ulysses : 6.55 — Associated Press veröffentlichte vor einigen Monaten eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen, vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
Aus der Wörtersammlung: knie
im garten
ulysses : 2.28 — Um mir eine Freude zu machen, gehe ich nachts noch in den Garten. Grüne Falter mit hauchdünnen Flügeln sind unterwegs im Dunkeln. Eigentlich können sie überhaupt nicht fliegen, wie sie wollen, sondern werden von feinsten Strömungen der Luft dirigiert. Kaum habe ich meinen Mund geöffnet, liegt ein flatternder Körper auf der Zunge. Sie schmecken bitter und sie wehren sich tapfer. Diese Fliegen also, und diese Nacht, sternenklar. Ich stehe ganz still, höre einem Flugzeug zu, das südwärts fliegt. Ich warte. Plötzlich ist im Garten jenseits des Zaunes ein Geräusch zu hören. Ein Mann geht gebückt unter Bäumen. Es raschelt. Ich kenne diesen Mann, ich kenne ihn nicht gut, aber ich weiß, dass er bald eine Taschenlampe zücken und in die Knie gehen wird. Er spricht dann, aber so leise, dass ich nichts von den Wörtern hören kann, nicht einmal kann ich sicher sein, dass er Wörter spricht, vielleicht singt er nur vor sich hin, singt, während er mit einer Taschenlampe Gräser beleuchtet. Noch vor wenigen Tagen habe ich mich über den Mann gewundert. In dieser Nacht wundere ich mich nicht. Ich habe erfahren, dass der Mann sich bückt, mit seinem Licht, um nach Schnecken zu suchen. Ich stellte mir vor, der Mann würde seine Beute in eine seiner Hosentasche stecken. Aber so ist das ganz und gar nicht. Sobald der Mann eine Schnecke findet, zückt er im Licht der Taschenlampe eine Schere und schneidet die Schnecke in zwei Teile, sodass sie sich nicht mehr bewegen kann, weil sie tot ist. Ein lautloser Vorgang, so lautlos, dass ich ihn lange Zeit nicht bemerkte, ja, vielleicht niemals bemerkt haben würde, hätte ich nicht von dem seltsamen Verhalten des Mannes erzählt. Nun weiß ich, warum er sich bückt. Noch zehn Minuten, dann geht er wieder ins Haus zurück und auch ich werde nicht mehr da sein. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 875, Luftfahrt — 32, Automobile — 244 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 6, 19. Jahrhundert – 37, 20. Jahrhundert – 76 , 21. Jahrhundert — 188 ], physical memories [ bespielt — 16, gelöscht : 786 ], Flaschenschiff [ RMS Queen Mary : 1 ], Diary [ Linda Zerkafakis 1822 — 1901 : Band 1–4 Lederriemenbindung ] Öle [ 0.01 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 56, Kniegelenke – 33, Hüftkugeln – 125, Brillen – 768 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 2, Größen 38 — 45 : 87 ], Kühlschränke [ 3 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 5, mit Taucher – 6 ], Telefone [ 52 ], Engelszungen [ 12 ] | stop |
quallenhautkoffer
ulysses : 3.25 — Ein blauer italienischer Himmel und Wärme, Hitze. Mitte Mai. Über den Sandboden schaukeln müde Eidechsen, zwei Enten sitzen auf einer Parkbank in unserer Nähe im Park. Als wir telefonierten, erinnert sie mich daran, dass sie in einer Grenzsituation lebe. Ich vergesse immer wieder ihr Alter. Sie sei bald vollständig belichtet, reise aber noch viel herum, Koffer werden ihr getragen, mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, Notizbüchern, einem Notebook. Das Notebook ruht in diesem Moment auf ihren Knien. Sie sucht in der digitalen Sphäre einen Text, an den ich mich erinnern kann. Sie liest mir vor, und ich notiere vom