichen, wie die Mutter zu Boden sinkt, wie sie weint und klagt, wie sie mit zitternden Händen den schwer versehrten Leichenkörper betastet, wie sie den Himmel anruft, wie sie selbst kaum noch atmet, hinter ihr stehend das überlebende Kind, das die geliebte Mutter beobachtet. Wie es jetzt zögernd näher kommt, ganz leise, weil es um Himmelswillen die Reparaturarbeiten der Mutter nicht stören will. – stop
Aus der Wörtersammlung: geliebte
postkarte nach brooklyn
india : 0.58 — Eine Postkarte. Auf ihrer Vorderseite war ein blühendes Mohnblumenfeld zu sehen, auf ihrer Rückseite wurde in englischer Sprache handschriftlich notiert. Abgeschickt wurde das Dokument aus einer nördlichen Gegend Europas in Richtung Brooklyn, New York. Ein Mann schrieb Folgendes an eine Frau namens Mary, ich übersetzte: Meine geliebte Mary, wir fahren seit einer Woche über das Land, das rot ist vom Mohn. Ich denke an Dich, während ich in die Pedale trete. Du bist nah, meine Liebste. Wir haben immer Gegenwind, weil wir in die falsche Richtung fahren. Abends und auch am Tag trinken wir Wein, weil wir hier trinken können, wie wir wollen, ohne uns verstecken zu müssen. Manchmal glaube ich darum, dass Du wirklich da bist und dann muss ich sofort vor Schreck langsamer fahren und am besten absteigen und mich nach Dir umsehen. Es ist wundervoll, in einem Mohnfeld zu liegen. Ich werde meine Postkarte an Dich heute Abend heimlich aufgeben. Vielleicht wird sie eine Überraschung werden für Dich. Dein Martin — stop
luftzungen
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : LUFTZUNGEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Was für ein stürmischer Morgen hier bei uns in Mitteleuropa. Wetter, wie ich es mir wünsche in diesen Tagen. Eiskörner pfeifen durch die Luft, Wolkendämmerung. Ich vermute, Ihr werdet bemerkt haben, mein Vater ist gestorben. Drei Stunden war ich noch an seinem Bett gewesen, habe von Bildern eines nahen Sees berichtet, den ich vom Zimmer des Hospitals aus sehen konnte. Ein Schaufelraddampfer fuhr hin und her, der Wind schrieb mit Luftzungen schimmernde Spuren ins Wasser, Möwen segelten über den Uferbäumen. Wie mein Vater gestorben ist, war es noch hell, die Sonne nicht untergegangen, weiß der Himmel, ob er sie zu erkennen vermochte, sein Blick war ein Blick, wie ich meinte, der schon nach innen sich richtete. Wenn ich Euch sage, es ist nicht wirklich begreifbar, nicht wirklich fühlbar, dass ein geliebter Mensch nie wieder neben uns am Tisch sitzen wird, werdet Ihr vielleicht verstehen, wovon ich spreche. Dieses Niewieder macht einen Eindruck von Unwirklichkeit, von Unwirksamkeit, als würde man versuchen, eine Trompete vom Schallbecher her zu bespielen. Und doch, nach und nach werde ich ruhiger, ich schlafe tief, träume seltsame Geschichten. Ja, so ist das, liebe Daisy, liebe Violet. Was machen die Simmons? Ist alles o. k.? Ahoi – Euer Louis — stop
gesendet am
22.04.2012
7.05 MEZ
1212 zeichen
ein unglück
echo : 0.15 — Von einem Unglück habe ich erfahren. Ein alter Mann ist gestürzt. Es war später Abend. Der alte Mann wollte seine Frau in den Arm nehmen, um sich zu bedanken, weil sie beide einen glücklichen Tag gemeinsam verbrachten. Sie waren spazieren im Englischen Garten und kurz darauf in einem Kino gewesen, und essen und dann, nach vielen Stunden wieder zu Hause, umarmte der alte Mann seine geliebte Frau, um kurz darauf das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt liegt er, so hörte ich, in einem Hospital in einem Bett. Es ist die Nacht nach dem Tag nach dem Abend des Unglücks. Und dass sie froh seien, dass sie so gut versorgt würden, dass sie nicht erleben müssten, was verletzten Menschen in der Stadt Homs widerfährt. Und doch ist ein großes Unglück geschehen, Sorge und Angst sind zurück. Ich hörte eine leise, sehr traurige Stimme: Wir werden uns in Zukunft im Sitzen umarmen. — stop
auf einmal
apha : 15.18 — Letzte Bilder, ich stellte mir letzte Bilder vor eines Lebensfilms, Bilder ohne im Diesseits noch formulierbare Gedanken. Eine Fliege an einer Hospitaldecke vielleicht, die Iris eines Geliebten, schon von Trauer durchkammert. Zwielicht. Oder doch nur ein Geräusch. Weder hell noch dunkel. Eine Tür, die sich öffnet. Ein Atemzugwind. Flüstern. Schnee. — stop
luftzeitpumpen
~ : louis
to : Mr. eliot
subject : LUFTZEITPUMPEN
