alpha : 6.28 — Halbdunkel. Vor einem Fenster steht ein Bett. Das Fenster ist leicht geöffnet, Jalousien rippen das Licht, das spärlich hereinkommt. Es könnte Vormittag sein oder Nachmittag. Zufällig habe ich den Film in genau dem Moment angehalten, als eine Fliege den aufgenommenen Flugraum durchkreuzt. Die Gestalt des Tieres ist nicht ganz scharf zu sehen, Beine, die fest an den Körper gepresst sind. Es ist die erste Fliege, die ich in dieser Haltung wahrnehme, ein kleiner Vogel, denke ich im ersten Moment, und dass diese Fliege eigentlich dort, wo sie sich befindet, nichts zu suchen hat. Es handelt sich bei dem abgedunkelten Raum um ein Hospitalzimmer. Neben dem Bett steht ein Tisch, dicht an einer Wand, deren Farbe blättert. Auf diesem Tisch kauert ein Gerät, das Kurven zeigt, Pulse, weiterhin Zahlen, Blutdruckwerte vielleicht. Eine Karaffe mit Flüssigkeit ist zu sehen und ein Schulheft, geöffnet, Schriftzeichen. Ich bin der arabischen Sprache nicht mächtig, und doch vermag ich zu erkennen, dass diese Schriftzeichen arabische Schriftzeichen sind, auch weil ich weiß, dass der Film, den ich angehalten habe, in der Stadt Tripolis aufgenommen sein könnte. Vermutlich wurden die Zeichen von einer jungen Frau geschrieben, die in jenem Bett liegt, auf welches das Zebrastreifenlicht fällt. Die Augen der jungen Frau sind geschlossen, ihre Haut ist weiß wie Schnee, ihr Kopf leicht nach links gerichtet oder gefallen. Ein sehr schöner Mund, das Haar von einem Kopftuch bedeckt. Die Ebenen unter ihren Augen erscheinen dunkel, Monde, Schattenmonde. Hände und Schultern liegen unter einer Decke verborgen, die hell ist, ein Laken. Kein Geräusch ist zu hören. Das Geräusch, das zu dem Film gehört, ist in dem Moment, da ich den Film angehalten habe, ausgefallen. Wenn man ein Geräusch anhält, hört man nichts. Das ist seltsam. Ich erinnere mich, dass da ein Geräusch gewesen war, kurz bevor ich den Lauf des Filmes stoppte, Stimmen auf einem Flur und ein Rauschen, ich nehme an, vom Fenster her. Die Augen der liegenden Frau waren geöffnet gewesen, dunkle Augen, und doch hell und weit. Sie erzählte, dass sie nicht wisse, wie sie hierhergekommen sei. Man habe ihr berichtet, dass man sie in einem Auto über die Grenze brachte, aber sie wisse das nicht mit Sicherheit, weil sie sich nicht erinnern könne. Ihre Beine seien fort. Und ihre beiden Kinder, Mädchen, seien tot. Und ihr Bruder. Und ihre Mutter. Aber auch das wisse sie nicht genau, man habe ihr das erzählt, aber sie könne sich nicht erinnern. Dann schloss sie die Augen. Und ich habe den Film angehalten. Ich habe den Film angehalten in genau dem Moment, da eine Fliege das Bild kreuzte. Kein Ton. — stop
Aus der Wörtersammlung: alpha
lichtpilze
alpha : 6.55 — Noch nie habe ich aus der Sicht eines Tauchers oder eines Fisches fallenden Schnee wahrgenommen. Ich stelle mir vor, dass eine Schneeflocke wie ein urplötzlich aus dem Nichts kommender Lichtpilz erscheinen könnte, ein Wesen, das in genau dem Moment, da ich es wahrnehmen kann, bereits wieder verschwunden sein wird. Muss auf Winter warten. — stop
kamele
alpha : 8.02 — Wartete in der Metrostation Charles Michels auf einer hölzernen Bank, hatte meine Füße in warmen Sand gesteckt. Dünen, kniehoch, eilten von Süden nach Norden durch die Untergrundstation, ohne dass eine Windbewegung zu spüren gewesen wäre. Da waren Kamele in der Größe menschlicher Hände. Sie bewegten sich mit den Dünen und sie waren blau, von einem vornehmen Blau, ultramarin oder etwas dunkler. Bald ließen sie sich vor mir nieder und ruhten, wie Kamele ruhen, den Kopf hocherhoben, kauend, mal das eine Auge geschlossen, dann das andere. Wie ich sie so träumend betrachtete, erinnerte ich mich, dass ich diesen Traum schon einmal träumte. Ich ahnte, dass bald ein Zug aus dem Tunnel kommen würde, ein Zug gefüllt mit Sand, und dass ich mich erheben und in den Zug steigen und erwachen würde. Genau so ist es gekommen. Und jetzt sitze ich hier am Schreibtisch und notiere diesen Traum, obwohl ich doch von der Entdeckung der Eisbücher berichten wollte. – Guten Morgen!
