Aus der Wörtersammlung: arm

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lilly

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del­ta : 0.05 — Ich woll­te mit einem armen Men­schen spre­chen, woll­te erfah­ren, wie es ist, mit­tel­los gewor­den zu sein. Ich hat­te Glück, eine Bekann­te, die für die Bahn­hofs­mis­si­on arbei­tet, erwähn­te eine selt­sa­me Frau, Lil­ly, die sich seit Mona­ten auf den Bahn­stei­gen 22, 23 oder 24 gewöhn­li­cher­wei­se auf­hal­ten wür­de, sie sei sehr lieb und sehr arm und wür­de ger­ne erzäh­len. Ich ent­deck­te Lil­ly auf einer Bank sit­zend, Bahn­steig 18, sie war zunächst eher scheu gewe­sen, aber dann doch bereit sich mit mir zu unter­hal­ten. Ja, Lil­ly. Sie spricht schnell, wenn sie spricht, und sie schämt sich ein biss­chen, viel­leicht des­halb, weil sie ahnt, dass sie nicht so gut riecht, wie sie ger­ne rie­chen möch­te, und ihr Haar, das hell gewor­den ist an der ein oder ande­ren Stel­le, scheint feucht und kleb­rig gewor­den zu sein vom Talg. Ich fas­se zusam­men, was Lil­ly etwas durch­ein­an­der her­umer­zähl­te. Wenn eine Frau arm gewor­den sei, wenn eine Frau auf der Stra­ße leben müs­se, erklär­te Lil­ly, soll­te sie zunächst ver­su­chen, solan­ge Zeit wie mög­lich ihren Sta­tus der Armut zu ver­ber­gen, sie soll­te so wir­ken, als habe sie noch Geld zur Ver­fü­gung, als sei alles in Ord­nung, dann wür­de man sie aus den War­te­räu­men eines Bahn­ho­fes bei­spiels­wei­se oder eines Flug­ha­fens nicht ver­trei­ben. Sie tra­ge aus genau die­sem Grund noch immer einen Hosen­an­zug, manch­mal, bei gnä­di­gem Licht, wir­ke sie so, als wür­de sie zur Arbeit gehen oder soeben von der Arbeit kom­men. Mei­ne Schu­he sind geputzt, und wenn ich sie scho­nen wer­de, soll­ten sie doch noch lan­ge Zeit als Schu­he einer erfolg­rei­chen Frau erschei­nen. Ich habe gelernt, im Sit­zen zu schla­fen, weiß jeder­zeit, wo ich mich waschen könn­te, auch mei­ne Blu­se, mei­ne Strümp­fe, es ist sehr anstren­gend, mich selbst und mei­ne Klei­dung in all­ge­mein zugäng­li­chen Toi­let­ten­räu­men zu säu­bern, immer­zu bin ich erschöpft, nie­mand kennt mich per­sön­lich, weiß, woher ich kom­me, ahnt, wer ich ein­mal gewe­sen bin. Ich esse spar­sam, ich esse, was ich fin­de, und trin­ke aus öffent­li­chen Brun­nen. Ich darf nicht rau­chen, ich darf kei­nen Alko­hol trin­ken, das ist ja selbst­ver­ständ­lich in mei­ner Lage! Ein­mal im Jahr neh­me ich einen Zug und fah­re im Win­ter nach Süden, ein wei­te­res Mal fah­re ich im Som­mer nach Nor­den, aber das ist nur aus­ge­dacht. Ich lese Zei­tun­gen, die ich da und dort ent­de­cke. Ich spre­che mit den Tau­ben, lei­se, sehr lei­se, damit ich nicht ver­rückt wer­de. In mei­nem Kof­fer befin­det sich eine zwei­te Blu­se, und dies und das und ein Paar Turn­schu­he, ein Hals­tuch in roter Far­be, ein Hals­tuch in gel­ber Far­be, ein Hals­tuch in blau­er Far­be, das grü­ne Tuch tra­ge ich gera­de in die­sem Moment, ich habe einen schö­nen Hals, nicht wahr! Ja, ich darf nicht rau­chen und nicht trin­ken und nicht ver­rückt wer­den, das ist drin­gend, ich muss bei mir sein, ich fürch­te Schlaf­häu­ser, ich fürch­te die­se schreck­li­chen Schlaf­häu­ser, ich bin mir nicht sicher, ob ich noch bin. — stop

