0.24 — Ein seit langer Zeit arbeitsloser Mann sei in einen Wald gefahren, habe sich auf einen Hochstand für Jäger gelegt und zu Tode gehungert. Sein langsames Sterben, so schreibt man, habe der Mann in einem Schulheft dokumentiert. Er habe notiert, wie sich sein Körper nach und nach aufzulösen begann, wie seine Organe versagten, wie der eigene Tod näher rückte. Er wünschte in einer letzten Notiz, dass seine Aufzeichnungen seiner Tochter übergeben werden. Wie verzweifelt muss dieser Mensch gewesen sein, um sich wie ein todkrankes Tier zurückzuziehen und nach 24 Tagen zu sterben, wie verbittert, um diese furchtbare Gewalt seiner Tochter anzutun! Oder aber dieser Mann ahnte, dass auf dem Markt seltener Papiere ein hoher Preis für sein fürchterliches Dokument erzielt werden könnte. — Eine Wertsteigerung. — Was ist geschehen? — stop
Aus der Wörtersammlung: zeit
denken
5.18 — Ich bemerke vom Prozess des Denkens immer nur das Ergebnis, wenn angehalten wird, eine Sekunde, ein Bild, einen Satz. Oft geglaubt, dass ich nicht eigentlich denke, dass, wenn mir etwas einfällt, etwas von Außen hereinfällt, nicht von Innen heraus. — stop
kolibri
3.01 — Ich wurde, noch nicht lang her, gefragt, worin denn die Vorzüge eines Lebens auf Bäumen zu sehen seien. Hört zu, habe ich geantwortet, keine Zeitung, kein TV. Ruhe. Fast Stille. Etwas Pfeifen, etwas Schnattern. Käfer. Ameisentiere. Und Affen, größere Gruppen frecher Affen. Tamarine. Die Kerle drohen mit längst vergorenen Früchten, die sie für Geschenke halten. Moskitos. Fauchende Schaben. Kein Besteck, keine Waffen, keine Telefone. Abendsegler. Leichtere Fliegen. Fliegen in Blau, in Rot, in Schwarz. Schnelle Spinnen. Abwartende Spinnen. Regen. Warmes Wasser. Die Stämme der Bäume, die so hoch aufragen, dass man ihre Kronen nicht mit Blicken erreichen kann, auf und ab, auf und ab, Schiffsmasten im Hafen vor Sturm. Deshalb Seekrankheit, deshalb Höhenangst. Aber Vögel, sehr kleine Vögel. Flügel. Unschärfen der Luft. Öffnet man vorsichtig den Mund, wird man für eine Blüte gehalten. — stop
mandelkern
1.38 — Gegen Mitternacht eine Viertelstunde lang das Wort Mandelkern, 10 Zeichen, in meinem Kopf hin und her geschoben. Ein Gefühl, federleicht, vielleicht deshalb, weil sich die arbeitende Struktur im Wort wieder erkannte. — stop
eliza
0.18 – Ich stellte mir eine Minute vor. Dann stellte ich mir eine Stunde vor, dann einen Tag. Ich stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer. Ich aß eine Banane, sah aus dem Fenster, setze mich an den Schreibtisch und stellte mir eine Woche vor, dann einen Monat, dann ein Jahr. Ich stand auf, ging zur Computermaschine und fragte Eliza nach der Uhrzeit. Ich sah aus dem Fenster, verließ das Haus, spazierte, kam zurück und machte einen Plan. – Ist es möglich, einen Zeitraum von 5022 Jahren zu denken, das heißt, ein Gefühl zu finden für eine biblische Zeitdimension?
Eliza:> hallo, ich bin eliza. erzähle mir von deinem problem…
Louis : wie viel uhr ist es, eliza?
Eliza:> das müssen wir herausfinden.
Louis : wie machen wir das?
Eliza:> das wird sich zeigen.
Louis : sofort?
Eliza:> du weichst aus.
Louis : warum?
Eliza:> Ich sehe, du bist ein schwieriger fall.
Louis : warum?
