delta : 1.28 — Ich hörte, in Russland sei eine Pflanze zur Blüte gebracht, die vor 35000 Jahren ausgestorben sei. Ob nun Bienen, Fliegen, Hummeln, Winde existieren, die noch geeignet sind, diese uralte Pflanze zu bestäuben? — stop
Aus der Wörtersammlung: zeit
lichtschirmkoffer
remington : 6.56 — Beobachtete wieder einmal meinen Fernsehbildschirm, der so flach ist, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von einem beginnenden Krieg, von Brandbomben, prügelnden Menschen, maskierten Soldaten erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnere mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich nicht mehr sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Ich höre Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Nachtvögel oder Fledermäuse fliegen vorüber. — stop
überlandfahrt
whiskey : 2.12 — Ein äußerst geduldig dahinfahrender Zug : 2,5 mm / Stunde. Indem der Zug eine Stadt verlässt, um in eine 5 Kilometer entfernte Stadt weiterzufahren, wird er für 228 Jahre ohne Bahnhof sein. Wer könnte in dieser Zeit die Geleise behüten, wer garantieren, dass der Zug jemals einen von Menschen bewohnten Ort erreichen wird? Wie schnell würden sich reisende Personen im Zug in den Augen eines Beobachters bewegen? Wären ihre Bewegungen überhaupt sichtbar? Fünf Herzschläge von Winter zu Winter. — stop
habitat
ulysses : 5.08 — Ich kam ins Gespräch mit einem Mann, der vom Projekt einer Menschengestaltung erzählte. Das war inmitten der Nacht im Café gewesen. Ich erinnere mich, dass ich ihn fragte, ob er Forscher oder Designer sei, weil er anatomische Zeichnungen mittels eines iPads studierte. Eine der Zeichnungen stellte einen Unterarm dar, wie er in der Wirklichkeit von oben herzusehen sein würde. Auf diesem gezeichneten Arm waren Erhebungen zu erkennen, wabenförmige Formationen von einem Zentimeter Höhe, die mich an pockenartige Gebilde erinnerten, aber doch regelmäßig und eben künstlichen Ursprungs waren, mit Vorsatz erstellt. Ich hörte, dass es sich bei diesen Gebilden um kleine Häuser handeln soll, in welchen Tiere angesiedelt werden könnten, Zwergbienen, jedoch bevorzugt Ameisen oder sehr kleine Fliegen. Stellen Sie sich vor, sagte der Mann, was sie hier sehen an dieser Stelle, sind von Haut bewachsene Habitate, dort existierten tausende Tiere, die nur darauf warten, bei bester Gelegenheit auszuschwärmen, sagen wir so. Unverzüglich flatterte ein Nachtfalter von dunkelblauer Farbe um den Kopf des Mannes herum. Weitere kamen hinzu, bald waren es so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Sie kletterten unter dem Hemd des Mannes hervor, an den Armen und am Kragen. Ein leises Rauschen war zu vernehmen und die Luft schmeckte bitter. Ich hörte noch, wie sich der Mann erkundigte, ob ich nicht doch beeindruckt sei. Ich berichtete ihm ausführlich von meiner Begeisterung, von meinem Wunsch, selbst über Habitate dieser Art verfügen zu dürfen, es war eine nachdrückliche Art und Weise zu sprechen, und doch weiß ich nicht, ob der Mann mich zu diesem Zeitpunkt noch sehen konnte oder hören, so dicht war die Wolke flatternder Tiere geworden. Nach wenigen Minuten stand ich auf und ging davon und erwachte. Und weil noch Nacht war, schlief ich gleich wieder ein. — stop
münchen — aleppo
