Aus der Wörtersammlung: gramm

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von stäbchen von rädchen

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del­ta : 6.12 — Im Traum hat­te ich an einer Appa­ra­tur gear­bei­tet, mit deren Hil­fe ich bald in der Lage sein wer­de, hand­schrift­li­che Noti­zen der­art zu ver­klei­nern, dass ich Papie­re von der Grö­ße einer Brief­mar­ke beschrei­ben könn­te, sagen wir, eine Erzäh­lung von 85 Sei­ten à 1800 Zei­chen auf einer Luft­post­mar­ke Finn­lands zu 80 Cent. Ich könn­te in die­ser Arbeit der Ver­klei­ne­rung oder Ver­dich­tung auf eine Lupe ver­zich­ten, wür­de auf übli­chen Papie­ren notie­ren, wäh­rend mit­tels mecha­ni­scher Über­tra­gung, fast geräusch­los von hun­der­ten Stäb­chen zu hun­der­ten Räd­chen, Zei­chen für Zei­chen in mikro­sko­pi­sche Dimen­sio­nen tran­skri­biert wer­den wür­de. Eine Biblio­thek könn­te in weni­gen Jah­ren mit mir in einem Brief­mar­ken­al­bum rei­sen, eine Biblio­thek, deren Mikro­gramm­bü­cher selbst­ver­ständ­lich nicht les­bar wären, ohne sie unter ein Mikro­skop zu legen, eine Biblio­thek jedoch, die mich glück­lich stim­men wür­de, ich wüss­te, dass sie exis­tiert und mit ihr die Mög­lich­keit des Lesens all der ver­steck­ten Geschich­ten, die im Moment des erin­nern­den Gedan­kens, schon wie­der so groß gewor­den sind, wie sie immer waren. — stop
ping

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kollibry

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echo : 5.55 — Im ver­gan­ge­nen Novem­ber ver­leg­te ich eine Nach­richt, die mir per E‑Mail zuge­stellt wor­den war. Ver­mut­lich hat­te ich ihre Exis­tenz bereits nach weni­gen Stun­den ver­ges­sen, sodass ihr Sen­der ver­geb­lich auf eine Ant­wort war­te­te. Heu­te Nacht habe ich sie glück­li­cher­wei­se wie­der ent­deckt. Es war damals etwas Bedeu­ten­des gesche­hen. L. hat­te ein Note­book geschenkt bekom­men, das ers­te Note­book sei­nes Lebens. Es war kein neu­es, es war ein gebrauch­tes Gerät, aber noch in einem guten Zustand, kaum ein Krat­zer am sil­ber­grau­en Gehäu­se, sei­ne Tas­ten funk­tio­nier­ten tadel­los, und die Pro­gram­me des Betriebs­sys­tems waren her­vor­ra­gend sor­tiert. Ein erns­tes Pro­blem stell­te aller­dings eine Buch­sta­ben­ma­schi­ne dar, prä­zi­se die Kor­rek­tur­rou­ti­ne eines Text­ver­ar­bei­tungs­pro­gramms, wel­ches vom Vor­be­sit­zer des Note­books jah­re­lang inten­siv ver­wen­det wor­den sein muss­te. Das klei­ne Zusatz­pro­gramm konn­te nicht aus­ge­schalt wer­den, was ange­nehm gewe­sen wäre. Zahl­rei­che feh­ler­haf­te Wör­ter waren in sei­ne tie­fen Spei­cher gewan­dert, und so web­te das Pro­gramm, wäh­rend L. mit sei­ner Hil­fe notier­te, Vor­schlä­ge in gera­de eben ent­ste­hen­de Tex­te, bei­spiels­wei­se anstatt des Wor­tes Koli­bri das Wort Kol­li­bry, was schließ­lich zu äußerst erstaun­li­chen Befun­den führ­te. L. glaub­te bald, sehr ernst­haft krank gewor­den zu sein. Er bat mich um Unter­stüt­zung, er wol­le den Spei­cher der Wort­miss­bil­dun­gen unver­züg­lich aus­ra­die­ren. – Es ist kurz vor drei Uhr. Ver­mut­lich kom­me ich mit mei­nen Hin­wei­sen viel zu spät, das ist denk­bar, sogar wahr­schein­lich, dass ich viel zu spät sein wer­de. Machen wir uns trotz­dem sofort auf die Suche nach einer Lösung. Gewit­ter­stim­mung vor den Fens­tern, Flie­gen, Blit­ze, aber kein Don­ner, viel­leicht eine Art Wet­ter­leuch­ten, gran­dio­se, aus dem Him­mel stür­zen­de Bäu­me von Licht. – stop

