Aus der Wörtersammlung: regen

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regen

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zou­lou : 18.07 UTC — Ein Freund erzähl­te von einer klei­nen Rede, die er an einem spä­ten Som­mer­abend auf einem Anruf­be­ant­wor­ter vor­fand, als er nach Hau­se gekom­men war. Die­se klei­ne lie­be­vol­le Rede war von sei­ner ster­bens­kran­ken Frau kurz vor ihrem Tod im Hos­pi­tal für ihren gelieb­ten Mann gespro­chen wor­den, wäh­rend er gera­de auf dem Fahr­rad von ihr zurück nach Hau­se fuhr. Es hat­te gereg­net. Er saß in der Küche im letz­ten Licht des Tages. Er erzähl­te, er habe lan­ge Zeit geweint, sich die Rede immer wie­der ange­hört, dann beschlos­sen, die Stim­me sei­ner gelieb­ten Frau mit­tels eines Ton­ban­des auf­zu­neh­men. Irgend­et­was muss kurz dar­auf gesche­hen sein, wovon er nicht berich­ten woll­te. — stop

ping

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kandinskyraupe

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nord­pol : 18.54 — Es exis­tiert ein beson­de­rer Grund, wes­we­gen ich mei­nen Text von der Kan­din­sky­rau­pe, den ich vor acht Jah­ren notier­te, an die­ser Stel­le und an die­sem Tag wie­der­ho­le. Ich habe, als ich ihn vor weni­gen Minu­ten bemerk­te, ent­deckt, dass ich mich nicht erin­nern konn­te, ihn per­sön­lich geschrie­ben zu haben. Der Text war mir fremd gewe­sen. Eine selt­sa­me Erfah­rung. Nun habe ich mir vor­ge­nom­men, in acht Jah­ren an die­se Stel­le zurück­keh­ren und zu prü­fen, wie es sich mit mei­nem Erin­ne­rungs­ver­mö­gen ver­hal­ten wird im Jahr 2027. Hier ist Dein Text, lie­ber Lou­is: Nach hef­ti­gem Gewit­ter­re­gen habe ich einen Kan­din­sky ent­deckt im Park, eine nas­se Rau­pe von so wun­der­ba­rer Zeich­nung, dass ich sie in eine Streich­holz­schach­tel setz­te und mit nach Hau­se genom­men habe. Sie lun­gert jetzt auf mei­nem Schreib­tisch her­um. Der Ein­druck, dass sie nicht sehr begeis­tert ist, sobald ich mich mit einem Fin­ger oder mei­nen Augen nähe­re, viel­leicht wegen mei­nes Anblicks oder weil es eigent­lich dun­kel sein müss­te um die­se Zeit, da doch Nacht gewor­den ist. Dro­hen­de Hal­tung, das heißt, gesenk­ter Kopf, Füh­ler der­art zu mir hin aus­ge­rich­tet, als wären sie Hör­ner eines Stie­res. Ihrem Rücken ent­kom­men vier Quas­ten von gel­ber Far­be senk­recht einer leder­nen Haut, die dun­kel ist und zart liniert, wie die Hand­flä­chen eines Berg­go­ril­las. Zar­tes­te Federn, sie blü­hen feu­er­far­ben an den Flan­ken des Tie­res, aber grü­ne, sehr kur­ze Bei­ne, acht links, acht rechts. Manch­mal fällt die Kan­din­sky­rau­pe um. Sie liegt dann recht flach auf der Sei­te zur Schne­cken­zeich­nung gewor­den. Ob ich sie mit etwas Bana­ne an mich gewöh­nen könn­te? Oder mit Cole Por­ter viel­leicht? Zwei Stun­den Cole Por­ter, das soll­te genü­gen. – stop