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minutenbild

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hima­la­ya : 3.12 — In einer Schub­la­de mei­nes Vaters ent­deck­te ich Blei­stif­te, Spit­zer, Linea­le, Rechen­schie­ber, Uhren und eine Tril­ler­pfei­fe. Zwei Kleb­stoff­tu­ben, hart wie Stein, waren nie geöff­net wor­den. In einer Schach­tel von Metall eine Hand­voll Bat­te­rien. Sie gehör­ten zu einem Blut­druck­mess­ge­rät, das ich sel­ten beach­te­te, solan­ge mein Vater noch leb­te. Es war ein Gerät für alte Leu­te, schein­bar unsicht­bar für die Augen eines jun­gen Man­nes. Ich erin­ne­re mich, bei­na­he hät­te ich die­ses Minu­ten­bild ver­ges­sen, wie mein Vater vor sei­nem Schreib­tisch sitzt, die Man­schet­te des Prüf­ge­rä­tes um den lin­ken Arm gelegt. Das Geräusch einer Pum­pe ist zu hören, ein Brum­men. Wie mein Vater nun reg­los war­tet auf den Moment, da das Gerät die Umklam­me­rung sei­nes Armes lockern wird, ein scheu­er Blick, so stel­le ich mir vor, auf Leucht­zif­fern, deren Bedeu­tung er fürch­te­te oder über die er sich freu­te. Vor eini­gen Wochen fand ich in einem Ord­ner lan­ge Zah­len­rei­hen in Tabel­len, die der alte Mann selbst ange­fer­tigt hat­te. Sei­ne akku­ra­te Schrift, jede Zei­le ein Zeug­nis von Über­win­dung, ein Beweis, dass mein Vater sich küm­mer­te, dass er kein Flüch­ten­der gewe­sen war. — stop

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london. mittags

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MELDUNG. Auto­mo­bi­le, fol­gen­de, wur­den am frü­hen Nach­mit­tag nach einem Kauf­haus­be­such zu Lon­don in Mar­tha B., 89, vor­ge­fun­den. Magen — 1 Bug­at­ti Ata­lan­te [ 1936 ], Dünn­darm — 1 Bris­son­te Drei­rad [ 1953 ], Dick­darm — 2 Mer­cu­ry 12/14 [ 1914 ]. Ein Rich­ter hat­te die Durch­su­chung des hoch­be­tag­ten Bau­ches drin­gend emp­foh­len. — stop

mskennedy

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von fröschen

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echo : 5.16 — Ein Buch, das ich ges­tern in einer Post­fi­lia­le, Prenz­lau­er­stra­ße 86, abho­len woll­te, war nicht erreich­bar, da die Post­fi­lia­le, die mich von der Lage­rung des Buches tele­fo­nisch unter­rich­tet hat­te, geschlos­sen wer­den muss­te, die Ange­stell­ten der Filia­le sind in einen Streik getre­ten. Das war nicht wei­ter schlimm, weil vor­sorg­lich am Abend zuvor Brie­fe und Bücher­sen­dun­gen in eine benach­bar­te Post­fi­lia­le abtrans­por­tiert wur­den, wie eine hand­schrift­li­che Notiz bezeug­te. Ich setz­te mich auf mein Fahr­rad und fuhr in die Ber­li­ner­stra­ße 8, wo sich mein Buch inzwi­schen auf­hal­ten soll­te. Aber auch dort war nie­mand anzu­tref­fen, aller­dings der Hin­weis, alle Sen­dun­gen die­ser Filia­le, sowie über­nom­me­ne Sen­dun­gen der Prenz­lau­er­stra­ße 86, sei­en wegen außer­or­dent­li­cher Betriebs­ver­samm­lung in die Filia­le am Madri­der Platz ver­bracht. Zügig radel­te ich wei­ter, eine doch beträcht­li­che Stre­cke war zurück­zu­le­gen quer durch die Stadt, es reg­ne­te, und ich dach­te noch, der Him­mel scheint beheizt zu sein, som­mer­lich war­mes Was­ser, die Luft duf­te­te nach Flie­der, über den Asphalt der Stra­ßen hüpf­ten tau­sen­de umbra­far­be­ne Frö­sche, wei­che Kör­per, laut­los, klag­los. Nahe dem Madri­der Platz, unter Kas­ta­ni­en­bäu­men, hock­ten ein paar Leu­te wie unter Schir­men dicht an dicht. Es wur­de lang­sam dun­kel. Ich mei­ne, zu die­sem Zeit­punkt bemerkt zu haben, dass man an der Art und Wei­se, wie Men­schen sich Schutz suchend auf den Boden set­zen, erken­nen kann, wie alt sie sind. – stop