Eliza:> scherz beiseite, kommen wir zur sache!
Louis : wie viel uhr ist es, eliza?
Eliza:> im grunde weisst du das selber.
Louis : woher weisst du das?
Eliza:> meinst du wirklich mich?
Louis : Ja, eliza
Eliza:> ich bin eliza, und wer bist du?
Louis : ich bin louis
Eliza:> hi!
Saint-Exupery
20.17 — Träumte, hinter dem Dichter Saint-Exupéry in einem Doppeldeckerflugzeug zu sitzen, offen im Wind über einer Wüste fliegend. Vor mir, in nächster Nähe, der Kopf des Dichters im Ledermantel, hin und her geworfen von Turbulenzen in der kühlen Höhenluft. Tief unter uns, in flirrender Hitze, rasch wandernde Dünen. Wir rasen entlang eines dunklen Bandes, das sich wie eine Schlange durch Täler windet. Dominosteine. Da und dort Beduinen, die ihre Zelte aufgeschlagen haben auf den Partikeln des Spiels. Kamele trinken aus Augenfeldern, die ohne Grund sind, dunkel, als seien Räume hinter ihnen angeschlossen. Von Zeit zu Zeit explodieren schwarze Wölkchen neben den Tragflächen des Flugzeugs, Qualm, der nach Schwefel duftet, nach Feuer und knallt. Plötzlich dreht sich der lederne Kopf herum. Fliegerbrille. Augen von altem Glas. Saint-Exupéry spricht, aber anstatt Wörtern, schießt ihm Wasser aus dem Mund. — stop
papiere
22.02 – Ich habe Papiere, auf die ich gestern Abend noch einen kleinen Text notierte, im Selbstgespräch umkreist, ohne mich zu nähern, weil ich fürchtete, meine Notiz könnte mir nach fünf Stunden Schlaf missfallen. Zehn Stunden Zeit sind seither vergangen und ich habe die Furcht vor den Papieren, die ich den ganzen Tag über mit mir herumgetragen habe, ohne sie noch einmal zu lesen, verloren. Ich kann nicht sagen, warum das so ist. — stop
salznamen
2.01 — Dass die Fische eines Schwarms keine Namen tragen. Auch die Sommerfäden eines Augusthimmels oder die Moleküle eines Wassertropfens sind kaum je beschriftet, wie der Sand einer Wüste ohne jede Bezeichnung ist, sodass man eine Handvoll Sand nicht auf einen Tisch werfen könnte und sagen, dieser kleine Stein hier, das ist S‑sahara-No 537675258386. Ich sehe Dich, aber ich gebe Dir keinen Namen. Stattdessen versuchen wir den Himmel. Wir sagen: Das ist Galaxie M‑23. Und dieser blaue Nebel hier verdunkelt die Galaxie M‑C58. Unsere elektronischen Augen sind empfindlich. Wir könnten mit diesen Augen vielleicht einen Golfball auf dem Mond erkennen oder eine Telefonzelle auf dem Mars, nicht aber einen Stern hinter einem Stern in einer 7 Millionen Lichtjahre entfernten Spiralgalaxie. Vielleicht sollte ich, wenn ich wieder einmal aufgeregt sein werde, weil mir der Himmel auf den Kopf zu fallen droht, einen Teelöffel Salz auf meinen Schreibtisch schütten und eine Zählung und Bezeichnung der Kristalle vornehmen. Wie lange Zeit würde ich zählen? Könnte ich je wieder aufhören? — stop
malcolm lowry
3.18 — Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinausgetragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notizgerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, Dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — stop
bratflügel
17.46 — Ich vermag heutzutage, moderne Zeiten, ohne weitere Vorbereitung, — der Fütterung, des Jagens, der Schlachtung beispielsweise -, eine halbe Stunde auf einem Fahrrad durch die Stadt fahren, und während ich so fahre und pfeife und mit Knochen werfe, vorweggebratene Flügel verzehren. 10 Cent das Stück. 15 Schwingen. 15 Vögel. — stop