blitzkäfer
marimba : 6.42 — Man erzählt, Blitzkäfer in freier Wildbahn seien selten geworden. Einer der letzten auf dem europäischen Festland wohnenden Käfer dieser Gattung soll am vergangenen Wochenende nahe Straßburg entdeckt und gefangen genommen worden sein. Das Tier wurde kurz vor seiner drohenden Entladung in einen botanischen Sammler mittels eines isolierenden Käfigs von Porzellan arretiert und befindet sich derzeit im zoologischen Garten zu Oslo. Nun sollte man wissen, Biltzkäfer sind gefährliche Personen, obgleich sie zunächst eher harmlos erscheinen. Von einer hellen runden Panzerung umgeben, verfügen sie über außerordentlich kurze kräftige Beine, über einen Kopf weiterhin, der an ihrem Körper kaum in Erscheinung tritt, weil er sehr klein ist und auf dem voluminösen Körper unmittelbar aufsitzt, Wesen ohne Hals, die sich sehr langsam vorwärts, rückwärts oder seitwärts bewegen. Sobald man einen Blitzkäfer anzuheben wünscht, wird man überrascht seine Schwere bemerken, man kann ihn von Hand kaum von einem Untersuchungstisch bekommen, so schwer ist die Käferkreatur. An seinem höchsten Punkt, exakt seinen Beinen gegenüber, erhebt sich ein Stachel, der sich gegen den Himmel richtet. Von dort kommen Blitze an oder gehen von dort aus wieder in die Luft. Blitzkäfer summen. Das ist ein Geräusch, welches höchste Gefahr signalisiert, für Leib und Leben. — stop
mississippi
alpha : 6.15 — Während ich Stunde um Stunde in Stewart O’Nan’s Roman Last Night at the Lobster lese, immer wieder das Wort Mississippi im Kopf. Die Idee, dass das Wort Mississippi in der Fortsetzung der Lektüre nach und nach alle weiteren Wörter und Gedanken ersetzten könnte. stop. In einem Wort verschwinden. – stop
transit
alpha : 1.30 — Es ist still im Haus. Draußen zaust ein kühler Wind Bäume und Sträucher, während die Venus, ein Punkt, über den abgedunkelten Sonnenball auf dem Bildschirm meines Computers wandert. Das sind Bilder, die von der NASA gesendet werden, das beobachtende Maschinenauge befindet sich auf dem Mauna Kea, Hawaii. Ich habe die Sonne noch nie zuvor in dieser Weise betrachtet, Echtzeit, in dem Sinne Echtzeit, dass ich die Sonne betrachten kann, ohne meine Augen schließen zu müssen und in dieser Weise wahrzunehmen vermag, wie sich ihre Oberfläche tatsächlich bewegt. Oder irre ich mich? Alles das, was ich sehe, liegt bereits 8 Minuten in der Zeit zurück. Es ist denkbar, dass ich die Bewegung nur deshalb zu erkennen meine, weil ich weiß, dass diese Bewegung existiert. Ja, es ist still im Haus. Der Regen peitscht gegen die Scheiben. Ich bin ruhig. Alles schläft. — stop
fliegende brillen
alpha : 17.03 – Heute Morgen, war noch dunkel im Haus, hörte ich ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch näherte sich über die Treppe abwärts. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine der Brillen meiner Mutter, die seit dem Vorabend über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen bis hin zu einem Gewicht von 80 Gramm in die Luft zu heben, sie vorwärtszubewegen oder rückwärts durch Räume oder den Garten. Langsam durchquerte die Brille den Raum, kreiste einmal um meinen Kopf, und landete schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem meine Mutter sitzt, sobald sie ihr Frühstück zu sich nehmen möchte. Über drei Brillen verfügt meine Mutter, und jede dieser Brillen kann nun fliegen. Eine Brille wurde im Dachgeschoss stationiert, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte zu ebener Erde. Wenn nun Morgen wird, zu einer Zeit, da fast alle Menschen noch schlafen, erwachen vor den Vögeln bereits die Brillen meiner Mutter. Sie beginnen zu blinken, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels Funksignalen orientieren. Bald fliegen sie los, die Dachgeschossbrille ins Dachgeschoss, die Brille der ersten Etage in die erste Etage, die Brille des Erdgeschosses ins Erdgeschoss. Das Suchen hat nun ein Ende, alles wird gut! – stop
