romeo : 0.02 UTC — Vor einiger Zeit schrieb Nabokov einen Brief. Er habe mir, so Nabokov, eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Wenige Tage später meldete sich Nabokov erneut: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich Dir sendete, angekommen? Wenige Tage zuvor war Nabokovs Uhr in meinem Briefkasten angekommen, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen nun eine Schachtel von hellem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokovs eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, ovales Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt der Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte, das Gehäuse der Uhr zu öffnen, vergeblich. Erstaunlich ist, dass, wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, sich ein schmaler Schacht seitlich öffnet, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist. Sechssiebzehnzwölf. Erstaunliche Sache, wirklich erstaunlich! – stop
Aus der Wörtersammlung: punkt
rose No 2
india : 22.58 UTC — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete einmal ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüßte, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf dem Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in demselben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
st. elena
sierra : 22.12 UTC — Am Bug sitzen bei schwerem Seegang. Das Meerwasser fliegt durchs neblige Licht wie Milch. Menschen, die das Vaporetto betreten, dampfen, dass die Scheiben beschlagen. Eine junge Frau dreht pfeifend einen roten Regenschirm im Wind. Ich denke mir die Geräusche des Regens aus, die unter dem Dröhnen der Vaporettomotoren unhörbar sind. Aber das Quietschen der Gummistiefel. Trug Schwarze oder Gelbe als Kind. Heutzutage existieren sie in allen möglichen Farben. Auch Malerei ist aufgetragen, alte Meister, der Frühling, Punktzeichnungen der Marienkäfer, Muster in allen möglichen Farben. Ein Mann zeigt seiner Geliebten einen fingerlangen Nashornkäfer von Glas, er hält das schimmernde Wesen in die Luft, eine Vorstellung in diesem Moment, da wir uns wieder dem Land nähern, die Vorstellung auch eines Glasbläsers, irgendwo müssen diese wahren Künstler glühenden, schmelzenden Sandes noch heimlich ihre Backen plustern wie Trompetenspieler. Genau dort scheint eine Verbindung zu existieren von der Musik zu den Nashornkäfern, die in Sammlungen weltweit genadelt sitzen. — stop
nazil
marimba : 0.08 UTC – Nazil, die heute 82 Jahre alt wurde, erzählte, wie sie an einem Roman schrieb im Kopf, während sie tagelang durch Kalkutta streifte. Alles habe damit begonnen, sagte sie, dass in einem Reisebüro sich ein Mann plötzlich entfaltete vor Begeisterung, nachdem er gehört hatte, er solle eine Reise nach Kalkutta recherchieren. Zu diesem Zeitpunkt habe sie selbst noch nicht wirklich vorgehabt, nach Kalkutta zu fliegen. Sie habe allerdings, zwei Jahre vor ihrem Besuch eines Reisebüros, eine Briefsonde an eine erfundene, das heißt, nicht wirklich existierende Person in Kalkutta geschrieben. Einige Wochen später sei eine Antwort von eben jener erfundenen Person zurückgekommen. Wirklich sehr seltsam, sagte Nazil, die heute 82 Jahre alt geworden ist. – stop
luftgesellschaft
nordpol : 0.05 UTC — Irgendetwas fehlte, oder jemand. Ein Gefühl zunächst, ich begann zu zählen. Ich zählte von 23 Uhr bis Mitternacht folgende Besucher, die durch mein geöffnetes Fenster lichtwärts flogen: Zwei kleine Fliegen, eine grün, die andere bläulich schimmernd. 3 Marienkäfer, rot, je 5 Punkte. 1 Falter, der mir ein Tagfalter zu sein schien, er war aus dem Fenster hinaus, ehe ich ihn untersuchen konnte. 2 fast durchsichtige Wesen von hellem Grün, die mir bekannt gewesen, weil ich mich seit Jahren, sobald ihre Art an den Wänden meiner Zimmer zitternd eingetroffen ist, beobachtet fühle. Zuletzt 1 Wespe. Es ist Ende Juli, und es ist warm und schwül. — stop
von den fächertieren