kilimandscharo : 2.05 — Ich überlegte, ob ich, wenn ich bei wolkenlosem Himmel in 33000 Fuß Höhe befindlich aus einem Flugzeugfenster spähen würde, ein Schiff erkennen könnte, ein Schiff von der Größe der Queen Mary sagen wir, einen Luxusdampfer, der zur Zeit meiner Geburt noch regelmäßig zwischen New York und Southampton über den Atlantik hin und her gependelt war. — stop. Eine Reise von München südostwärts in Worten: Vom Hauptbahnhof in Richtung Bayerstraße starten 52 m weiter gesamt 52 m 2. Rechts abbiegen auf Bayerstraße 130 m weiter gesamt 180 m 3. 1. Abzweigung rechts nehmen, um auf Paul-Heyse-Unterführung zu wechseln300 m weiter gesamt 500 m 4. Weiter auf Seidlstraße 190 m weiter gesamt 700 m 5. Rechts abbiegen auf Marsstraße 270 m weiter gesamt 1,0 km 6. Weiter auf Elisenstraße Ca. 1 Minute 500 m weite gesamt 1,5 km 7. Rechts abbiegen auf Karlsplatz 160 m weiter gesamt 1,6 km 8. Weiter auf Sonnenstraße Ca. 1 Minute 700 m weiter gesamt 2,3 km 9. Weiter auf Blumenstraße Ca. 2 Minuten 850 m weiter gesamt 3,2 km 10. Rechts abbiegen auf Frauenstraße Ca. 57 Sekunde500 m weiter gesamt 3,7 km 11. Rechts abbiegen auf Isartorplatz 120 m weiter gesamt 3,8 km 12. Weiter auf Zweibrückenstraße 250 m weiter gesamt 4,0 km 13. Weiter auf Ludwigsbrücke 230 m weiter gesamt 4,3 km 14. Weiter auf Rosenheimer Straße 130 m weiter gesamt 4,4 km 15. Nach rechts abbiegen, um auf Rosenheimer Straße zu bleiben Ca. 5 Minuten 3,0 km weiter gesamt 7,4 km 16. Weiter auf A8 (Schilder nach Salzburg / Nürnberg / Flughafen München) Teilweise gebührenpflichtige Straße Ca. 1 Stunde 7 Minuten 126 km weiter gesamt 133 km 17. Weiter auf A1 gebührenpflichtige Straße ca. 1 Minute 2,1 km weiter gesamt 135 km 18. Am Autobahnkreuz Knoten Salzburg rechts halten und den Schildern A10/E55 in Richtung Villach / Salzburg Süd / Italien / Ljubljana / Slowenien folgen. Weiter auf A10 gebührenpflichtige Straße Ca. 1 Stunde 39 Minuten 182 km weiter gesamt 317 km. 19. Bei Ausfahrt A11/E61 Richtung Slowenien / Karawankentunnel >
lissabon
nordpol : 22.01 — Unter Zeitungen, die sich in meinem Briefkasten befanden, entdeckte ich eine seltsame Postkarte. Auf der einen Seite des Papiers war die Stadt Lissabon zu erkennen, eine gelbe Trambahn zwischen Häusern einer steil ansteigenden Straße. Es muss später Abend gewesen sein, als die Aufnahme gefertigt wurde. Menschen sitzen in beleuchteten Abteilen, einige schlafen, andere schauen aus den Fenstern der Waggons heraus. Wie ich sie betrachtete, die Überlegung, manche der fotografierten Menschen könnten vielleicht nicht mehr unter uns Lebenden sein, weil ihr Licht bereits Anfang der Fünfzigerjahre eingefangen wurde. Das jedenfalls ist so auf der Rückseite der Ansichtskarte vermerkt, Lisboa 1952. Ihr Postwertzeichen, das tatsächlich in Lissabon abgestempelt worden war, ist eines, wie man sie zu jener Zeit verwendete, sodass ich vermutete, die Postkarte habe eine sehr lange Reisezeit hinter sich gebracht. Sie ist in meinen Augen überhaupt eine erstaunliche Erscheinung. In diesem Moment ruht sie im Nachtlicht auf meinem Schreibtisch. Wörter, die ich nicht kenne. Nicht einmal die Buchstaben, die Wörter bilden, vermag ich zu entziffern, äußert feine Zeichen, eine Art geheimer Schrift, Malerei, die viele Stunden Arbeit gefordert haben dürfte. Merkwürdig vor allem, auf der Postkarte ist keine Anschrift zu finden. Sosehr ich nach meinem oder einem anderen Namen suchte, nichts ist zu entdecken, was eine Begründung dafür darstellen könnte, dass gerade ich diese Karte erhalten sollte. Ich habe keine Vorstellung, wer sie geschrieben haben könnte, auch nicht, ob eine Anschrift versehentlich oder mit Absicht vergessen wurde. — Dämmerung. Fledermäuse zwitschern durch die Luft. Vor wenigen Tagen ist Urs Widmer gestorben, vor genau zwei Jahren mein Vater um 17.32 Uhr. — stop
bonsaimenschen
lichtbild : eine straße in manhattan
