ginkgo : 2.25 — Gestern habe ich einen seltsamen Brief von einem Freund erhalten, der sich gerade in Indien befindet. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorne auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. — Es ist jetzt 2 Uhr und 30 Minuten mitteleuropäischer Sommerszeit. John Coltrane LIVE: The Green Dolphin Street. — stop
Aus der Wörtersammlung: luftpostbrief
asmara tigri
lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschichte erzählen wird, scheint müde zu sein. Immer wieder fallen für Sekunden ihre Augen zu. Früher Morgen, Tigri hat die Nacht über gearbeitet. Wir sitzen in einem Schnellzug vom Flughafen in die Stadt. Gerade wollte sie noch wissen, warum ich auf dem Notebook einen Film betrachte, der von einstürzenden Türmen des World Trade Centers berichtet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stunden lang Briefe sortiert, das heißt, Luftpostbriefe für Inseln, die im pazifischen Ozean liegen, weil sie eine Spezialistin für Inseln ist, auch für Inseln atlantischer Gebiete, aber vor allem kenne sie sich aus mit Inseln, die Kiribati heißen oder Tonga oder Palau oder Vanuatu. Sie sagt, dass sie diese Namen lieben würde, dass sie Anfang der 70er Jahre in einem Dorf nahe der eritreischen Hauptstadt Asmara geboren worden sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wieder aufgebaut werden musste, weil an einem Sonntagabend ein MIG-Flugzeug das Dorf zerstört habe und viele ihrer Freunde getötet. Zu diesem Zeitpunkt lebte Tigri bereits in Westdeutschland. Wenn sie den Namen ihres Dorfes ausspricht, bin ich nicht im Stande, das schöne Geräusch in meinem Kopf zu behalten, aber das Wort Asmara kann ich mir merken. Sobald ich das Wort Asmara formuliere, leuchten ihre Augen, also sage ich dreimal Asmara und freue mich über die Wirksamkeit dieses Wortes. Asmara soll eine Stadt hellen Lichtes sein, sage ich, es soll dort immerzu nach Kaffee duften, und Tigri lacht und ich denke, dass das jetzt entweder so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jedenfalls das Helle mag und auch den Kaffeeduft. Man spreche Tigrigna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemerke, dass ihr ganzer Name selbst in diesem Wort enthalten sei. Wieder lacht die junge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bruder, ein Gynäkologe, aus den Diensten eines Krankenhauses entlassen wurde, weil man ihn nicht als das behandeln wollte, was er zu sein wünschte. Mein Bruder, wissen Sie, möchte ein König sein. Nun ist er arbeitslos und König. Er ist natürlich schwarz wie ich, genau so schwarz, und schwarz steht den Königen nur in Afrika. Sie macht eine kurze Pause, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf dieser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im vergangenen Jahr sei ihr Vater gestorben in Eritrea, ein glücklicher Mensch, ein Busfahrer, ein sehr stolzer Herr. Im Oktober des selben Jahres sei schließlich die Mutter mit dem Flugzeug via Rom nach Frankfurt gekommen. Sie habe, ohne das zu wissen, einen Tumor im Kopf mitgebracht, im Februar war sie dann umgefallen und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fenster. Ein heißer, schwüler Morgen. Ob sie den Film ansehen dürfe, will sie wissen.
adresse insuffisante
tango : 3.03 — Luftpostbriefe, feine, leichte Wesen, kehren in diesen Tagen aus Japan nach Europa zurück. Sie tragen einen Stempelzug: Adresse insuffisante. Seltsam ist, erzählt ein Freund, der mehrfach Briefe dieser Art in Händen gehalten hatte, dass Namen, Orte, Straßen der Empfänger, Brief für Brief mittels schräg geführter Striche gezeichnet worden sind. Es sind immer drei dieser Linien parallel zueinander auf das Papier über die Schrift gesetzt, als wollte man in dieser Weise zur Ansicht bringen, dass dort nichts mehr zu finden ist, keine Stadt, kein Dorf, keine Straße, kein Haus, kein Name, auch keine Hände, den Brief zu öffnen, keine Augen, den Brief zu lesen. stop — Vier Uhr fünfzehn, Dämmerung in Damaskus, Syrien. — stop
luftpostbrief
