nordpol : 20.18 — Manchmal, während ich spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und demselben Moment. Ich vergesse Ampeln, Taxis, Türsteher, Zebrastreifen, die Gesichter wartender Menschen, Auslagen teurer oder billiger Läden, Nepp, Perücken, die Nahrung in den Händen der Gehenden, Wörter aus dem Gewirr der Stimmen, Gespräche, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, fünf Blocks den Broadway nordwärts, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
Aus der Wörtersammlung: zeit
central park : grammophon
foxtrott : 0.15 — Im Central Park zur Mittagszeit ein betender Mann, Moslem, Rikschafahrer, der Höhe 61. Straße unter einer mächtigen, weitverzweigten Ulme kniet, vielleicht unter einem jener Bäume, deren Setzlinge im Jahr 2008 nach Oregon geschickt wurden, um sie dort großzuziehen und wieder nach Manhattan zurückzuholen. Das klagende Singen der Kinderschaukel. Ein Eichhörnchen hetzt über eine Wiese. Bald kauert das Tier in der Nähe des betenden Mannes, scheint ihn zu beobachten. Ich könnte jetzt warten, bis der Mann mit seinem Gebet fertig geworden ist. Ich könnte mich zu ihm in seine Rikscha setzen. Wir könnten gemeinsam durch den Park fahren. Ich könnte ihm eine Geschichte erzählen. Ich könnte erzählen, dass ich soeben noch in einem Café hörte, wie eine junge, lustige Mutter von ihrer Absicht berichtete, ihren Sohn, der noch nicht geboren worden ist, mit dem Namen „Grammophon“ zu versehen. Das ist eine wirklich aufregende Geschichte, die ich tatsächlich sofort erzählen sollte. Ich sollte den jungen Mann weiterhin fragen, ob er mir vielleicht erklären wolle, weshalb es lebensgefährlich für mich sein könnte, wenn ich mich fragend über Mohammed, den Propheten, äußern würde. Vielleicht würde der junge Mann bremsen, vielleicht sich unverzüglich von seinem Fahrrad schwingen. Wir würden uns auf eine Bank setzen und Geschichten erzählen von Grammophonen, von Propheten und wie es ist, im Winter Rikscha zu fahren. Und vielleicht würde ich ihm dann noch vom Schnee erzählen, den ich als Kind aus der Luft gefangen habe. Ja, so könnten wir das machen, sofort, gleich, wenn der betende Mann sich erheben wird. — stop
manhattan : zuccotti park
marimba : 17.55 — Die folgende Geschichte, oder Teile dieser Geschichte, haben sich in meinem Leben nicht gerade so ereignet, wie ich sie erzählen werde. Ich habe sie mir ausgedacht, das heißt, die Geschichte, die von einer Pizzeria berichtet, ist mir eingefallen, als ich tatsächlich genau diese erzählte Pizzeria besuchte in der Greenwich Street nahe dem Zuccotti Park. Ich war einige Stunden in der Fähre zwischen Manhattan und Staten Island gependelt, hatte Geräusche aufgenommen, fotografiert und über Gerüche notiert. Saß nun auf einem Hocker am Fenster des kleinen italienischen Ladens in der Wärme, aß und trank und schaute auf den Zaun, hinter dem sich unmittelbar das Gelände des World Trade Centers befindet. Ich versuchte mir vorzustellen, wie dieser Ort den Einsturz der riesigen Gebäude überstehen konnte, was in diesen Räumen geschehen war in den Minuten der Katastrophe. Fenster könnten geborsten, Tisch und Stühle vom Luftdruck der Staubwolke durch den Raum geschleudert worden sein. Vielleicht hatten sich Menschen bis hierher geflüchtet, vielleicht waren sie verletzt, vielleicht waren sie an dieser Stelle gestorben, erstickt, erschlagen oder verbrannt. Der kleine Laden jedenfalls