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im park

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nord­pol : 0.18 UTC — Es war ein war­mer Regen­tag, den ich unterm Schirm spa­zie­rend im Pal­men­gar­ten ver­brach­te. Ich ging Stun­de um Stun­de im Kreis mit einem wun­der­ba­ren Gefühl dahin, etwas Neu­es zu erle­ben. Der Schirm näm­lich war ein beson­de­rer Regen­schirm, ich trug ihn zur Pro­be, es war ein Schirm, der über eine wei­te­re fei­ne Haut ver­füg­te, die das eigent­li­che schüt­zen­de Gewe­be wie eine zwei­te Haut bespann­te. Die­se Haut war nun in der Lage, die Zahl der Trop­fen, die auf die Ober­flä­che des Schir­mes tra­fen, zu zäh­len, indes­sen sehr klei­ne Kame­ra­au­gen die Bewe­gun­gen mei­nes Kör­pers beob­ach­te­ten, der sich exakt wie der Kör­per eines Spa­zier­gän­gers ver­hielt. Sie saßen in der Kro­ne des Regen­schirms fest, und ich den­ke, es ent­ging ihnen nichts, sodass ein quan­ten­me­cha­ni­scher Algo­rith­mus in Bruch­tei­len von Sekun­den zu ent­schei­den ver­moch­te, wie vie­le Regen­trop­fen mei­nen spa­zie­ren­den Kör­per getrof­fen hät­ten, wenn ich nicht beschirmt unter­wegs gewe­sen wäre. Gegen acht Uhr abends hör­te es auf zu reg­nen und ich ging nach Hau­se, um in der digi­ta­len Sphä­re nach Algo­rith­men des Sor­tie­rens zu suchen. Fol­gen­de Bezeich­nun­gen wur­den sofort gefun­den: bina­ry tree sort, bogo­s­ort, bubble­sort, buckets­ort, comb­s­ort, coun­tings­ort, gno­me­s­ort, heap­sort, hybrid­sort, inser­ti­ons­ort, intro­sort, mer­ge inser­ti­on, mer­ge­sort, quick­s­ort, radix­sort, sel­ec­tions­ort, shakers­ort, shells­ort, slow­sort, smooth­s­ort, stoo­ge­sort, swap-sort, tim­sort. Nichts wei­ter. — stop

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regenschirmtiere vol.3

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ulys­ses : 0.12 UTC — Ein Jour­na­list, der für das Radio arbei­tet, erzähl­te unlängst am Tele­fon, er habe ein­mal an einer Repor­ta­ge gear­bei­tet, die von der Ent­de­ckung der Regen­schirm­tie­re berich­te­te. Unge­fähr in der Mit­te sei­nes Bei­tra­ges habe er einen Feh­ler ent­deckt. Er saß vor dem Radio­ge­rät und hör­te der Stim­me einer Spre­che­rin zu, die sei­nen Text sehr deut­lich las, es war also zu spät, der Jour­na­list konn­te an sei­nem Feh­ler nichts ändern. Das ver­sen­det sich, wur­de er von einer Redak­teu­rin getrös­tet. Und ich dach­te, das ist ein schö­nes Wort für ver­lo­re­ne Wor­te oder Gedan­ken, das ist wie mit Träu­men, die sich von der Erin­ne­rung lösen wie Regen­was­ser, das sich nicht wirk­lich fest­hal­ten, nicht wirk­lich begrei­fen lässt mit Hän­den, die­ses hel­le Was­ser, das die Luft erhell­te in einem Traum, den ich gera­de noch erzäh­len konn­te auf einem Blatt Papier, ehe der Traum sich ver­flüch­tig­te, in dem ich mich wun­der­te, dass ich, bei­de Hän­de frei, durch die Stadt gehen konn­te, obwohl ich doch allein unter einem Regen­schirm spa­zier­te. Als ich an einer Ampel war­ten muss­te, betrach­te­te ich mei­nen Regen­schirm genau­er und staun­te, weil ich nie zuvor eine Erfin­dung die­ser Art zu Gesicht bekom­men hat­te. Ich konn­te dunk­le Haut erken­nen, die zwi­schen bleich schim­mern­den Kno­chen auf­ge­spannt war, Haut, ja, Haut von der Art der Flug­haut eines Abend­seg­lers. Sie war durch­blu­tet und so dünn, dass die Rinn­sa­le des abflie­ßen­den Regens deut­lich zu sehen waren. In jener Minu­te, da ich mei­nen Schirm betrach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, er wür­de sich mit einem wei­te­ren Schirm unter­hal­ten, der sich in nächs­ter Nähe befand. Er voll­zog leicht schau­keln­de Bewe­gun­gen in einem Rhyth­mus, der dem Rhyth­mus des Nach­bar­schirms ähnel­te. Dann wach­te ich auf. Es reg­net noch immer. Ich wer­de gleich tele­fo­nie­ren. — stop
ping