lima : 0.55 — Manchmal sitz ich im Zug und fotografiere mit meinem Kopf. Ich betrachte eine Frau, einen Mann, ein Kind für zwei oder drei Sekunden, und versuche mir bereits in der nächsten Minute ein Lichtbild in Erinnerung zu rufen. Ich denke: blauer Schal, Hände, feine Hände, Augen blau, Augen müde, Augen glücklich, blau und müde, Turnschuhe, gelbe Turnschuhe, Zeitung, was für eine Zeitung, Haarfarbe, Schneehaut, Mund, lächelnder Mund, hörte eine fremde Sprache, was für eine Sprache könnte das gewesen sein? Ich sitze also mit einem Bild in meinem Kopf im Zug und lausche einer Stimme. Das Bild spricht. Das Bild lebt weiter. In jedem Bild, das in einem Zug aufgenommen wird, findet sich Bewegung, jene Stimmbewegung vielleicht, oder bereits die Bewegung der Erfindung. Weshalb waren die Augen müde und ihr Ausdruck glücklich? Eine Liebesgeschichte? Oder wars die Zeitung? Ja, was war das noch für eine Zeitung? Vielleicht ein Irrtum, vielleicht war die Zeitung keine Zeitung, sondern ein Brief gewesen, ein lang erwarteter Brief, ein Brief, liebevoll von Hand geschrieben, ein Luftpostbrief, leicht, sehr leicht, ein Brief, noch kühl vom Flug. stop. Das Geräusch des Papiers. stop. Knisternd. stop. Aufstehen! stop. Den Zug verlassen! stop. Mit geschlossenen Augen! — stop
interview tahrir square februar 2011 kurz vor ausbruch staatlicher gewalt gegen aktivisten/innen auf dem platz source : zero silence project
luftpost
alpha : 23.52 – Einmal lag ein buntes Stück Papier auf meinem Schreibtisch, ein Luftpostbrief. Als ich das Couvert des Briefes genauer betrachtete, das heißt, als ich den Brief so nahe an meine Augen heranführte, dass ich die Stempeleinträge seiner Anschriftenseite entziffern konnte, bemerkte ich, dass der Luftpostbrief bereits vor langer Zeit in Europa aufgegeben und über den Atlantik geflogen worden war. In Santiago de Chile dann angekommen, konnte der Brief nicht zugestellt werden, vermutlich weil die Zeichen, die den Brief beschrifteten, kaum zu entziffern gewesen waren. Nach einigen Wochen Wartezeit, reiste der Brief, nun markiert mit einem Schildchen in blauer, spanischer Farbe: Imposible de entregar! *, über den Atlantik zurück, um sich nur wenige Tage später erneut auf den Weg über das Meer nach Chile zu begeben. Ein weiterer Schriftzug war hinzugekommen, ein feiner, aber großzügiger Stempelaufdruck: -Diese Sendung wurde von einem Blinden geschrieben!- Zwei frische Wertmarken, nichts sonst verändert. Und so machte sich der Brief bald darauf ein viertes Mal auf den Weg über das Meer wieder nach Europa zurück und landete, weiß der Himmel warum, in meiner Nähe, in der Nähe meiner Schreibmaschine. — stop
* Nicht zustellbar
bryant park
sierra : 8.57 — Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafes, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, das ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief vorlesen könne, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte solange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Cafe am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Cafe Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine sehr schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich seh gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden. — stop
memory
olimambo : 3.02 — Vor einer Stunde ungefähr, aus heiterem Himmel, erinnerte ich mich an eine Briefmarke, die sich zu einer Zeit in meinem Besitz befunden hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. Diese Marke, obwohl sehr viele Jahre weit von mir entfernt, war so gegenwärtig von einer Sekunde zur anderen, als hätte ich sie wenige Minuten zuvor einem Sammelalbum entnommen und auf einen Luftpostbrief geklebt. Zu Ehren des Schimpansen Ham, der in den Weltraum gereist war, um dort einige Übungen in der Schwerelosigkeit zu absolvieren, war sie in einer begrenzten Auflage gedruckt geworden. Das Besondere an Ham war ohne Frage seine Menschenähnlichkeit gewesen, auch dass Ham, im Gegensatz zu Leica, einer russischen Hundedame, seinen Ausflug in den Kosmos überlebte. Der kleine Briefmarkenaffe trug einen Helm, genau genommen einen weißen Astronautenhelm, der unglücklicherweise von einem Stempel getroffen worden war. In diesem Moment, da ich notiere, erinnere mich an einen Riss, der mein Briefmarkenalbum bedrohte, weil er mit jeder Besichtigung der Sammlung, knisternd wuchs. Einmal habe ich einem Mädchen, in das ich verliebt gewesen war, mein Album mit Riss gezeigt, eine seltsame Erfahrung, weshalb ich das Sammeln der Briefmarken aufgeben habe und mich den Schallplatten zu widmen begann. Dieses Mädchen, das mich von den Briefmarken entfernte, hieß Patrizia und trug sehr kleine blaue Knöpfe in beiden Ohren, die herrlich funkelten, sobald sie sich bewegte. Ja, sie funkelten damals bis in meine Träume hinein und sie funkeln noch heute oder wieder, während ich hier still in einer kühlen Nacht herumsitze und mich wundere, dass ich an Dinge denke, die ich vor einer Stunde noch nicht wusste.