nordpol : 2.52 — In Genf, an einer Straßenkreuzung von der Rue de Rhone zur Rue d’Italie, sind seltsame Dinge zu bemerken. Männer und Frauen nämlich, die sich kreisend oder auf und ab über das Pflaster bewegen, während sie das Grünlicht der Ampeln erwarten. Bei genauerer Betrachtung möchte man meinen, sie könnten vielleicht nicht in der Lage sein, stillzustehen. Sie tragen Damenkostüme, Herrenanzüge, feine Schuhe, sie sind vermutlich gerade aus dem Büro gekommen, befinden sich auf dem Weg vielleicht nach Hause, zur Busstation nach Ferney, oder ins Kino, ins Theater, zum Jazz, die Sonne scheint, erste warme Stunden. Aber auch an einem eiskalten Tag im Winter würden sie sich genau so bewegen, in Kreisen oder auf und ab. Man nimmt jetzt nur noch selten den Aufzug, man nimmt die Treppe, der Blick hin zum Handgelenk, zur Apparatur, die Pulse, Temperaturen, und auch den Schlaf auszumessen vermag. Und noch einen Kreis gleich hinterher und über die Straße, wie viele Schritte, wie viele Schritte heute, wie viele Schritte mehr als gestern, wie weit bin ich gekommen in diesem Monat, vielleicht bis nach Chambéry, vor dem Sommer noch könnte ich Montpellier erreichen, im Winter Valencia, am Ende des kommenden Jahres werde ich in Essaouira sein. – Es ist 2 Uhr und 44 Minuten. Gerade eben noch habe ich meinen Kaktus beobachtet, wie er blüht. Wenn mein Kaktus blüht, hält er seine Blüte auch bei Nacht geöffnet, als ob er ahnte oder wüsste, dass in meinen Zimmern Nachtbienen und Nachtwinde wohnen. — stop
Aus der Wörtersammlung: viele
alice austen
echo : 1.58 — Vor längerer Zeit einmal wollte ich ein Haus besuchen, das die Fotografin Alice Austen viele Jahre ihres Lebens bewohnte. Ich erinnere mich, es war ein bitterkalter Tag gewesen, Schnee bedeckte Staten Island, und die Luft war so eisig, dass selbst die Möwen nicht zu fliegen wünschten. Vermutlich deshalb, weil es so kalt gewesen war, blieb ich an der Railway Station Clifton im Zug, anstatt auszusteigen und ein paar Meter zu Fuß zu Austens Haus zu gehen. Ich fuhr weiter bis nach Tottenville, wo der Zug eine halbe Stunde wartete, um dann dieselbe Strecke zurückzufahren. Ein Angestellter der Bahngesellschaft dampfte wie eine Lokomotive über den Bahnsteig von Waggon zu Waggon, er schlug Eis von den Trittbrettern des Zuges. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, ließ er sich auf eine Bank fallen und schlief sofort ein. Auch auf meinem Rückweg zum Fährschiffterminal stieg ich in Clifton nicht aus, es war noch immer stürmisch, und ich vergaß das Haus, das ich besichtigen wollte, und Alice Austen, die tausende Fotografien Manhattans zu einer Zeit angefertigt hatte, da das Fotografieren noch Mut, Kraft und Ausdauer erforderte. Gestern habe ich ein wenig Zeit auf der Suche nach ihr verbracht. Sie soll als einzige Frau der Insel Besitzerin eines Automobils gewesen sein. Auf einer Fotografie ist ihre Lebensgefährtin Gertrude Tate zu sehen, wie sie stillhält. Die junge Frau sitzt auf einer Veranda, die heute noch existieren soll, umgeben von Blumen, einer Wildnis so wild, dass sie die nahe Küste verbirgt. Auf einer weiteren Fotografie, die ich noch nicht kenne, soll Alice Austen an derselben Stelle im Alter von 26 Jahren zu sehen sein, auch sie sitzend, eine Selbstaufnahme, unter einem Strauß Blumen verborgen ein Gummiball gefüllt mit Luft, die sie mittels einer kräftigen Bewegung ihrer Hand durch einen Schlauch zu ihrer Kamera gepresst haben musste, um die Lichtaufnahme auszulösen. Ein Geräusch vielleicht, wie ein Atemzug möglicherweise, oder ein Seufzen. — stop
winterzeiten
himalaya : 3.18 – Ich könnte das Wort Winter schreiben. stop. Wie viel Zeit vergeht, ehe ich das Wort Winter zu Ende geschrieben haben werde? stop. Einhundert Winterzeiten. stop. Wie viele Winterzeiten machen einen Tag? — stop.
basra paris
zoulou : 1.12 — Ein Mädchen sitzt auf einer Treppe an der Place de la Bastille, sie schreibt in ein Schulheft. Es ist Abend geworden. Eine Kamera nähert sich. Das Mädchen hält ein Schulheft vor das Objektiv der Kamera. Ich schreibe, sagt sie, Tinte muss fließen anstatt Blut, Tinte muss fließen anstatt Blut. Das werde ich solange schreiben, bis mein Heft gefüllt sein wird. — An demselben Abend erzählt mir ein Freund von Naasem M.. Er soll im Alter von 18 Jahren nahe Basra als Soldat gekämpft und einen Lungenflügel verloren haben. Auch in diesem Jahr, wie viele Jahre zuvor, habe er sich kurz vor Mitternacht zum Jahreswechsel sehr große Kopfhörer aufgesetzt und Jazzmusik gehört. Von Ebola ist in den Nachrichten kaum noch die Rede. Leichter Schneefall. — stop
helsinki turku
zoulou : 0.05 — Einmal folge ich einem Mann namens Nuuri durch einen Zug, der sich sehr langsam von Helsinki nach Turku bewegt, es schneit. Der Mann, der stets eine helle wollene Mütze trägt, ist den Pendlern, die ihre Samstage und Sonntage in Turku verbringen, gut bekannt, sie scheinen nur darauf zu warten, seine heisere Stimme bald hören zu können: Wolken! Wolken! Das Stück Wolke zu 50 Cent zu verkaufen. Wer Nuuri nicht bereits einmal erlebte, wird vermutlich meinen, ein sehr seltsamer Mensch wandere durch die Abteile des scheppernden Zuges. Aber das würde ein Irrtum sein, Nuuri verkauft tatsächlich sehr kleine, wirkliche Wolken von Wasserdampf. Sie schweben über Baumminiaturen, welche dicht an dicht aus Fächern wachsen, die Nuuri mittels eines Bauchladens vor sich herträgt. Ein feines Netz gläserner Fäden ist wie eine Kuppel über der wilden Landschaft aufgespannt. Sobald man sich mit Augen, Ohren, Nase nähert, wird man wispernde Affenstimmen vernehmen, Vögel sind zu erkennen, die über Baumwipfel kreisen, und ein Panther so groß wie eine Ameise, der sich auf einer Lichtung wälzt. Und eben Wolken, Wolken, die man kaufen kann, sie blitzen und knallen von Zeit zu Zeit, es duftet sofort nach Schwefel, nach einem Löffel voll glimmenden Schwefels. Sobald man nun eine Wolke zu kaufen wünscht, eine Wolke zu 50 Cent, gebe man ein Handzeichen. Nuuri wird dann unverzüglich Platz nehmen, ein freundlicher Mensch. Er wird sich erkundigen, welche Wolke es denn sein soll. Und während man nun unter den Wolken, es sind viele, eine geeignete Wolke suchen wird, wird Nuuri von Turku und vom winterlichen Eis auf dem Meer und der Stille im Ohr erzählen, und wie es überhaupt möglich sein kann, einen Ameisenpanther zu füttern. — Ende der Wolkengeschichte. — stop
von ameisenuhren
nordpol : 5.06 — Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Nach einer Verfolgungsjagd über Bahnsteige des Zentralbahnhofs, gewährt mir ein Junge von vielleicht acht Jahren einen Blick in eine seiner Manteltaschen. Er will jetzt nicht mehr weglaufen, er will nur ganz still neben mir auf der Treppe sitzen und zusehen, wie ich Uhren betrachte, die sich in eben seiner Manteltasche befinden. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele größere und kleinere Armbanduhren auf einem sehr engen Raum beobachtet. Wie ich mich der Uhrentasche nähere, und zwar mit einem Ohr, sieht mir der kleine Junge, der nicht mehr weglaufen will, zu. Vermutlich wird er bemerken, dass ich meine Augen schließe, um das Geräusch der Uhrwerke in seiner aufregenden Schönheit wahrnehmen zu können, ein sehr leises Brausen, sagen wir, wie von Tieren gemacht, als würde ein Volk der Wanderameisen näherkommen. Wie ich mich aufrichte, habe ich die Uhr meines Vaters wiedergefunden, und der Junge beobachtet, wie ich sie nun um mein Handgelenk lege und sehr fest ziehe, was der Junge seinerseits mit einem Lächeln quittiert. Diese Uhr, sagt er, gehöre jetzt wieder mir, er macht sehr große Augen. — stop
milanomaki
echo : 0.18 — Während eines Spaziergangs im botanischen Garten hörte ich, man habe zuletzt im Jahr 2000 eine bisher nicht bekannte Struktur der menschlichen Hand entdeckt, das ligamentum metacarpale pollicis, ein Band, welches die Stabilität der Daumenbewegung erhöhe. Bisher hatte ich angenommen, die Anatomie des menschlichen Körpers sei bereits seit Jahrzehnten restlos aufgeklärt. – stop. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, Count Basie: At the Aquarium. Vor wenigen Minuten erreichte mich eine E‑Mail. Milanomaki notiert > : Ich sollte ein Ohrenmensch sein. Ich sitze mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und höre zu, einem Menschen vielleicht oder einer Fliege, die über mir im Luftraum turnt. Oder ich stehe in einem Zimmer ganz still, um so präzise wie möglich denken zu können. Kurz darauf setze ich mich an einen Schreibtisch und mache viele Wörter, dann mache ich eine Pause, dann lese ich alles das Notierte noch einmal durch, dann streiche ich so viele Wörter mit dem Kopf, wie möglich ist, um bald wieder nur einen Strich vor mir auf dem Papier vorzufinden. Ich habe viel erlebt. — stop
grammophon
zoulou : 3.36 — Würden jene Fahrzeiträume frühmorgens in warmen Abteilen der Züge nicht existieren, würden wir vielleicht nie miteinander sprechen. Er ist meistens müde von der Nachtarbeit. Fünfzehn Minuten Zeit, zu kurz, um schlafen zu können, zu lang, um zu schweigen. M. wurde in der marokkanischen Hafenstadt Nador geboren. Er ist Moslem, gläubig, einer der Guten, wie er sagt, einer, vor dem sich niemand fürchten müsse. Er geht in die Moschee, er spielt Fußball, er ist verheiratet, nachts beaufsichtigt er Maschinen, die Briefe sortieren, und er lacht gern. Sein Blick ist warm, er verfügt über zwei Hände, darauf besteht er, und zwei Augen, eine Nase, einen Mund. Vor Kurzem warnte er mich, weil ich öffentlich über den Glauben der Moslems notierte. Er sagte: Da musst Du vorsichtig sein, es gibt viele Verrückte, schau, dass sie nicht wissen, wo Du wohnst. Einmal, kurz nach einer Reise nach New York, lese ich ihm eine Geschichte vor, folgende Geschichte, sagen wir, eine Geschichte wie eine Frage: Im Central Park zur Mittagszeit ein betender Mann, Moslem, Rikschafahrer, der Höhe 61. Straße unter einer mächtigen, weitverzweigten Ulme kniet, vielleicht unter einem jener Bäume, deren Setzlinge im Jahr 2008 nach Oregon geschickt wurden, um sie dort großzuziehen und wieder nach Manhattan zurückzuholen. Das klagende Singen der Kinderschaukel. Ein Eichhörnchen hetzt über eine Wiese. Bald kauert das Tier in der Nähe des betenden Mannes, scheint ihn zu beobachten. Ich könnte jetzt warten, bis der Mann mit seinem Gebet fertig geworden ist. Ich könnte mich zu ihm in seine Rikscha setzen. Wir könnten gemeinsam durch den Park fahren. Ich könnte ihm eine Geschichte erzählen. Ich könnte erzählen, dass ich eben noch in einem Café hörte, wie eine junge, lustige Mutter von ihrer Absicht berichtete, ihren Sohn, der noch nicht geboren worden ist, mit dem Namen „Grammophon“ zu versehen. Das ist eine wirklich aufregende Geschichte, die ich tatsächlich sofort erzählen sollte. Ich sollte den jungen Mann weiterhin fragen, ob er mir vielleicht erklären wolle, weshalb es lebensgefährlich für mich sein könnte, wenn ich mich fragend über Mohammed, den Propheten, äußern würde. Vielleicht würde der junge Mann bremsen, vielleicht sich unverzüglich von seinem Fahrrad schwingen. Wir würden uns auf eine Bank setzen und Geschichten erzählen von Grammophonen, von Propheten und wie es ist, im Winter Rikscha zu fahren. Und vielleicht würde ich ihm dann noch vom Schnee erzählen, den ich als Kind aus der Luft gefangen habe. Ja, so könnten wir das machen, sofort, gleich, wenn der betende Mann sich erheben wird. – stop
teilchen
sierra : 2.01 — Erinnerung scheint zeitlos zu sein, zufällig, chronologisch ungeordnet, kommt in Sekundenportionen angeflogen, eine Stimme, eine Fotografie, ein Geruch, ein Gedanke, Teilchen wie Sandstürme, vergänglich, unscharf. Ich habe bemerkt, dass es möglich zu sein scheint, ein Teilchen festzuhalten, in dem ich das Teilchen mit einem Wort verbinde, um das Teilchen von diesem Wort aus zu erweitern, schwerer zu machen, und doch ist es immer so, dass ich das Teilchen, an dem ich arbeite, früher oder später loslassen werde, weil vielleicht das Telefon klingelt oder eine Fliege vorüber kommt, die sich auf dem Rücken segelnd fortbewegt. Wie viele Ereignisse meines Lebens habe ich mehrfach vergessen? Wie viel stille Zeit? — stop
ein junge
india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flughafenterminal beobachtete ich einen Mann, der sich äußerst sparsam, lange Zeit überhaupt nicht bewegte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung, neben der Zeitung Folgendes: eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, Zuckerwürfel, Notizblock und Bleistift. Eine halbe Stunde verging in dieser Weise, die Hände des Mannes ruhten in seinem Schoß. Einmal rückte der Mann seinen Koffer, der hinter ihm an der Wand parkte, ein kleines Stück zur Seite, ein andermal hob er seine Kaffeetasse in die Luft, um sie in einem Zug auszutrinken. Dann wieder keinerlei Bewegung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagierte weder auf Lautsprecherdurchsagen noch kümmerte er sich um Menschen, die das Café auf Laufbändern passierten, es waren viele chinesische Reisende darunter, die gerade erst aus Shanghai und Peking in großen Flugzügen eingetroffen waren. Der Mann starrte auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt worden war. Ein Junge lag dort unbekleidet auf einer Bastmatte mitten auf einer schmutzigen, feuchten Straße. In einiger Entfernung, im Hintergrund, warteten Menschen, die den Jungen beobachteten. Der Junge schwitze, seine schwarze Haut war von Fliegen bedeckt, er sah mit halb geschlossenen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutzanzug steckte. Anstatt eines Kopfes war auf den Schultern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zerknitterte Haube, genauer, die unter Luftdruck zu stehen schien. Das Wesen hatte seine rechte Kunststoffhand nach dem Jungen, der einsam auf dem Boden liegend verharrte, ausgestreckt, es wollte ihn vielleicht ermutigen, aufzustehen und zu ihm an den Rand der Straße zu kommen. Obwohl sich die Hand nicht bewegte, vermittelte sie den Eindruck, dass sie sich bewegt haben musste und weiterhin bewegen würde, weil die Stellung ihrer Finger nur in dieser vermuteten Bewegung einen Sinn ergab. Ja, diese Hand musste in der Zeit des Bildes eine winkende Hand gewesen sein, aber es war deutlich zu sehen, dass der Junge vermutlich nicht länger die Kraft hatte, aufzustehen oder zu kriechen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüstern, oder die Fliegen auf seinem Körper zu vertreiben. Es war still, vollkommen still, nichts zu hören. — stop