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geraldine

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lima : 15.01 — Das Seins­ver­ständ­nis hat umge­schla­gen. Im Kon­trast zum auf der empi­ri­schen Anschau­ung basie­ren­den Ent­wurf der Neu­zeit, wonach das Sein der Din­ge von der Anschau­ung untrenn­bar ist (Kant), ja sogar mit dem Wahr­ge­nom­men­sein iden­tisch ist „Their esse is per­ci­pi“ (Ber­ke­ley 1965, 62), gilt: jetzt: esse est com­pu­t­a­ri. Die Welt ist alles, was digi­ta­li­sier­bar ist.“ – Rafa­el Capur­ro: Digi­ta­ler Welt­ent­wurf. Ein Essay in Heid­eg­ge­ria­ni­scher Absicht. 1999.[2] — Dar­über nach­den­ken. Leich­ter Regen. Es wird wär­mer. Der Regen duf­tet nach Moos. Der Regen erzählt. — stop

ping

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trillerpfeife

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romeo : 15.42 UTC — Ich kann mich nicht erin­nern, wann genau ich mit der Samm­lung von Wör­tern begann, die ich an die­ser Stel­le ein­mal ver­wen­de­te, Wör­ter, die mich zu beob­ach­ten schei­nen, als wären sie Lebe­we­sen, fra­gen­de Per­sön­lich­kei­ten: Bin ich an die­ser Stel­le rich­tig ange­kom­men, kann ich mich ent­fal­ten, ist zu ver­ste­hen, was ich bedeu­te, was ich zu sagen wün­sche? Wenn man in die­ser Wei­se Wör­ter sam­melt, als wür­de man Käfer­we­sen fan­gen, kommt man aus dem Stau­nen nicht her­aus, was alles so exis­tiert in der Buch­sta­ben­welt, wovon man Kennt­nis zu haben meint, sagen wir Wör­ter wie die­se: Wind­stil­le . Tril­ler­pfei­fe . Trom­mel­fell . Amei­sen­pan­ther . Lauch­stan­ge . Zun­gen­kä­fer . Stau­nen Sie doch mit mir, sobald Sie Zeit fin­den, Zap­fen­zun­gen sind HIER hin­ter in die­sem geführ­ten ZUGRIFF sofort zu fin­den. — Wei­ter­hin Regen. Es reg­net bereits solan­ge, dass man glau­ben möch­te, die­ser April­re­gen könn­te rei­ne Erfin­dung sein. — stop

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eine stimme

pic

sier­ra : 14.15 UTC — Regen und Sonn­tag. Ich hat­te Mut­ter ange­rufen. Sie war unter­wegs gewe­sen, viel­leicht im Gar­ten, viel­leicht in den Ber­gen. Nach 10 Sekun­den schal­tete sich der Anruf­be­ant­worter an. Eine Stim­me, die die Stim­me Mut­ters war, mel­de­te ver­traut: Hier ist der Anschluss von Pau­la und Jür­gen. Ich sag­te sofort mei­nen klei­nen Spruch auf: Hal­lo, seid Ihr zu Hau­se? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es reg­net. Als mein Vater gestor­ben war, hat­te ich immer wie­der ein­mal gedacht, wie selt­sam ist, dass mei­ne Mut­ter, solan­ge sie nicht bei sich selbst anru­fen wird, nicht bemer­ken wür­de, dass ihre Begrü­ßung anru­fende Freun­de irri­tieren könn­te. Ich über­legte, ob ich Mut­ter nicht viel­leicht bei Gele­gen­heit dar­auf auf­merk­sam machen soll­te, dass wir eine wei­te­re Tonband­auf­nahme anfer­tigen könn­ten. Der Ein­druck unver­züg­lich, ich wür­de mei­nen Vater durch die­se Hand­lung distan­zieren, einen Geist hinaus­werfen aus dem Haus, in dem er weiter­lebt in sei­nen Spu­ren, in unse­ren Erin­ne­rungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Com­pu­ter. Und da sind sei­ne Garten­schuhe, sei­ne Schall­platten, sei­ne Bücher und im Teich wer­den bald wie­der Rosen blü­hen, See­ro­sen, weiß und rosa, die vor lan­ger Zeit ein­mal von sei­ner Hand ins Was­ser gesetzt wor­den waren. Ja, so war das gewe­sen. Heu­te wie­der Regen und Sonn­tag. Und da sind nun Mut­ters Som­mer­schu­he ver­waist und ihre Win­ter­stie­fel­chen neben der Tür zum Gar­ten. In einer Schub­la­de in der Küche wer­de ich bald Mut­ters Blei­stif­te fin­den und Mut­ters Bril­len und Rezep­te von eige­ner Hand für Kuchen und Plätz­chen für das Weih­nachts­fest vor zwei Jah­ren. In einer wei­te­ren Schub­la­de ruhen ihr Rei­se­pass, ihr Geld­beu­tel, ihr Tele­fon­buch, Bro­schen und Wan­der­kar­ten durch die Wäl­der am See. Und da ist ihre hel­le Stim­me, ich weiss, dass sie im Tele­fon zu war­ten scheint, eine Stim­me, die noch mög­lich ist. — stop