himalaya : 12.18 UTC — n a b e l h e r z
Aus der Wörtersammlung: entwurf
ein mann wird belichtet
charlie : 20.26 UTC — Einmal, vor zwölf Jahren, habe ich eine merkwürdige Person erfunden, einen Mann, der vor einer schweren, mechanischen Schreibmaschine sitzt. Er notiert, ohne ein Farbband eingelegt zu haben. Dann nimmt er das Papier aus der Maschine und macht den Eindruck der Zeichensätze sichtbar, in dem er mit einem Bleistift das Papier verdunkelt. Es ist vielleicht deshalb so gekommen, weil der Mann seine Schreibmaschine nicht aufgeben mochte, ein Lebewesen, für das seit langer Zeit kein Farbband mehr aufzufinden ist. Die Existenz dieses Mannes scheint Jahr für Jahr wahrscheinlicher geworden zu sein. — stop
mumbai
abend
ginkgo : 20.18 UTC — Man könnte sich vor eine Schreibmaschine setzen, mit etwas Schokolade zur Seite und Wasser und Kaffee für ein oder zwei Tage Zeit, auch eine Ente könnte gegenwärtig sein, die bereits gebraten ist, und Brot und Reis. Weil die ausgedachte Schreibmaschine ohne jedes Papier notieren kann, muss man sich über Papiere keine Gedanken machen. Man beginnt zu schreiben. Man schreibt vielleicht zunächst nur ein Wort: Regen. Man schreibt das Wort Regen, weil in diesem Augenblick, da man zu schreiben beginnt, Regen vor den Fenstern vom Himmel fällt. Mit Regen könnte man beginnen, mit dem Wort Regen. Man schreibt also das Wort Regen, das unverzüglich auf dem Bildschirm erscheint. Es regnet. Ich höre, dass es regnet, das Geräusch des Regens, das mir vertraut ist, ein Geräusch, das ich als Kind bereits hörte, wie in diesem Augenblick. Kann mich nicht erinnern, wann es anfing zu regnen, vielleicht während ich noch überlegte, was ich notieren sollte, ein gütiger Regen, ein Regen, mit dem ich beginnen konnte. Wann lernte ich, was Regen ist? Wann hörte ich zum ersten Mal von dem Wort, das Regen bezeichnet? Was kann ich sagen über das Wort Regen. Wie lange Zeit müsste ich notieren in diesem meinem fortgeschrittenen Alter, um all das aufschreiben zu können, was ich weiß vom Regen? Wie viel Gramm? — Was weiß ich noch? — stop
ai : SRI LANKA
MENSCH IN GEFAHR: „Der Schriftsteller Shakthika Sathkumara wurde am 1. April 2019 festgenommen, als er auf einer Polizeiwache erschien, um eine Aussage zu einer Beschwerde zu machen, die buddhistische Mönche hinsichtlich seiner Kurzgeschichte eingereicht hatten. Er wurde unter Paragraf 3(1) des IPbpR-Gesetzes und Paragraf 291(B) des srilankischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Diese Paragrafen lassen eine Freilassung gegen Kaution seitens regulärer Amtsgerichte nicht zu. Deshalb befand sich Shakthika Sathkumara fast vier Monate lang in Haft. Seine nächste Anhörung soll am 30. September vor dem Obersten Gerichtshof stattfinden. / Shakthika Sathkumaras literarische Arbeit ist von mehreren Organisationen, darunter auch dem Ministerium für kulturelle Angelegenheiten und der Kulturabteilung des Ministerpräsidenten der Nordwestprovinz, für Auszeichnungen vorgeschlagen worden. Paragraf 3(1) des IPbpR-Gesetzes und Paragraf 291 des Strafgesetzbuchs kriminalisieren das Propagieren von rassistischem und religiösem Hass, der Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt schürt./ Die Festnahme von Shakthika Sathkumara ist Teil einer beunruhigenden Tendenz, das IPbpR-Gesetz dazu zu nutzen, friedlichen Aktivist_innen und Autor_innen in Sri Lanka die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit abzusprechen. Diese Rechte sind jedoch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben. Im Mai 2019 wurde eine Frau namens M. R. Mazahima unter dem IPbpR-Gesetz festgenommen, weil sie eine Bluse mit dem Aufdruck eines Schiffsteuerrades getragen hatte. Als Begründung wurde von den anzeigenden Personen fälschlicherweise angegeben, dass dies ein buddhistisches Symbol sei. Sie wurde mehr als drei Wochen lang in Gewahrsam gehalten, bis ihr endlich Kaution gewährt wurde. Im Juni 2019 wurde dem Kolumnisten Kusal Perera unter dem IPbpR-Gesetz mit der Festnahme gedroht, weil er über den zunehmenden extremistischen Sinhala-Buddhismus in Sri Lanka geschrieben hatte. / Der willkürliche Einsatz des IPbpR-Gesetzes – das Menschenrechte schützen und nicht gegen sie verstoßen