Mein lieber Eliot! Ich habe mir heute gedacht, man müsste Beizeiten einmal mit einer höheren Instanz darüber verhandeln, ob nicht Lebenszeit durch Lesezeit verlängert werden könnte. — Wollte Dir schon lange schreiben. Ich nehme an, Du wirst vor Monaten zunächst Dein Warten, dann meinen Namen vergessen haben. Oder war es etwa umgekehrt gewesen? Nun, hier bin ich wieder, Dein Louis, jener Louis, der in seiner Vorstellung Luftzeitpumpen versuchte. Um Himmelswillen, ich werde doch nicht ganz und gar verloren sein, ein seltsamer Gedanke, dass ich meiner Arbeit nachgegangen sein könnte, ohne bemerkt zu haben, dass meine Existenz in Deinem Leben endete, ein ferner Tod, mein eigener. Sammelst Du weiterhin Herzen Deiner Rechenmaschinen? Wie geht’s Deiner Geliebten? Was macht das Chromosom No 1, hast Du’s bald ausgedruckt? — Zwergseerosen segeln durch die Luft. Antworte rasch! Dein Louis
gespräch
india : 4.18 — Wie in die Leere, die ein geliebter Mensch im Leben hinterlässt, nach und nach tröstend erzählte Geschichten fließen, feinstes Gewebe, Licht und Schatten, eine Stimme aus den Stimmen, Land. — stop
morsen
echo : 0.25 — Gestern, am späten Abend, eine erste Zeile in meinen Bogen lebenden Papiers eingetragen, einen Satz, den Walter Benjamin vor langer Zeit einmal unter dem Begriff Kaktusblüte verzeichnete. Dieser Satz geht so: Der wahre Liebende freut sich, wenn der geliebte Mensch streitend im Unrecht ist. — Zärtlich, ohne zu atmen, arbeitete ich Zeichen für Zeichen voran. Und als ich fertig geworden war mit einem schließenden Punkt, lehnte ich mich zurück und wartete. Ich wartete lange. Ich wartete so lange, bis ich eingeschlafen war. Dann wachte ich auf und staunte. Sicher ist nun, dass sich Papiertierchen mittels einer Sprache verständigen, die morsenden Zeichen ähnlich ist. Sie verfügen demzufolge über Ohren und ihre Stimmen sind hell, sind Fledermäusen, Walen und Delfinen nur vernehmbar. — stop
vom verschwinden
delta : 0.15 — Einmal, an einem Spätsommernachmittag, erzählte mir eine ältere Frau von einer seltsamen Erfahrung, die sie gemacht hatte, nachdem ihre Schwester unerwartet gestorben war. Zwei Jahre lag dieser schwere Verlust damals zurück. Die Schwester hatte sich kurz nach ihrem Tod, auf eigenen Wunsch hin, in ein anatomisches Präparat verwandelt. Ich erinnere mich an den wilden Blick der Frau, an ihre zierliche Gestalt, wie sie vor mir steht und vom Trauern und vom Warten berichtet, das heißt, genauer, davon berichtet, dass sie um ihre Schwester bisher nicht trauern konnte, so wie sie sich das Trauern gewünscht hatte, weil der Körper ihrer Schwester gegenwärtig, noch in dieser Welt gewesen sei. Manchmal habe sie daran gedacht, ihre geliebte Schwester zu besuchen, sie noch einmal zu berühren. Wir standen vor einer Kirche. Um uns herum fröhliche, von Last und Anforderung befreite Studenten. Sie hatten ihren anatomischen Präparierkurs an diesem Tag abgeschlossen, und den Menschen, die ihre Körper spendeten, betend gedankt. Auch die alte Frau schien nun leichter geworden zu sein, entschlossen. — Wie sie sagt, sie könne ihre Schwester jetzt endlich beerdigen. — Und wie sie kurz darauf durch die Menge junger Menschen verschwindet, ein Wölkchen schlohweißen Haares. — stop
coney island
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : CONEY ISLAND
Mein lieber Kekkola, das müssen Sie wissen, ich bin glücklich, fühle mich leicht, alle Sorgen der vergangenen Wochen sind von mir gefallen, ein Mensch, der mir nahe ist, wird weiterleben. Wie schweren Zeiten, leichtere Zeiten folgen! Nun wieder angenehmes Arbeiten. Bin zu atlantischen Phänomenen zurückgekehrt, das Hörvermögen der Tiefseeelefanten, natürlich, eine unendliche Geschichte. Habe darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, dass Tiefseeelefanten über kleine, kaum noch sichtbare Ohren verfügen, die an ihren Rüsselspitzen gewachsen sind über Jahrmillionen ihres heimlichen Lebens hinweg, um hören zu können, was man spricht in der Trompetensprache jenseits des Wassers. So könnte ich weiterkommen in dieser Angelegenheit. Es ist nun beinahe sicher, dass ihre Herden bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vor Coney Island im Staate New York wahrgenommen worden sind. Ein Herr schrieb mir von Hand, seine geliebte Rose habe ihm, während eines Ausfluges an den Strand, von Erscheinungen erzählt, die alle unsere Vermutungen bestätigen. Ich füge, lieber Kekkola, meinem Brief eine Fotografie hinzu, die an genau jenem Tag der Beobachtung aufgenommen worden sein soll. Sieht sie nicht hinreißend unsterblich aus, Mrs. Rose, wie sie so sitzt und sich über das Tiefseeleuchten ihres Kopfes zu freuen scheint? – Ihr Louis, ihr Vogel.
gesendet am
14.11.2009
22.58 MESZ
1668 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »