nordpol : 2.24 UTC — Um kurz nach zwei Uhr nachts, ich las gerade zur Belagerung der Stadt Mariupol durch russische Streitkräfte im März 2022, Besuch eines Silberfischchens. Bei schwachem Licht huschte das seltsam wunderbare Wesen über meinen Küchentisch. Unter einer Handlupe feine, unheimliche Strukturen. Antennen suchten in der Luft herum. Ich war vermutlich ein Schatten in seinen Augen. Was vielleicht haben seine Antennen von meiner Person wahrgenommen? Morgens dann beinahe sicher, dass das Silberfischchen vermutlich ein Papierfischen gewesen war, eines demzufolge, das sich gern von Papieren ernährt, demzufolge gleichwohl Papierwörter verzehrt, verletzliche Wesen. In dieser Hinsicht, in der Nähe einer Population der Papierfischchen, sind Papierwörter von digitalen oder elektrischen Wörtern gut zu unterscheiden. — stop
Aus der Wörtersammlung: vorgestellt
in der straßenbahn
nordpol : 10.08 UTC — Heute ist etwas Seltsames geschehen. Ein Mann setze sich in der Straßenbahn in meiner Nähe an ein Fenster. Er öffnete eine Zeitung von Papier. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass ich sehr lange, sagen wir eine unbestimmte Zeit, keinen Menschen gesehen habe, der im Zug oder in einer Straßenbahn fahrend eine papierene Zeitung las. Interessant ist, wie viel Raum ein derart lesender Mensch einzunehmen vermag. Im Moment des Blätterns oder einer kompletten Wende des raschelnden Nachrichtenkörpers werden beide Arme weit in entgegengesetzte Himmelsrichtungen ausgestreckt, wie man das als Geste menschlicher Begrüßung in anderen Zusammenhängen beobachten kann. Der Mann, den ich in der Handhabung seiner Zeitung beobachtete, bemerkte meinen aufmerksamen Blick. Er fragte, ob er mir helfen könne. Ich sagte, ich würde über seinen Anblick freuen, weil er mich an eine längst verloren geglaubte Zeit erinnerte. Damals, also vor langer Zeit, erzählte ich, würde ich in U‑Bahnen reisend immer wieder den Eindruck gehabt haben, Menschen würden mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Eine Weile sei Ruhe, aber dann blätterte jemand eine Seite um, und schon knisterte der Waggon von Reihe zu Reihe in einer nervösen Art und Weise weiter. In diesen Momenten glaubte ich, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal hatte ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, eine eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, einen Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. — stop
Ich würde mich irren,
sagte das Mädchen zu meiner
Übersetzerin in Tashkent. Sie
trage keinen Regenschirm
vielmehr einen Sonnenschirm
mit sich.
on the road
himalaya : 7.12 UTC —Vor wenigen Jahren entdeckte ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book. Ich beobachtete, dass eine Rechenmaschine irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus, verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist März, leichter Regen. — Die Welt der Wörter scheint sich der Lage unserer Welt anzugleichen: Vor einigen Tagen bemerkte ich das Wort Aerosolbombe. Sollte ich tatsächlich der Registratur meines Wörterspeichers gestatten, Wörter des Krieges zu erlernen, sodass meine Schreibmaschine in der Zukunft des Notierens weder Warn- noch Fehlerhinweise an mich senden würde. — stop
Iannis Xenakis
Die Schönheit
sichtbarer
Musik
flugstunde
romeo : 2.03 UTC – Folgendes habe ich mir vorgestellt in einem Abendzug sitzend von einer Minute zur anderen Minute, Vögel nämlich, die über einen sommerlichen Himmel rasten, einander lockende, Haken schlagende Künstler, manche flogen weite Strecken auf dem Rücken dicht über den Boden hin. Das war ein Vogelhimmel wild blühender Wiesen, Bienengeschosse, schwebende Brummkreiselpilze. Unter einem Baum kauerten ein paar Kinder, die schraubten an fauchenden Taubenköpfen herum, eine Geschichte feinster Werkzeuge, jawohl, eine Geschichte auch elektrisch knisternder Platinen, die unter jener vorgestellten Wiese verborgen lagen. Ich ruhte dann bald selbst auf dem funkenden Boden und meinte noch das Singen der Knochensägen hinter meinen Ohren zu hören. Dann auf und davon, senkrecht in Spiralen eines Ungeübten gegen die Wolken. — Heute, sosehr ich auch meine Ohren bemühe, ist aus dem Radio nichts zu vernehmen. — stop
bienenfarbe
india : 0.08 UTC — Ich habe in den Magazinen der digitalen Sphäre nachgesehen, schwarze Bienen existieren tatsächlich. Holzbienen sind schwarz gefärbt. Je nach Lichteinfall werden sie blau. Das Blau ist ein schillerndes Blau. Es scheint nicht wirklich zu sein. Nie habe ich eine schwarze oder eine blaue Biene gesehen, aber vorgestellt. — stop
nahe uummannaq
marimba : 16.11 UTC — Gestern ist mir etwas Lustiges mit mir selbst passiert. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde. Der vorgestellte Eisbär sollte ein ernst zu nehmender Eisbär sein, ungefähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf seine Hinterbeine stellt. Ich stand also in meinem Zimmer und überlegte, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde, der gerade noch unter meiner Zimmerdecke Platz finden würde. Plötzlich saß ich auf dem Boden und fand diese Haltung angesichts eines Polarbären in meinem Zimmer sehr angemessen. Kurz darauf wurde ich gefressen. Ich meine mich erinnern zu können, der Bär begann mit der Schulter, meiner rechten. — stop
warten auf schnee
india : 15.05 — Ein weiterer Versuch an diesem winterlichen Samstag, die Zeit vorzustellen, das heißt, die Zeit einer Minute zu messen oder zu fühlen oder zu denken, ohne eine Uhr zu Hilfe zu nehmen. Natürlich werde ich die Genauigkeit meiner geistigen Messung prüfen, in dem ich nach Ablauf einer Minute, einer vorgestellten Minute, die tatsächlich verstrichene Zeit vom Zifferblatt einer kleinen Stoppuhr lese, die ich in dem Moment mit einer Handbewegung in Gang setze, da ich denke: Jetzt, genau jetzt, ist die Zeit einer Minute angebrochen. Nein, ich zähle nie bis sechzig, auch nicht bis dreißig! Und die Arbeit der Uhr, die in meiner Hand der Minutenzeit eine gültige Gestalt verleiht, ist nicht zu spüren, nicht zu hören. Ich habe festgestellt, dass die Minutenzeit des Morgens kürzer ist als die Minutenzeit des Abends an derselben Stelle. — Kein Schnee nach wie vor, nicht eine einzige Flocke. — stop
synopse
ginkgo : 12.08 — In einem mehrstündigen, äußerst strapaziösen Versuch, Gedanken auszutauschen mit Menschen, die eine Twitterhöllenkammer befeuern, habe ich Folgendes gelernt. Es ist nämlich so, dass in der Vorstellung dieser Menschen bald Ankerzentren existieren werden, umzäunte Gebiete, die Personen beherbergen, Personenmenschen, welche aus dem Süden bereits zu uns gekommen sind oder furchtbarer Weise noch kommen werden. Weiterhin habe ich bemerkt, dass Menschenpersonen, die sich in jenen umzäunten und bewachten Gebieten zwangsweise aufhalten sollten, in der Wahrnehmung der Höllenkammerbewohner immerzu jung sind und gesund und Männer. Man vermutet, dass diese männlichen Menschenpersonen möglicherweise schwächere Menschen auf hoher See vorsätzlich von Bord gestoßen haben könnten, vorwiegend Kinder und Mädchen, das ist selbstverständlich reine Behauptung, die durch stetige Wiederholung in der Höllenkammer stetig zur Gewissheit wird. Diese jungen Männer nun, sie sind sehr häufig von schwarzer oder dunkler Haut bedeckt, sollen außerdem über finanzielle Mittel gebieten, die ihre Flucht oder Reise überhaupt erst möglich machten, sie seien also, so erzählt man, weder arm noch in irgendeiner Weise hilfsbedürftig, sie würden beileibe nicht südlichen Hungergebieten entkommen oder vor Bürgerkriegen geflohen sein, vielmehr sollen sie von irgendwoher angereist sein wie aus dem Nichts, um auf Kosten verarmter Ureinwohner in der Mitte Europas Mischbevölkerung zu erzeugen. Weil sie sich sorgfältig kleiden, weil sie über Telefone gebieten, weil sie mitnichten ausgehungerte Elendsgestalten sind, werden sie verdächtigt, gut organisierte Ankermenschen zu sein, Vorhut oder Schlimmeres. Ja, so in dieser Art und Weise wird vorgestellt, wird ausgedacht, wird Gewissheit erzeugt. Ich stelle fest: Menschen, die keine Menschenpersonen, sondern Patrioten sind, Menschen, die in dieser skizzierten Gewissheit leben, sind empfindlich, sind wütend, sobald man sich mittels Wörtern fragend nähert. Sie schreiben unverzüglich zurück, dass man den Fragenden selbst sehr gerne pfählen würde bei lebendigem Leibe, erschießen, nach Afrika verjagen, da doch der Fragende ein linker Faschist sei, ein Antisemit, ein Mitvergewaltiger, das Böse schlechthin. stop. Die Sonne ist rund. — stop
haus no 178
romeo : 20.33 UTC — Wie viele Male bin ich bereits an dem Büro im Parterre des Hauses No 178 vorüber gekommen, es müssen hunderte Male gewesen sein. Ein Mann sitzt dort hinter einem Fenster, der im Licht einer Lampe und eines Bildschirmes arbeitet, ohne je seinen Kopf zu heben, wenn ich an ihm vorübergehe. Andere berichten das Gleiche. Und das ist doch seltsam, er scheint an dem Leben auf der Straße überhaupt nicht interessiert zu sein. Nie wendet er den Kopf, als sei er fest verschraubt, als sei auch seine Wirbelsäule verankert in dieser Haltung geradeaus auf einem Stuhl, der gleichwohl nicht beweglich ist, sodass der Mann weder freiwillig noch mit Vergnügen so vor dem Tisch sitzen wird, sondern weil er nicht anders kann. Und weil das so zu sein scheint, wird der Mann vermutlich über Radare gebieten, die ihm ermöglichen zu wissen, wer an seiner Tür vorüber kommt. Er weiß nämlich immerzu genau, wer kommt und wieder verschwindet, vermutlich kann er sehr gut riechen oder aber er kann sehr gut hören, kann mit den Ohren sehen. Er irrt sich, wie ich hörte, nie. — stop
am telefon
marimba : 17.55 UTC — Plötzlich kracht es. Sie muss während unseres Gespräches in etwas Unbekanntes gebissen haben. Ja, sagt sie, ich habe furchtbaren Hunger, war den ganzen Tag in irgendwelchen Sitzungen, ich muss etwas essen, ich habe gerade in einen Apfel gebissen. — Das war wohl ein sehr fester Apfel, bemerke ich. Willst Du mal eine Banane hören, fragt sie? Das Meer vor Thessaloniki sei unruhig an diesem Tag, die Nächte sind wärmer geworden, auf den Straßen und Plätzen, in den Parks campierten noch immer tausende Flüchtlinge. Ich stelle mir vor, wie L. mit lächelndem und doch ernstem Gesicht Obst verteilt, Brote, Tee, dann wieder in irgendwelche Sitzungen eilt, um hungrig zu werden. Bananen, das weiß ich nun mit Sicherheit zu sagen, sind kaum zu hören über eine Telefonverbindung hin. Was man von einer Banane in dieser Situation zu hören vermag, ist allein die Vorstellung, dass soeben in größerer Entfernung ein Mensch in eine Banane beißt. Ich höre demzufolge ein vorgestelltes Geräusch, weshalb ich sagen kann, dass die Vorstellungskraft wirkungsvoll sein kann wie ein Mikrofon oder wie eine Lupe. — Das war gestern. Heute ist es kurz vor sechs Uhr. Die Luft ist warm und feucht. Noch zu tun: Lektüre. Italo Calvino Herr Palomar. Nichts weiter. — stop