ulysses : 8.05 — Einmal entdeckte ich nach stundenlanger Suche in den Archiven der Bayerischen Staatsbibliothek eine Fotografie auf einem Mikrofilmstreifen und ich wusste sofort, dass ich dieses Lichtbild besitzen musste. Ich bat eine Bibliothekarin, aus dem Material das Beste herauszuholen, höchste Auflösung, weswegen ich bald einen kleinen Stapel Papiers entgegennehmen konnte, den ich im Arbeitszimmer an einer Wand zum Bild zurück sortierte, wie in der vergangenen Nacht noch einmal, zurück zur Ansicht einer Straße des Jahres 1934 präzise, einer Straße nahe des Bellevue Hospitals zu New York. Staubige Bäume, eilende Menschenschatten, die Silhouette einer alten, in den Knochen gebeugten Frau, der Wagen eines Eisverkäufers, rostige Hydranten, die spröde Steinhaut der Straße, zwei Vögel unbekannter Gattung, Spuren von Hitze, und ich erinnere mich noch gut, dass ich eine Zeile von links nach rechts auf das Papier notierte: Diese Straße könnte Malcolm Lowry überquert haben, an einem Tag vielleicht, als er sich auf den Weg machte, seinem Körper den Alkohol zu entziehen. Und weil ich schon einmal damit begonnen hatte, das Bild zu verfeinern, zeichnete ich in Worten weitere Substanzen auf das Papier, Unsichtbares oder Mögliches. Einen Schuh notierte ich westwärts: Hier flüchtet Jan Gabriel, weil sie Mr. Lowry’s Liebe nicht länger glauben konnte. Da lag ein Notizbuch im Schatten eines Baumes und ich sagte: Dieses Notizbuch wird Malcolm Lowry finden von Zeit zu Zeit, er wird es aufheben und mit zitternden Händen in seine Hosentasche stecken. Schon segelten fiebernde Wale über den East River, der zwischen zwei Häusern schimmerte, ein Schwarm irrer Bienen tropfte von einer Fensterbank, und da waren noch zwei Mädchen, barfuß, — oder trugen sie doch Strümpfe, doch Schuhe? — sie spielten Himmel und Hölle, ihre fröhlichen Stimmen. Ich gestehe, dass Daisy und Violet nicht damals, sondern in dieser letzten Stunde einer heiteren Arbeitsnacht ins Bild gekommen sind. — stop
emilia nabokov no2
himalaya : 5.15 — Vor längerer Zeit hatte ich von einem Freund erzählt, der den fotografischen Schatten einer Künstlerin via Internet verfolgte. Er arbeitet selbst seit vielen Jahren in digitalen Räumen, beinahe könnte ich sagen, dass er seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr – Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E‑Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Eine halbe Stunde, nachdem die E‑Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorn, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. stop. Es ist jetzt April 2014 geworden. Nach Erscheinen der Fotografie, die den roten Gummistiefel zeigt, wurden von der Künstlerin Emilia Nabokov No 2 weitere 2756 Fotografien gesendet, im Oktober des vergangenen Jahres dann die letzte Aufnahme, seither Stille. — stop
manhattanstunde
ulysses : 1.58 — Ich stelle mir eine handliche Box vor, nicht größer als eine Streichholzschachtel. Wenn ich diese Box öffnete, würde 1 Stunde der Stadt New York in ihr festgehalten sein, jeder Mensch und jeder seiner Atemzüge, Gedanken, Gespräche und Wünsche. Auch alle großen und kleinen Häuser, Straßen, Züge wären versammelt, das Licht und seine Schatten, Vögel und Wolken, das Wasser der Flüsse, das Meer, das Lachen der Kinder, und jede der Beckettgestalten, die mir begegnen, wohin ich auch geh. Könnte zufrieden bald in einem Park sitzen und warten, 1 Stundenzeit in der Hosentasche. Auf dem Tisch eine Traube, mein Blick ruht sich aus. Dann wieder gehen, Stunde um Stunde gehen und schlafen, schauen und zugleich nicht schauen, kurze Blicke, Sekundenbilder, Augen geschlossen, Blicke durchs transparente Lid abends auf der großen alten Brücke mit der blätternden rostigen Haut, das Vibrieren der Schritte, der Stimmen auf hölzernen Stegen von Insel zu Insel. — stop