apollo
ulysses : 0.05 — Im Alter von drei Jahren liege ich auf warmem Land, das atmet. Bald fliege ich durch die Luft, schwebe über dem Bauch meines Vaters und lache, weil ich gekitzelt werde. Meine Stimme, meine kindliche Stimme. Und da sind eine hölzerne Eisenbahn, das Licht der Dioden, dampfendes Zinn, Lochkarten einer Computermaschine und die Geheimnisse der Algebrabücher, die der Junge von sechs Jahren noch nicht entziffern kann. Aber Forscher, wie der Vater, will er schon werden, weshalb er die Schneespuren der Amseln, der Finken, der Drosseln in ein Schulheft notiert. Zu jener Zeit drifteten Menschen bereits in Geminikapseln durch den Weltraum, um das Sternreisen zu üben. Nur einen Augenblick später waren sie schon auf dem Mond gelandet, in einer Nacht, einer besonderen Nacht, in der ersten Nacht, da der Junge von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarz-weißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch der Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er soeben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht, in genau derselben besonderen Nacht, saß zur gleichen Minutenstunde irgendwo im Süden der Dichter Giuseppe Ungaretti vor einem Fernsehgerät in einem Sessel und deutete in Richtung des Geschehens fern auf dem Trabanten auf der Bildschirmscheibe, auf einen Astronauten, wie er gerade aus der Landefähre klettert, oder habe ich da etwas in meinem Kopf verschoben? Sicher ist, auf jenem Fernsehgerät, vor dem Ungaretti Platz genommen hatte, waren drei weitere, kleinere Apparate abgestellt. Alle zeigten sie dieselbe Szene. Echtzeit. Giuseppe Ungaretti war begeistert, wie wir begeistert waren. Ja, so ist das gewesen, wie heute, viele Jahre später. – stop
trillerpfeife
alpha : 8.25 — Vor einem Jahr im Frühling, während eines Spazierganges, erzählte eine Freundin vom Tod ihres Vaters. Dass sie sich lange Zeit vorbereitet habe. Ihn manchmal betrachtete, als sei er schon nicht mehr anwesend, eine Vorstellung, eine Erinnerung. Sie habe ihn dann berührt, um sich zu orientieren. In den letzten Jahren seines Lebens habe ihr Vater vorwiegend geschlafen. Er konnte die Berge vor seinem Fenster nicht mehr sehen, obwohl er noch gute Augen hatte, eine Bewegung, als würde er seinen Blick nach innen richten. Als dann der Vater tatsächlich gestorben war, sei nichts so gewesen, wie sie es sich ausgemalt hatte. Man könne sich, sagte sie, nicht vorbereiten, es sei ein sehr merkwürdiges Gefühl, ein Passagengefühl, wie auf einer wilden Schaukel fliegend. – Die Schuhe meines Vaters an diesem Morgen. Der Sessel, in dem er saß. Sein Fotoapparat. Seine Computermaschine. Sein Radio. Seine Brille. Die Trillerpfeife, mit welcher er uns um Hilfe rufen konnte. Seine Uhr. — stop
wörterzunge
alpha : 2.05 Hörte im Bildschirmgespräch Thomas Bernhard wieder sagen: Alles ist immer wirklich, es gibt nichts Erfundenes. Froh bin ich über diesen Satz. Nach Selbstbeobachtung scheint in meiner erzählenden Welt ein Zeitannäherungswerk zu existieren, das nach Entdeckung zunächst arbeiten muss im Kopf. Ich habe gestern unter anderem den Versuch eines Mannes notiert, eine Biene von Stein zu fabrizieren, ein soziales Wesen, das in der Lage sein sollte, sich in die Luft zu erheben. Diese Vorstellung war mir zunächst fremd gewesen, mein eigener Gedanke. Als ich dann nach zwei Stunden von einem Spaziergang an den Schreibtisch zurückkehrte, war mir der Mann und sein Unternehmen so vertraut geworden, als würde er in einer benachbarten Wohnung leben, ich würde ihn besucht haben und über die Schulter geschaut, wie er etwas Felsspat mit einem Meißelchen behutsam fächert, dass es als Flügelteilchen bald einmal durch die Luft segeln könnte. Es scheint vielleicht so zu sein, dass sich meine Wirklichkeit zunächst mittels einer Wörterzunge vorsichtig in unbekannte Räume tastet. — Vier Uhr zwei in Homs, Syria. — stop