hatte sich gut erholt. Keinerlei Spur von der Hölle, die sich in nächster Nähe entfaltet hatte. Auch der Mann hinter dem Tresen wirkte kräftig und gesund, obwohl der Lärm der gewaltigen Baustelle hinter dem Zaun an seinen Nerven gezerrt haben musste. Ich überlegte, ob er Augenzeuge gewesen sein könnte, beobachtete ihn eine Weile, und als er sich einmal näherte, fragte ich ihn. Der Mann musterte mich mit einem schnellen Blick, ohne zu antworten. Bald stand er wieder hinter seinem Tresen, so als wäre nichts geschehen, keine Gegenfrage, kein Versuch, in der Zeit zurückzukommen. Ich konnte in diesem Moment nicht einmal sagen, ob ich tatsächlich gefragt oder mir die Frage nur vorgenommen hatte, auch ob der Mann so lange geschwiegen hatte, bis ich mich der Türe näherte, um auf die Straße zu treten, konnte ich nicht mit Sicherheit behaupten. Seine Stimme in diesem Moment: It was horrible! Dann wieder das Rattern der Motorschrauber. Im Park, im berühmten Zuccotti Park, eine Handvoll Menschen von Polizisten umringt. Keine Zelte, keine Möwen, aber Tauben, Tauben, Tauben. — stop
chelsea : ein stunde
echo : 0.28 — In der 22. Straße West existiert ein kleiner Laden für Lampions und andere papierene Lichtbehälter. Wenn man den Laden betritt, meint man sofort, sich selbst in einem Lampion zu befinden, weil Wände, wie sie in Häusern üblich sind, dort nicht zu existieren scheinen, nur Licht und eben Papiere in allen erdenklichen Formen. Ein Ort von Stille, die Luft duftet feinst nach der Wärme tausender Lampen, die im Inneren der Lampions stationieren. Menschen sind zunächst nicht zu sehen, weil sich jene Menschen, die zum Laden gehören, weder bewegen noch sich über Sprache äußern, vielleicht deshalb, weil sie in den Laden eintretende Menschen nicht stören wollen im Bestaunen leuchtender Krokodile, Schwertfische, Zeppeline. Es ist nun tatsächlich möglich, diese verborgenen Personen in Bewegung zu versetzen, in dem man sie bemerkt, sagen wir, mit einem Blick berührt. Genau in diesem Moment einer Berührung treten sie aus dem Licht heraus in den Raum, eine zierliche Frau und ein zierlicher Mann, sie werden vermutlich schon sehr lange Zeit verheiratet sein, so wie sie sich benehmen, glückliche, freundliche Menschen. Alle ihre Waren im Übrigen beschriften sie noch von Hand, zwei Monde von blauer Farbe zu je 1 Dollar 48 Cent. Im Schaufenster findet sich folgendes Schild: Täglich von Montag bis Sonntag 25 Stunden geöffnet. — stop
manhattan : canal street
tango : 10.15 — Ich habe einen merkwürdigen Kondukteur der Subway mit Taucherbrille beobachtet. Der Mann war auf der N‑Linie von Brooklyn her kommend in die Canal Street eingefahren. Ein seltener Anblick. Sein schmaler Kopf, der aus einem der mittleren Waggons des Zuges ragte, im Fahrtwind wehendes, schlohweißes Haar, und eben seine Brille, deren Scheibe Augen und Nase unwirklich vergrößerte. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, die Taucherbrille des Mannes sei mit Wasser gefüllt. Ich wollte den Mann fotografieren, aber das Licht der Station war spärlich und der Mann schaukelte ohne Pause seinen Kopf hin und her wie ein alter, müder Elefant, vermutlich weil er sich um einen umfassenden Blick der Ereignisse auf dem Bahnsteig bemühte. Es ist nun denkbar, dass ich eine Person beobachtet habe, die fest mit dem Führerhaus des Zuges verwachsen war, denn der Mann fügte sich harmonisch in das Bild, das ich mir seit jeher von wirklichen Zugführern mache, Menschen, die auf Zugständen geboren werden, Menschen, die auf Zügen fahrend ihre Kindheit verbringen, Menschen, die letztlich ihren persönlichen Zug zur Lebzeit niemals verlassen. — stop