echo : 18.06 UTC — Erinnern Sie sich an das Geräusch der Tauben in einem Taubenschlag, ich meine an das Geräusch der Flügel, wenn sie ihre Federn schütteln? Sollten Sie sich erinnern, wird Ihnen nicht schwerfallen, einen kleinen Laden vorzustellen, in welchem Fächertiere wohnen, die erwarten, dass irgendjemand sie mit sich nimmt, ein Ort voller Winde kreuz und quer. Fächertiere sind wertvolle Geschöpfe. Ein ausgewachsenes, gut trainiertes Exemplar wird nicht unter 750 Pfund gehandelt. Wenn man nun eines dieser Wesen aus einer Schar hunderter weiterer Wesen wählte, wird es in einen besonderen Koffer verstaut. Es handelt sich um einen knöchernen Behälter von länglicher Form, in dem das Fächertier zur Ruhe gelegt werden kann. Nicht notwendig zu erwähnen, dass das Tier gegen seine Fesselung mittels fauchender Laute protestieren wird, aber das gibt sich bald, das muss man sich nicht allzu sehr zu Herzen nehmen. Kaum aus dem Laden getreten, schläft das Fächertier ein, das machen sie in Zeiten einer Reise immer, es ist nichts anderes zu tun. Und so geht man also spazieren. Bald sitzt man in einer Straßenbahn, es ist heiß, es ist schwül, jetzt sollte man das kleine Tier aus seinem Köcher holen. Man hält es vorsichtig in der Hand, unverzüglich wird das seltsame Wesen wach. Dort wo die Federn des Tieres in einem Punkt zueinander laufen, ist nun, aus der Nähe betrachtet, ein kleiner, runder Körper zu entdecken, so groß wie eine Murmel, der atmet, zwei Augen auch, und ein Schnabel, in dem sich eine Zunge hin und her bewegt, die einer Karpfenzunge ähnelt. Man darf das Tier an dieser Stelle berühren, sanft, dann lässt man es los. Das Fächertier entfaltet sich, prächtige Farben, Muster, die sich von Tier zu Tier unterscheiden, keines gleicht dem anderen. Und schon geht es los, eine Bewegung auf und ab, hin und her, kühlende Winde, es ist ganz wunderbar. Indessen, in den ersten Minuten staunender Beobachtung, wird man vielleicht befürchten, sie könnten sich entfernen, aber das ist niemals der Fall. — stop
22 Uhr 38
ulysses : 22.51 — Wie viele Wörter meiner Sprache sind mir zu diesem Zeitpunkt unbekannt? — Das Wort Hohlbratze, von dem ich bisher nichts wusste. Da könnten noch weitere Wörter sein. — stop
nordpol : 18.55 UTC – In den Echokammern der Twitterwelt üben menschliche Lebewesen inverse Methoden, beispielsweise die Methode, bezüglich einer Position grundsätzlich das Gegenteil zu glauben, etwas zu glauben also, auch dann, wenn es nicht sein kann. Am Abend des 7. April beobachtete ich, wie ein junger Mann einer jungen Frau notierte: Erhäng Dich. Die junge Frau hatte zu einem frühen Zeitpunkt unterstellt, ein Anschlag in der Stadt Münster sei von Mitgliedern des IS verübt worden. An anderer Stelle sprach sie von Menschen, die aus Eritrea nach Israel geflüchtet sind, diese Menschen seien VIEHZEUG. Die junge Frau antwortete unverzüglich: Dein Satz hat das falsche Satzzeichen. Es müsste “Erhäng Dich!” heißen. Der junge Mann wiederum notierte, er denke, dass der Kontext ( sie solle sich erhängen ) auch ohne Satzzeichen “rüber” komme. Das hier ( Twitter ) sei ein Kurznachrichtendienst und kein Diktat. — stop
tod in peking 7
marimba : 0.48 UTC – Einmal, vor sechs Jahren im Winter, begegnete ich dem Fotografen und Programmierer Teddy in einem Supermarkt. Wir waren etwas verlegen gewesen, wussten in jenem Moment vor kühlen Milchflaschen stehend nicht, worüber wir sprechen sollten, weil wir wenige Tage zuvor noch ein besonders schwieriges Gespräch geführt hatten. Ich erinnere mich, von Hinrichtungsbussen erzählt zu haben, die durch China fahren sollen, von Gefängnis zu Gefängnis. Teddy sagte, er habe von diesen Bussen nichts gehört und nichts gelesen. Er war damals gerade aus Peking zurückgekommen, von einer Reise nach Tibet, präzise. Er sagte: Louis, warum erzählst Du mir diese Geschichte? Ich sagte: Nun, weil ich sie weiß! Was ich nicht ahnte zum Zeitpunkt unseres Gespräches, nun aus der zeitlichen Entfernung wie ein Ereignis für sich zu sehen, ich ahnte nicht, dass Teddy kurz darauf sterben würde. Vielleicht, wenn ich von seinem Tod gewusst hätte, hätte ich nicht von Hinrichtungsbussen erzählt, sondern eine ganz andere Geschichte, eine Geschichte, die von seinen wunderbaren Fotografien berichtet. — stop
zwergseerose no 2
nordpol : 0.02 UTC — Als ich heute Morgen erwachte, knisterte mein linkes Ohr. Das war vermutlich darum gewesen, weil ich auf meinem linken Ohr mehrere Stunden lang träumend ruhte. Für einen Moment dachte ich, meine Ohrmuschel wäre von Papier gemacht. Während ich so lag und lauschte, erinnerte mich an eine Geschichte, die ich in einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West in New York vor längerer Zeit erlebte. Ich erzählte bereits von dem alten Mann, der hinter einem Tresen auf Kunden wartete. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, doch eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüßte, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf dem Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in demselben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. – stop