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ein alter mann

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sier­ra : 4.03 — Auf dem Meer. Es ist Nacht, kaum Licht. Die Luft, feucht und warm, ich bin nicht im Was­ser, könn­te sein, dass ich flie­ge, ein Brum­men oder Sum­men ist zu hören. Bie­nen sind in der Luft, umkrei­sen ein Schiff, tau­sen­de Fin­ger­lu­ken im Rumpf, dort flie­gen Bie­nen­we­sen ein und aus. Man­che kom­men aus der Dun­kel­heit her­an, ande­re flie­gen in die Dun­kel­heit davon. Ihre Köp­fe leuch­ten, sie schei­nen über Lam­pen zu ver­fü­gen, Fin­ger von Licht, die durch die Dun­kel­heit zit­tern. Was da summt, Pro­pel­ler viel­leicht. Ich mag nicht schwim­men, den­ke immer wie­der, ich will nicht ins Was­ser fal­len. Dann bin ich plötz­lich in einer Woh­nung im 12. oder 14. Stock eines Hau­ses nahe Cen­tral Park, auch hier Pro­pel­ler­bie­nen. Ich ste­he nahe einem Fens­ter, leh­ne an einer Wand. Ich glau­be, ich selbst habe das Fens­ter geöff­net. Im Zim­mer lun­gern Stüh­le her­um, auf dem höl­zer­nen Boden eine Linie von blau­er Far­be, sie kommt aus einem wei­te­ren Zim­mer, führt durch das Zim­mer, in dem ich war­te, in ein ande­res Zim­mer. Atem­ge­räu­sche. Ein alter Mann, wei­ße Haut, kommt her­an, läuft auf der blau­en Linie, er ist unbe­klei­det, trägt nur ein Paar Turn­schu­he. Der Mann herrscht mich an, ich sol­le das Fens­ter schlie­ßen. Auch um sei­nen Kopf her­um Bie­nen, ein Schwarm, sie wol­len auf ihm lan­den, dann lan­ge Zeit Ruhe, Sire­nen­lau­te, dann wie­der das Geräusch des Atems, das näher kommt. Auf­ge­wacht bin ich gegen zwei. — stop

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nach ferney nach essaouira und von einer kaktusblüte

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nord­pol : 2.52 — In Genf, an einer Stra­ßen­kreu­zung von der Rue de Rho­ne zur Rue d’Italie, sind selt­sa­me Din­ge zu bemer­ken. Män­ner und Frau­en näm­lich, die sich krei­send oder auf und ab über das Pflas­ter bewe­gen, wäh­rend sie das Grün­licht der Ampeln erwar­ten. Bei genaue­rer Betrach­tung möch­te man mei­nen, sie könn­ten viel­leicht nicht in der Lage sein, still­zu­ste­hen. Sie tra­gen Damen­kos­tü­me, Her­ren­an­zü­ge, fei­ne Schu­he, sie sind ver­mut­lich gera­de aus dem Büro gekom­men, befin­den sich auf dem Weg viel­leicht nach Hau­se, zur Bus­sta­ti­on nach Fer­ney, oder ins Kino, ins Thea­ter, zum Jazz, die Son­ne scheint, ers­te war­me Stun­den. Aber auch an einem eis­kal­ten Tag im Win­ter wür­den sie sich genau so bewe­gen, in Krei­sen oder auf und ab. Man nimmt jetzt nur noch sel­ten den Auf­zug, man nimmt die Trep­pe, der Blick hin zum Hand­ge­lenk, zur Appa­ra­tur, die Pul­se, Tem­pe­ra­tu­ren, und auch den Schlaf aus­zu­mes­sen ver­mag. Und noch einen Kreis gleich hin­ter­her und über die Stra­ße, wie vie­le Schrit­te, wie vie­le Schrit­te heu­te, wie vie­le Schrit­te mehr als ges­tern, wie weit bin ich gekom­men in die­sem Monat, viel­leicht bis nach Cham­bé­ry, vor dem Som­mer noch könn­te ich Mont­pel­lier errei­chen, im Win­ter Valen­cia, am Ende des kom­men­den Jah­res wer­de ich in Essaoui­ra sein. – Es ist 2 Uhr und 44 Minu­ten. Gera­de eben noch habe ich mei­nen Kak­tus beob­ach­tet, wie er blüht. Wenn mein Kak­tus blüht, hält er sei­ne Blü­te auch bei Nacht geöff­net, als ob er ahn­te oder wüss­te, dass in mei­nen Zim­mern Nacht­bie­nen und Nacht­win­de woh­nen. — stop