Quallenzimmer. Sie will das Zimmer von meiner Hand in ihrem Notizbuch haben. Ich schreibe langsam. Im Notizbuch finden sich zahlreiche weitere Handschriften, die nicht ihre Handschriften sind. Sie scheint Geschichten zu sammeln, oder Augenblicke des Schreibens. Ich höre meine eigene Geschichte, eine Entdeckung meiner Hände, die von einem freundlichen, hellen Raum erzählen, einem Zimmer von feinster Quallenhaut, einem Zimmer von Wasser, einem Zimmer von Salz, einem Zimmer von Licht. Man könnte dieses Zimmer, und alles, was sich im Zimmer befindet, das Quallenbett, die Quallenuhr, und all die Quallenbücher und auch die Schreibmaschinen von Quallenhaut, trocknen und falten und sich 10 Gramm schwer in die Hosentasche stecken. Und dann geht man mit dem Zimmer durch die Stadt spazieren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaffeehaus und wartet. Man sitzt also ganz still und zufrieden unter einer Ventilatormaschine an einem Tisch, trinkt eine Tasse Kakao und lächelt und ist geduldig und sehr zufrieden, weil niemand weiß, dass man ein Zimmer in der Hosentasche mit sich führt, ein Zimmer, das man jederzeit auspacken und mit etwas Wasser, Salz und Licht, zur schönsten Entfaltung bringen könnte. — stop
ein unfall
whiskey : 3.05 — Es war gestern Nacht um kurz nach drei Uhr, da ist etwas Schreckliches geschehen. Eine Kaffeetasse fiel mir aus der Hand in genau dem Moment, da ich Esmeralda auf dem Weg von der Küche in mein Arbeitszimmer passierte. Die kleine Schnecke war mir auf dem Fußboden entgegengekommen, vielleicht wollte sie nachsehen, wo ich geblieben war. Natürlich wurde sie von der Tasse getroffen, ich hörte ein helles Geräusch, die Tasse zerbrach, Kaffee spritzte gegen die Wände, und ich dachte, dass Esmeralda diesen Unfall nicht überlebt haben könnte. Ich rief: Esmeralda! Um Himmelswillen! Und ging in die Knie. Aber anstatt eines Kalksteinscherbenhaufens, fand ich eine äußerlich vollständig intakte Schnecke vor, die sich allerdings nicht bewegte, vermutlich deshalb, weil sie erschrocken gewesen war. Ich hob sie vorsichtig auf, setzte sie in der Küche auf einen Teller und wartete. Es dauerte ungefähr drei Stunden, bis Esmeralda wieder Zeichen von Leben zeigte. In dieser Zeit wich ich nicht von ihrer Seite, berührte sie immer wieder vorsichtig, um sie zu wecken, redete ihr gut zu, einmal entschuldigte ich mich für meine Unachtsamkeit. Esmeraldas Körper schien in meinen Augen heller geworden zu sein, er schimmerte, plötzlich streckte sie einen Fühler nach mir aus und so war ich unverzüglich wieder glücklich geworden. Seither sind beinahe 24 Stunden vergangen. Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob Esmeraldas Krise überstanden ist, denn sie verhält sich weiterhin merkwürdig, kriecht den Rand des Tellers entlang, ohne eine Pause einzulegen, immer im Kreis herum, immer im Kreis herum. Zeitweise folgte ich ihr mit einer Lupe, um ihr Gehäuse nach Bruchspuren zu untersuchen. Nicht der kleinste Riss war zu erkennen, nicht einmal ein Abrieb, ich konnte den Ort, da die Tasse auf ihrem Gehäuse zerschellte, nicht finden. Und so läuft Esmeralda immer weiter im Kreis herum. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 121, Luftfahrt — 1216, Automobile — 2436 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 3, 19. Jahrhundert – 88, 20. Jahrhundert – 213 , 21. Jahrhundert — 72 ], physical memories [ bespielt — 155, gelöscht : 112 ], Lichtfangmaschinen [ Canon Ixus 155 : 8 ], Diary [ Louisa Shapiro 1901 — 2012 : 1 ] Öle [ 0.56 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 10, Kniegelenke – 26, Hüftkugeln – 43, Brillen – 1566 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 799, Größen 38 — 45 : 564 ], Kühlschränke [ 6 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 8, mit Taucher – 22 ], Telefone [ 624 ], Engelszungen [ 28 ] | stop |