polaroidglobus

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ameisengesellschaft LN — 1722

picping

MELDUNG. Amei­sen­ge­sell­schaft LN — 1722 [ Stöp­sel­kopf­amei­se : Colo­b­op­sis trun­ca­tus ] Posi­ti­on 47°81’N 12°48’O nahe Über­see / Fol­gen­de Objek­te wur­den von 16.00 — 18.02 Uhr MESZ über das süd­öst­li­che Wen­del­por­tal ins Waren­haus ein­ge­führt : ein­hun­dert­sie­ben­und­zwan­zig tro­cke­ne Flie­gen­tor­si gerin­ger Grö­ße [ meist ohne Kopf ], zwölf Baum­stäm­me [ à 8 Gramm ], sechs Rau­pen in Grün, sechs Rau­pen in Oran­ge, drei­und­sieb­zig Insek­ten­flü­gel [ ver­mut­lich der Gat­tung der Bir­ken­span­ner ], fünf Streich­holz­köp­fe [ à ca. 1.7 Gramm ], zwei­und­zwan­zig schwarz­bäu­chi­ge Tau­flie­gen der Dro­so­phi­la mela­no­gas­ter in vol­lem Saft, son­nen­ge­trock­ne­te Rosen­blät­ter [ ca. 122 Gramm aus ver­gan­ge­nem Jahr ], sechs Schne­cken­häu­ser [ je ohne Schne­cke ], drei­und­dreis­sig gelähm­te Schne­cken [ je ohne Haus ], 5 Amei­sen anlie­gen­der Staa­ten [ betäubt oder tran­chiert ], acht ova­le Zwerg­kä­fer [ ver­gol­det ], drei Aas­ku­geln eines Pil­len­dre­hers, wenig spä­ter der Pil­len­dre­her selbst, sechs Wild­bie­nen, zwei Eis­son­nen­schirm­chen [ in rot und blau ] je 5.008 Gramm. — stop