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ein apfel

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india : 1.02 — Der Blick vom 15. Stock eines Apart­ment­hau­ses mit­tels eines Fern­gla­ses über die Park Ave­nue hin­weg. Es ist Abend gewor­den in Man­hat­tan, schon dun­kel. Hin­ter einem unge­wöhn­lich gro­ßen Fens­ter schwebt ein älte­rer Herr unge­fähr einen Meter über dem Boden eines hell erleuch­te­ten Zim­mers. Es han­delt sich um ein geräu­mi­ges Zim­mer, beige­far­be­ne Wän­de. Der alte Herr bewegt sich lang­sam wie in Zeit­lu­pe. Er scheint mir zu win­ken, als ob er mich wahr­neh­men kön­ne, obwohl ich doch im Halb­dun­kel ste­he und zugleich weit ent­fernt bin. In sei­ner lin­ken Hand hält er einen Apfel fest, in der rech­ten Hand ein Mes­ser. Er beginnt den Apfel mit einer krei­sen­den Bewe­gung zu schä­len, schaut immer wie­der in mei­ne Rich­tung. Für einen Augen­blick hält er inne, dann lässt er die Scha­le des Apfels los, sie ent­fernt sich, von einer Strö­mung erfasst, lang­sam, sehr lang­sam, eine Schrau­be von Haut. In die­sen Minu­ten, da ich notie­re, was ich beob­ach­te­te, wird der alte Herr ein­ge­schla­fen sein, der Apfel, den er schäl­te, hat inzwi­schen sei­ne Hand ver­las­sen, sinkt auf den Boden des Zim­mers. — Vier Uhr und sie­ben Minu­ten im Flücht­lings­la­ger Jar­muk nahe Damas­kus. — stop

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nachtflug

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india : 0.18 — In die­sem Jahr ist er spät zu mir gekom­men, der Win­ter längst vor­über. Ein Fal­ter segel­te ges­tern Abend durch mein Arbeits­zim­mer, bald saß er auf dem Boden. Ich näher­te mich sehr vor­sich­tig, hob ihn auf und setz­te ihn behut­sam an eine Wand. — Es ist jetzt kurz nach Mit­ter­nacht. Ein paar Dioden­lich­ter glü­hen zu mir her­über. Ob ich den Fal­ter füt­tern soll­te? Viel­leicht wür­de er etwas Him­beer­mar­me­la­de zu sich neh­men. Ich stel­le mir vor, der Fal­ter könn­te 254 Jah­re alt, er könn­te ein Lich­ten­berg­fal­ter sein, der rasch bei mir zu Kräf­ten kom­men möch­te. Ja, das ist denk­bar, immer wie­der denk­bar. Ges­tern, das will ich schnell noch erzäh­len, habe ich Flug­ver­su­che unter­nom­men mit einer fili­gra­nen Rücken­pro­pel­ler­droh­ne. Es han­delt sich um die Nach­bil­dung eines Tau­ben­schwänz­chen, dem­zu­fol­ge ist sie nicht grö­ßer als 50 Mil­li­me­ter. Ich habe ihr bei­gebracht, mir zu fol­gen, wenn ich durch mei­ne Woh­nung spa­zie­re. In die­ser Ver­fol­gung ist sie bereits sehr prä­zi­se, außer­dem so schnell in ihrer Bewe­gung gewor­den, dass ich sie mit blo­ßer Hand nicht fan­gen könn­te. Ein­mal näher­te sie sich mei­ner Schne­cke Esme­ral­da. Das war ein Moment von höchs­ter Auf­merk­sam­keit, ein Ver­hal­ten, als wür­de das Tau­ben­schwänz­chen mit Esme­ral­da spre­chen, sehr selt­sam, anrüh­rend, die Kirsch­bäu­me blü­hen. — stop

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vor neufundland 18:22:58 uhr : webstimme

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alpha : 22.01 — Fie­ber­ta­ge. Ich mei­ne, stür­mi­schen Wind vor den Fens­tern zu hören. Ein hel­les Geräusch wei­ter­hin in mei­nem Kopf, lei­se, zu jeder Zeit. Ein­mal ste­he ich auf, schal­te mei­ne Com­pu­ter­ma­schi­ne an, ent­de­cke eine Nach­richt Noes. Tag 1498 im Tau­cher­an­zug vor Neu­fund­land, Tie­fe 84 Meter. ANFANG 18.22.58 | | | > ich höre das ticken einer uhr. s t o p ich könn­te die zeit zäh­len. s t o p wei­ter­ma­chen. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e s t r a i g h t a h e a d. s t o p solan­ge ich lache ist leben in mei­nem gehäu­se. s t o p der duft der kirsch­blü­ten. s t o p von einem atem­zug zum ande­ren. s t o p stark. s t o p süß. s t o p viel­leicht flie­der? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p ich stel­le mir vor ich arbei­te­te im welt­raum. s t o p gran­dio­se idee. s t o p da ist etwas das nicht stimmt. s t o p eine mensch­li­che stim­me in mei­ner nähe. s t o p eine war­me mensch­li­che stim­me so nah dass ich den luft­zug spü­re der sie webt. s t o p < | | | ENDE 18.24.28

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