lichtbild : krim
kilimandscharo : 1.55 — Die Nachrichtenagentur Associated Press veröffentlichte gestern eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe, in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen. Ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, die gleich hinter ihr in der Reihe der Wartenden vor der Kasse stehen, es sind vier Personen vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder, sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. — Jeder Blick hinter einer Maske hervor ist ein seltsamer Blick. — Ein anderer der Männer hält seinen geöffneten Geldbeutel in der Hand. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, welches Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, über Sudak, über einer Landstraße, die im April 1986 gut informierte Menschen der sowjetischen Nomenklatura in Bussen aus dem Norden südwärts führte, während zur gleichen Zeit Fahrzeuge der Landstreitkräfte Tausende Ahnungsloser nordwärts in die entsetzlichen Strahlungsfelder Tschernobyls transportierten. – stop
fenster süd
echo : 2.28 — Fünf Marienkäfer sitzen auf einem Rollo, das das Südfenster meiner Wohnung von innen her verdunkelt. Sie sind klein, ungefähr so groß wie der Glaskopf einer Stecknadel. Noch nie habe ich derart kleine Käfer gesehen. Vermutlich sind sie hier in meiner Wohnung entstanden, kennen von der Welt nichts als meine Zimmer, Diele, Bad und Küche. Ich glaube, es ist noch nicht viel Zeit vergangen, seit sie geschlüpft sind, ein oder zwei Tage vielleicht. Wenn ich mich mit einer Lupe nähere, gehen sie etwas in die Knie, legen den Panzer aufgrund, und warten ab, dass sich das große Auge, das sie betrachtet, wieder zurückzieht. Eine Weile las in einer Erzählung von Julian Barnes herum, ruhte auf dem Sofa. Von dort aus konnte ich, obwohl sie wirklich sehr klein waren, die Körper der Käfer auf dem großen Weiß erkennen. Zunächst dachte ich, sie bewegten sich nicht. Wenn ich mich aber längere Zeit auf die Sätze des Buches konzentrierte, waren ihre Körper doch weitergerückt, sobald ich zum Fenster blickte. Ich dachte, dass sie sich vielleicht nur dann bewegten, wenn ich sie nicht betrachtete, dass sie also ihrerseits mich beobachteten. Wahrscheinlicher ist, dass mein Gehirn ihre langsame Art und Weise der Bewegung nicht zu erfassen vermag, weil sein Nahzeitspeicher äußerst flüchtig zu sein scheint. Einmal stand ich auf und pflückte einen Käfer vom Rollo und warf ihn vorsichtig in die Luft. Damit hatte der Käfer nicht gerechnet. Er stürzte, ohne seine Flügel geöffnet zu haben, auf die weiche Fläche meines Sofas ab. Unverzüglich schlief der Käfer ein, weil es immerhin weit nach Mitternacht geworden war. Werde selbst bald schlafen, zuvor aber fünf kleine Marienkäfer in eine Schachtel setzen, werde den Deckel der Schachtel mehrfach mit einer Gabel perforieren, und diese Schachtel in meinen Kühlschrank legen, 6° Celsius. Bald Frühling. — stop
remington