soll – hat zu einem schwierigen Klima im Land geführt. In Sri Lanka reagieren die Behörden extrem sensibel auf vermeintliche Verunglimpfungen des Buddhismus und werden direkt von bestimmten Gruppen buddhistischer Mönche beeinflusst, die die Festnahme und Strafverfolgung von Personen verlangen, von der sie meinen, dass sie die Religion verunglimpft haben./ Gemäß dem IPbpR, an dessen Umsetzung Sri Lanka gebunden ist, darf das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit nur in einem engen, klar definierten Rahmen eingeschränkt werden. Einschränkungen dieser Rechte sind nur dann zulässig, wenn sie nötig sind, um die Rechte und Freiheiten anderer oder bestimmte öffentliche Interessen (wie z. B. die nationale bzw. öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Gesundheit oder Moral) zu schützen, und wenn sie für diesen Zweck nachweisbar notwendig sind. Indirekte oder direkte Kritik an einer Religion oder einem Glaubenssystem darf nicht als Volksverhetzung kriminalisiert werden.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 17.10.2019 unter > ai : urgent action
regen
bamako : 18.55 UTC Morgen oder übermorgen werde ich eine Geschichte erzählen, die mit Jack Kerouac in einer gewissen losen Verbindung stehen wird. Als ich die Geschichte zu notieren begann, erinnerte ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jahren an dieser Stelle bereits gesendet hatte. Es war gleichwohl im September gewesen, es regnete damals und ich spazierte unter einem Regenschirm. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelte. Das war ein feines Gefühl gewesen, unter dem klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehen und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich wiederum an einen kleinen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrieben hatte. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer, auch heute, 12 Jahre später, ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal, zum dritten Mal, für Sie wiederholen: Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works. — stop
blackout
himalaya : 20.58 UTC — Folgende freundliche Darstellung zweier sich zugewandter Gesichter, liegend, in einfachsten Zeichen Buchstabenzeichen dargestellte, sind den Suchmaschinen Yandex, Bing und Google zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt: :-)(-: * Aber die Zeichenfolge :-) (-: Seltsame Geschichte. — stop
vom warten
himalaya : 12.22 UTC — Da sind Menschen, die in einem Kontrollzentrum Bildschirme beobachten. Sie haben sich versammelt, gemeinsam die Landung einer Marssonde zu erleben. Was gerade geschieht, in großer Entfernung, ist derart spannend, dass sie alle ganz still sind. Sie stehen oder sitzen und betrachten also Bildschirme, auf welchen nichts zu sehen ist, als Zahlenreihen, die sie vermutlich zu lesen in der Lage sind, als wären sie Wörter, welche eine Geschichte erzählen, die in diesem Augenblick der Beobachtung vermutlich längst schon vollendet ist. Blackout expected, sagt eine Stimme. — stop
=
charlie : 12.12 UTC — f i n g e r w a l d
stille
echo : 15.02 UTC — Still im Wald an einem warmen Sommertag. Das Licht der Sonne streifte durch Blattdächer der Bäume, die sich kaum noch bewegten, vielleicht weil die Bäume durstig waren. Da und dort ein Falter weiß oder orange oder gelb, die waren schon immer zu leise gewesen im Flug für meine Menschenohren. Zwei Käfer, schwarz und rund, knisterten über den Weg, Blätterrascheln, nur eine Vorstellung, unter ihren Krallenfüßen. Keine Fliegen in der Luft, nicht eine einzige Fliege, aber zwei Vögel, in der ersten Stunde meines Spazierganges im stillen Wald der eine Vogel, und in der zweiten Stunde meines Spazierganges im stillen Wald, ein zweiter Vogel. Auch keine Ameisen weit und breit, keine Laufkäfer, keine Grillen, keine Zikaden. Und die Vögel, die ich beobachtete, waren stumm, vielleicht weil sie durstig oder hungrig waren. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete das Licht der Sonne, das nach mir suchte. Ich holte meine flache Radioschreibmaschine aus der Tasche, suchte in der digitalen Sphäre nach Geräuschen des Waldes, die kürzlich noch zu hören gewesen waren. Das Radio und der Wald. Eine Stille wie Wüste. — stop