polaroidsubway

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tucholsky : dos passos

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echo : 5.32 — Um kurz nach vier Uhr ent­de­cke ich das Patent eines Büro­stuhls, der sich mit Strom ver­sor­gen lässt, um Schla­fen­de durch leich­te oder mit­tel­schwe­re elek­tri­sche Schlä­ge zu wecken. Kurz dar­auf, schon hell, ein Text Kurt Tuchol­skys aus dem Jahr 1928. Ich zitie­re: John Dos Pas­sos, ›Man­hat­tan Trans­fer‹ Da ist ›Man­hat­tan Trans­fer‹ von John Dos Pas­sos (bei S. Fischer in Ber­lin). Die­ser hal­be Ame­ri­ka­ner, des­sen ›Drei Sol­da­ten‹ (im Malik-Ver­lag) gar nicht genug zu emp­feh­len sind, hat da etwas Gutes gemacht. Ich den­ke, dass die Mode der ame­ri­ka­ni­schen Roma­ne, die uns die Ver­le­ger und die Snobs durch Über­maß sacht zu ver­ekeln begin­nen, nach­ge­las­sen hat – und das ist auch gut so. Nicht etwa, weil ner­vö­se und wenig erfolg­rei­che Reak­tio­nä­re der Lite­ra­tur, zum Bei­spiel in den ›Münch­ner Neu­es­ten Nach­rich­ten‹, gegen die Über­set­zun­gen aus dem Fremd­län­di­schen pol­tern –, son­dern weil es zwi­schen der Hys­te­rie der Anbe­tung und der Neur­asthe­nie der Ver­dam­mung ein ver­nünf­ti­ges Mit­tel­maß gibt. Man soll frem­de Län­der ken­nen­ler­nen – man soll sie nicht sofort seg­nen und nicht gleich ver­flu­chen. ›Man­hat­tan Trans­fer‹ ist ein gutes Buch – die Ame­ri­ka­ner haben sich da einen neu­en Natu­ra­lis­mus zurecht­ge­macht, der zu jung ist, um an den alten fran­zö­si­schen her­an­zu­rei­chen, aber doch fes­selnd genug. Es sind Foto­gra­fien, nein, eigent­lich gute klei­ne Radie­run­gen, die uns da gezeigt wer­den; ob sie echt sind, kann ich nicht beur­tei­len, die Leu­te, die lan­ge genug drü­ben gelebt haben, sagen Ja. Es ist die Lyrik der Groß­stadt dar­in, eine männ­li­che Lyrik. Der Ein­sa­me auf der Bank: »Fein hast du dein Leben ver­saut, Josef Har­ley. Fünf­und­vier­zig und kei­ne Freu­de und kei­nen Cent, um dir güt­lich zu tun.« Das hat ein­mal so gehie­ßen: »Qu’as tu fait de ta jeu­nesse?«, und das ist von Ver­lai­ne und ist schon lan­ge her, aber doch neu wie am ers­ten Tag. Das Mäd­chen da liegt auf ihrem Zim­mer in der gro­ßen Stadt, schwimmt in der Zeit und ist so allein. Sehr schön, wie ein Mann auf der Bett­kan­te sitzt, und da ist eine Frau, sei­ne Frau, und ein Kind, sein Kind – und plötz­lich sieht er, dass er »hage­re röt­li­che Füße hat, von Trep­pen und Trot­toirs ver­krümmt. Auf bei­den klei­nen Zehen saß ein Hüh­ner­au­ge.« Und da hat er Mit­leid mit sich und weint. Das Buch ist auch for­mal gut – Dos Pas­sos ist nicht nur ein Dich­ter, son­dern auch ein begab­ter Schrift­stel­ler. Sehr hübsch ist die­se Denk­fi­gur, der man öfter bei ihm begeg­net: »Auf dem Trep­pen­ab­satz befand sich ein Spie­gel. Kapi­tän James Meri­va­le blieb ste­hen, um Kapi­tän James Meri­va­le zu betrach­ten.« Und die­se, die gra­de­zu pro­gram­ma­tisch ist und viel tie­fer als sie, leicht­ge­fügt, wie sie ist, zu sein scheint: »Nichts hat so viel Erfolg wie der Erfolg.« Eine ähn­li­che Dreh­tür des Stils steht bei Sin­clair Lewis, im ›Elmer Gan­try‹, einem Buch von dem hier noch aus­führ­lich die Rede sein soll … Ein ein­zi­ger Klub, heißt es da, wird Herrn Gan­try, den Pre­di­ger, viel­leicht auf­neh­men. »Des Anse­hens wegen. Um zu bewei­sen, dass sie unmög­lich den Gin in ihren Schrän­ken haben kön­nen, den sie in ihren Schrän­ken haben.« Die Über­set­zung von ›Man­hat­tan Trans­fer‹ durch Paul Bau­disch ist sau­ber und anstän­dig. Klei­ne Anmer­kung: Man sagt im Deut­schen kaum: »Das macht mich zipf­lig« –, son­dern wohl immer: »Das macht mich kribb­lig«. Und was ist dies hier? »Dü Mau­re­ta­nia läuft öben eun; vür­und­zwan­zig Stun­den Ver­spö­tung« – Spricht eine alte gezier­te Dame so? ein Ober­hof­pre­di­ger? Nein, das ist die Über­set­zung irgend­ei­nes ›slang‹, und die Män­ner, die sich mit Über­tra­gun­gen aus dem Eng­li­schen befas­sen, soll­ten sich das abma­chen. — Der Mor­gen kommt. Tau­ben sit­zen auf dem Fens­ter­brett. Sie haben tief geschla­fen. — stop
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quallenhautkoffer