whiskey : 1.28 — In der vergangenen Nacht träumte ich von einer Schreibmaschine. Diese Schreibmaschine verfügte über ein Band von roter und schwarzer Farbe sowie über einen Satz Hammerzeichen, die sich nur dann bewegten, wenn ich die Tasten mit großer Kraft in das mechanische Getriebe der Maschine drückte. Manchmal, während ich notierte, blieben einzelne der Tasten in der Tiefe hängen, als wollte die Schreibmaschine nicht von dem Zeichen lassen, das sie gerade noch auf das Papier gesetzt hatte. Eine Taste nach der anderen fiel aus, bis ich nur noch das Zeichen M bewegen konnte. Ich erinnere mich, in meinem wirklichen Leben tatsächlich eine Schreibmaschine wie die geträumte Schreibmaschine besessen zu haben. Sie stand lange Zeit auf meinem Schreibtisch, ich hob sie nur selten an, weil sie schwer gewesen war, 10 oder 15 Kilogramm. Es war eine Remington mit einem Farbband, trocken wie namibischer Wüstensand. Da niemand wusste, auf welchem Wege man an ein frisches Farbband gelangen konnte, erzeugte die Schreibmaschine zeitlebens kein sichtbares, aber tastbare Zeichen, und doch tippte ich manchmal auf der Maschine herum, als würde ich etwas aufschreiben, als würde ich üben, lautlose Musik, Gesten, stumme Gedanken. In meinem Traum der vergangenen Nacht wurde die Maschine unter meinen Händen immer kleiner, bis sie zuletzt verschwunden war. Ich habe dann noch etwas weiter geträumt. Ich war in einem U‑Boot unterwegs. Ich fuhr den Mississippi aufwärts. Das Wasser war dunkel. Ich beobachtete leuchtende Rinder, wie sie auf dem Grund des Flusses durch kniehohen Schlamm wateten. — stop
rooseveltblüte
~ : malcolm
to : louis
subject : ROOSEVELTBLÜTE
date : nov 22 13 8.15 p.m.
Am 22. November berichtet die New York Times über Eichhörnchen Frankie, das seit Wochen auf dem Hurrikane Deck der Staten Island Fähre John F. Kennedy lebt. Wir konnten das nicht aufhalten. Weder den Bericht selbst, noch eine Fotografie, die das Eichhörnchen zeigt, wie es auf einer Sitzbank nach einem Finger greift. Frankie scheint sich auf dem Schiff wohlzufühlen. Vielleicht ist es die Wärme, vielleicht sind es die Bewegungen der Fähre auf dem Meer, die ihm gefallen. Natürlich ist er längst zur Attraktion geworden, zum Stadtgespräch, wird fotografiert und mit frischen Erdnüssen versorgt. Seit einigen Tagen nimmt Frankie gleichwohl Bananen zu sich, zutraulich wagt er sich nah an die Passagiere der Fähre heran, greift mit seinen Händen nach den Früchten, vermag sie zu öffnen, duckt sich, hastet mit seiner Beute je unter eine der Sitzbänke, weshalb zahlreiche Passagiere niederknien, um Frankie nicht aus den Augen zu verlieren. Gestern beobachteten wir, wie ein Mädchen Frankie berühren durfte. Er zitterte leicht, als das Kind mit einer Hand über seinen Rücken fuhr. Das Mädchen bemerkte Frankies Sender, der dicht unter seiner Haut verborgen liegt, rasch zog es seine Hand zurück. Es ist beunruhigend, welch große Aufmerksamkeit Frankie genießt. Wir haben den Eindruck, manche der Passagiere fahren nur deshalb mit der Fähre, um Frankie besichtigen zu können. Kaum noch kommen wir an ihn heran, ohne selbst fotografiert zu werden. Heute ist es sehr windig. Brooklyn und New Jersey liegen im Nebel. Man könnte glauben, dass wir uns auf hoher See befinden. Die Scheiben des Schiffes scheppern. Wasser peitscht über die Vordecks der Fähre. Menschen mit Fotoapparaten stehen im Wind und suchen nach Manhattan. Etwas seekrank sende ich allerbeste Grüße aus New York – Malcolm / codewort : rooseveltblüte
empfangen am
23.11.2013
1855 zeichen