east village : gehschläfer
marimba : 0.18 — So, stelle ich mir vor, könnte das sein. Es ist Abend geworden, Zeit das Büro zu verlassen. Man tritt vor das Gebäude, in dem man seine Tage fristet, setzt sich ein elektrisches Häubchen auf den Kopf und schon schließt man die Augen und schläft und geht in dieser Weise schlafend auf Wegen nach Hause, die für schlafende Menschen vorgesehen sind. Niemand würde je auf die Idee kommen, einen schlafenden Pendler zu wecken. Drei Stunden, sagen wir, im Tiefschlaf schreitet man die 5th Avenue downtown, biegt bald in die 23. Straße ein, folgt ihr, weiß der Himmel wovon man gerade träumt, bis zur 1st Avenue, um kurz darauf in der 20. Straße zu landen, Haus No 431, dort wird man geweckt und findet sich im Aufzug wieder, wie frisch gebadet im Kopf, um eine Nacht reicher geworden, zu feiern, zu lieben, mit Kindern zu spielen. Am nächsten Morgen macht man sich wieder auf den Weg, setzt sich sein Häubchen, und auch die Kinder setzen sich ihre Häubchen auf den Kopf, und so weiter und so fort. Irgendwo sollte eine zentrale Station existieren, die Schlaf und Schritte jener schlummernden Menschen steuert. — stop
manhattan : 22. etage
delta : 0.52 — In der Nähe des Himmels zu wohnen, das ist schon eine seltsame Sache. Während ich gestern Morgen ein Bad genommen habe, versuchte ich mir vorzustellen, dass sich unter mir weitere 21 Badewannen befinden könnten, und dass sich genau in diesem Moment 21 Personen unter mir sich in derselben Situation, nämlich in der Badewanne aufhalten werden, vielleicht singen, Radio hören, in der Zeitung lesen, oder einen Kaffee trinken. Ich komme, genaugenommen, mittels meiner Fantasie noch in die Etage unter mir, weiter komme ich nicht. Ich bin außerstande, mir vorzustellen, wie hoch ich doch sitze, in der Flughöhe der Möwen, ich höre den Wind um die Fenster streichen, ich glaube, es ist denkbar, dass ich der einzige Mensch in diesem Hause bin, der sich Gedanken macht um das Baden oder das Schlafen oder Spazieren in dieser Höhe. — stop
union square : funkempfänger
ulysses : 0.08 — Im Taxi, in eine Wand eingelassen, die den Raum des Fahrers von meinem Raum sorgfältig trennt, ein Fernsehgerät, das sich nicht ausschalten lässt. Überhaupt scheppert das Fahrzeug in einer Weise, als wären sämtliche Schrauben, die am Morgen dieses schönen Tages zu lösen gewesen waren, mit Absicht freigelassen. Es ist ein altes Taxi, eines, das man fotografieren könnte, es wäre nicht möglich, zu sagen, in welchem Jahr in New York man sich genau befindet, nicht einmal das Jahrzehnt wäre eindeutig festzustellen, in diesem Taxi könnte mein Vater noch gefahren sein, zu einer Zeit, da ich selbst noch kaum des Laufens mächtig gewesen war. Vielleicht lässt sich das Fernsehgerät deshalb nicht ausschalten, weil es eigentlich nicht in dieses Fahrzeug gehört, es ist eine nachträglich eingebaute Persönlichkeit, die Sequenzen einer aktuellen Wirklichkeit empfängt und wiedergibt. Irgendwo muss das Auto über einen Funkempfänger verfüge für Fernsehwellen. Gerade sehen wir Mr. Romney, aber wir hören ihn nicht, weil das Automobil scheppert und weil der Fahrer versucht sich mit mir zu unterhalten, während ich versuche, ihm mitzuteilen, dass ich das Fernsehgerät gerne leiser stellen würde, oder ausschalten noch viel lieber, um ihn, den Fahrer verstehen zu können. Am Union Square halten wir an, und der Mann, der mich fährt, ein sehr junger, sehr korpulenter schwarzer Mann verlässt sein Automobil, um sich die Sache mit dem Fernsehgerät näher anzusehen. Eine besondere Situation ist nun entstanden, weil der Fahrer eigentlich sein Fahrzeug nie verlässt, so sieht er jedenfalls aus, es könnte sein, dass er nicht wieder hineinfindet in seinen Wagen und es ist noch dazu keine Zeit für solche Dinge, wir stehen inmitten des Verkehrs, es könnte alles mögliche passieren an dieser Stelle. – stop
downtown south ferry : lorra
nordpol : 0.22 — Elendsmenschen unter Decken, unter Mänteln, unter Kartons verborgene Personenwesen, zerschlagene, gefrorene, eiternde Gesichter zu Tausenden auf der Straße, in Tunnels, Hauseingängen, Parks. Ich kann nicht erkennen, ob sie Frauen oder Männer sind, sie sprechen und bewegen sich nicht, oder nur sehr langsam, als würden sie sich in einer anderen Zeit befinden. Wer noch gehen kann, wer noch über Kraft zu sprechen verfügt, wandert in der Subway, eine äußerst schwierige Arbeit, das Erzählen immer wieder ein und derselben Geschichte: Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit! Ich bin Lorra, ich bin 32 Jahre alt, ich bin wohnungslos, ich habe keine Arbeit, ich habe Kinder, wir müssen über den Winter kommen. Von Waggon zu Waggon. Von Zug zu Zug. Stunde um Stunde. Sie nimmt auch zu essen, zu trinken, Papier oder leere Flaschen an. Alles hilft, sagt Lorra, alles hilft. Sie wird nicht verhöhnt, vertrieben oder missachtet, sie bekommt, sooft ich ihr in der Linie 5 downtown South Ferry begegnete, zwei oder drei Dollar überreicht. Abends sitzt sie im Wartesaal der Fähre und schläft. Einmal nähert sich ein Polizist. Lorra war ein wenig zur Seite gefallen. Er spricht sie an, er berührt sie an der Schulter: Mam, ist alles in Ordnung? Aber Lorra antwortet nicht. Ein zweiter Polizist kommt hinzu. Er fragt: Ist sie noch am Leben? Sie richten die schlafende Frau gemeinsam auf. Sie tragen jetzt Handschuhe von Plastik. Sie sprechen so lange leise auf Lorra ein, bis sie die Augen öffnet. Dann macht sie die Augen wieder zu. — stop
manhattan : subwayaugen
tango : 0.02 — Ich fahre in der Subway, ein Buch in Händen, in oder über der Stadt unter Menschen sitzend dahin und bändige meinen Blick. Ich kann nun tatsächlich lesen, also abwesend sein. Oder ich kann vorgeben, als ob ich lesen würde. In diesem Fall betrachte ich Buchstaben oder die Seite eines Buches und ihre Zeichen oder das Buch insgesamt. Andere, die in meiner Nähe reisen, betrachten ihre Hände oder ihr Telefon oder eine Zeitung. Wieder andere lesen in der Zeitung, sind demzufolge tatsächlich nicht anwesend oder nur zum Teil anwesend, während ein Auge den Zeilen folgt, trachtet das andere Auge nach innen gerichtet in den kommenden Abend oder auf den vergangenen Morgen zurück. Gestern, auf der Fahrt mit der Linie D von der 96. Straße West nach Coney Island, habe ich ein schönes Buch beobachtet. E.B.Whites Essay Here is New York. stop. Regen. stop. Es ist warm geworden. Manche New Yorker tragen Sommerkleidung für einen Tag, andere Handschuhe. In der Dämmerung in den Pfützen der Straßen wieder blinkende, dampfende Hunde, künstliche Lichtnaturen. Gespenster. — stop