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ulys­ses : 3.25 — Ein blau­er ita­lie­ni­scher Him­mel und Wär­me, Hit­ze. Mit­te Mai. Über den Sand­bo­den schau­keln müde Eidech­sen, zwei Enten sit­zen auf einer Park­bank in unse­rer Nähe im Park. Als wir tele­fo­nier­ten, erin­nert sie mich dar­an, dass sie in einer Grenz­si­tua­ti­on lebe. Ich ver­ges­se immer wie­der ihr Alter. Sie sei bald voll­stän­dig belich­tet, rei­se aber noch viel her­um, Kof­fer wer­den ihr getra­gen, mit einem klei­nen Ruck­sack auf dem Rücken, Notiz­bü­chern, einem Note­book. Das Note­book ruht in die­sem Moment auf ihren Knien. Sie sucht in der digi­ta­len Sphä­re einen Text, an den ich mich erin­nern kann. Sie liest mir vor, und ich notie­re vom Qual­len­zim­mer. Sie will das Zim­mer von mei­ner Hand in ihrem Notiz­buch haben. Ich schrei­be lang­sam. Im Notiz­buch fin­den sich zahl­rei­che wei­te­re Hand­schrif­ten, die nicht ihre Hand­schrif­ten sind. Sie scheint Geschich­ten zu sam­meln, oder Augen­bli­cke des Schrei­bens. Ich höre mei­ne eige­ne Geschich­te, eine Ent­de­ckung mei­ner Hän­de, die von einem freund­li­chen, hel­len Raum erzäh­len, einem Zim­mer von feins­ter Qual­len­haut, einem Zim­mer von Was­ser, einem Zim­mer von Salz, einem Zim­mer von Licht. Man könn­te die­ses Zim­mer, und alles, was sich im Zim­mer befin­det, das Qual­len­bett, die Qual­len­uhr, und all die Qual­len­bü­cher und auch die Schreib­ma­schi­nen von Qual­len­haut, trock­nen und fal­ten und sich 10 Gramm schwer in die Hosen­ta­sche ste­cken. Und dann geht man mit dem Zim­mer durch die Stadt spa­zie­ren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaf­fee­haus und war­tet. Man sitzt also ganz still und zufrie­den unter einer Ven­ti­la­tor­ma­schi­ne an einem Tisch, trinkt eine Tas­se Kakao und lächelt und ist gedul­dig und sehr zufrie­den, weil nie­mand weiß, dass man ein Zim­mer in der Hosen­ta­sche mit sich führt, ein Zim­mer, das man jeder­zeit aus­pa­cken und mit etwas Was­ser, Salz und Licht, zur schöns­ten Ent­fal­tung brin­gen könn­te. — stop

polaroidparents

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nachtschläferkapselbaum

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del­ta : 0.02 — Sobald ich das Wort Nacht­schlä­fer­kap­sel­baum notie­re, mel­det mein Text­ver­ar­bei­tungs­pro­gramm, die­ses Wort sei in sei­nen Regis­tern nicht zu fin­den, ein Wort dem­zu­fol­ge, das bis­lang nicht exis­tierte. Tat­säch­lich ist das so, dass ich das Wort Nacht­schlä­fer­kap­sel­baum zunächst im Kopf erfun­den habe, ehe ich das Wort mit­tels der Tas­ta­tur mei­ner Schreib­ma­schi­ne ver­wirk­lich­te. Die Vor­stel­lung eines Bau­mes von enor­mer Grö­ße, an des­sen Ästen Kap­sel­for­men befes­tigt sind, in wel­chen sich Men­schen zur Ruhe legen. Ich über­leg­te Bäu­me, die in der Nähe eines Flug­ha­fens sich erhe­ben, Lei­tern, Sei­le, Wen­del­trep­pen, Blät­ter, Blü­ten­duft, Flüs­sig­keit spen­den­de Röh­ren­lia­nen. Selbst­ver­ständ­lich wur­de vor weni­gen Sekun­den nun bereits zum drit­te Male gemel­det, dass das Wort Nacht­schlä­fer­kap­sel­baum nicht exis­tiert. Wenn ich nun aber das erfun­de­ne, mar­kier­te Wort und damit die unbe­kann­te Welt, die sich mit ihm ver­bin­det, mit mei­ner Mou­se berüh­re, ent­de­cke ich die Mög­lich­keit, das Wort zu ler­nen, also in das Regis­ter des Pro­gramms ein­zu­tra­gen. Es wäre dann so, dass ich nie wie­der an das vor­ge­stell­te Wort erin­nert sein wür­de, solan­ge ich mei­ne eige­ne Schreib­ma­schi­ne ver­wen­de, weil mei­ne Schreib­ma­schi­ne sich über die Exis­tenz der Nacht­schlä­fer­kap­sel­bäu­me nicht wie­der wun­dern wür­de. — Gewit­ter­front von Süd­west. — stop
polaroidella

 



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