lima : 15.01 UTC — Vor der Verkündung des Urteils hat sich das Gericht vornehm zurückgezogen. Der Angeklagte sitzt auf seinem Platz und wartet. Links und rechts etwas erhöht haben sich auch seine Verteidiger, zwei angesehene Anwälte der Stadt, von ihren Plätzen nicht erhoben, man rechnet mit einer raschen Entscheidung. So auch der Staatsanwalt, ein jüngerer Herr, nicht einmal seine Robe hat er abgelegt, währenddessen er den Angeklagten gleichen Alters in einer vorsichtigen Art und Weise betrachtet, als sei er sich nicht sicher, mit seinem Plädoyer eine ausreichende Begründung für die hohe Strafe dargelegt zu haben, die er zuletzt über den Angestellten der städtischen Bibliotheken zu werfen forderte. Genau so hatte er noch gesprochen, werfen, nicht verhängen solle man eine Strafe über diesen Mann, der sich hier im Saale höchst unauffällig benommen hatte. Wann hatte er die erste Blume freigelassen, wann den ersten Samen ausgestreut? War es ihm denn nicht in den Sinn gekommen, dass er unrecht handelte, als er mit Vorsatz versuchte Urwald in der Stadt auszusetzen? Ja, wie konnte er denn glauben, dass man ihn ohne Strafe davon kommen lassen würde, nachdem seine Larentiae Sinensios vor dem Opernhaus das Pflaster sprengten, nachdem man im schönsten der zentralen Parks gerade noch verhindern konnte, dass der goldrote Samenstaub der Lobelia Frasensis sich des Palmenhauses bemächtigte? Ja wie konnte er gestatten, dass man ihn rühmte als einen guten Menschen, da doch die von ihm vornehmlich unter der Straßenbahnfahrt in die Luft gepuderten Kostbarkeiten der Nemuso Lasastro in den Lungen der städtischen Bürger wundersame Blüten zu treiben begannen? Man hatte lange Zeit Mühe, sie in ihrem Wachstum zu begrenzen. Das Wunder ihrer feuerroten Kelche drang aus den Gräbern derer, die an den Blüten erstickten. Dort, unter den Ulmen und Kastanienbäumen, kämpften die Gärtner einen ungleichen Kampf, wie ihre Brüder und Schwestern in den Hängenden Gärten der gläsernen Bankentürme, die vergeblich versuchten, die Taraxaca des gefräßigen Schäferkorbbaums aus ihren Häusern zu kämpfen. Morgens, wenn die herrliche Oktobersonne von Osten her in die riesigen Atriien schien, sah man wohlgeformten Fallschirme dieser fruchtbarsten Pflanzengeschöpfe in den künstlichen Winden des Gebäudes auf und niedergehen. Es war dies die Stunde, da man sich geschlagen gab, um dann doch wieder auszuschwärmen, um den Notrufen zu folgen, die von verzweifelte Angestellten aus ihren Büros abgesetzt worden waren. Der junge Staatsanwalt sieht durch das kühle Licht des Saales zu dem Angeklagten hinüber, und ein Schauer überläuft ihn bei dem Gedanken, dass gerade jene von der Stadt bezahlten Stunden des Studiums es den Bibliothekaren ermöglichten, in den biologischen Sammlungen und Archiven nach den Gierigsten unter den Blumen dieser Welt zu forschen. Er sieht diesen bescheidenen Herrn an einem behördlichen Schreibtisch sitzen, einem hölzernen, wie er die Fächer seiner ledernen Tasche mit Samen munitioniert. Und dann sieht er ihn spazieren, da dort lächelnd eine Dosis Blütensamen auf den Boden werfend, sodass schon bald darauf im Wechsel der Duft von Kamille, der Duft der blauen Andenhyazinten vom Schotter der Straßenbahngeleise aufzusteigen begann. Aus der Regenrinne des Polizeipräsidiums wuchert noch heute eine Commeline Cestre himmelhoch über Radioantennen hinaus, das Bersten ihrer Nüsse im Oktober ist noch über hunderte Metern hin deutlich zu hören, es sind Schüsse, es ist die reinste Gefahr, die dort über den Dächern der Stadt auf den Winter lauert. Da sitzen sie nun, ein junger Herr, ein Samenwerfer und ein junger Staatsanwalt, und warten auf das Urteil, das eine gerechte Strafe aussprechen möge. — stop
Aus der Wörtersammlung: licht
vierzehn schwalben
MELDUNG. Bei bestem Büchsenlicht von 8 bis 10, wurden bereits am Samstag, gestern, 301 Tauben, 14 Schwalben, sowie 5 heilige Figuren vom Dach der Jesuitenkirche zu Aschaffenburg geschossen. Der Schütze : Staatsförster Leuenberger Junior, 42, aus Lindenberg [ Odenwald ] — stop
von teefliegen
ulysses : 22.55 UTC — Wie ist das mit der Wirklichkeit oder der Wahrheit in meinem schreibenden Leben? Jahrelang wohnte etwa eine Schnecke in meiner Wohnung, außerdem ein Lichtenbergfalter, Springspinnen, Libellen, ein Puma und Teefliegen, immer wieder Teefliegen. Ich habe sie mit eigenen Augen alle gesehen oder mit meinen erfindenden Augen, die in meinem Kopf verweilen. Ich könnte deshalb sagen, nicht jeder meiner Trompetenkäfer wäre vorzeigbar, aber doch vorstellbar. Nun habe ich eine weitere deutliche Spur gelegt hin zur Arbeitsbeschreibung, Radar ist zu lesen unter jedem meiner Particles – Texte, ein Hyperlink, der auf einen Text verweist, welcher meine Arbeit beschreibt. Dieser Text existiert seit 12 Jahren, heute habe ich entsprechende Textpassage, die Wirklichkeit und Erfindung bedeutet, zunächst unterstrichen, dann, wenige Minuten später in kursive Zeichen gesetzt. Das muss genügen. — Ich wünschte, eine Raupe würde noch heute durch mein Zimmer spazieren. — stop
apollo
himalaya : 22.08 UTC — 28. Juli, ein sehr warmer Tag. Die Fenster sind geöffnet, Rollos weisen das Licht der Sonne zurück. Ich liege auf dem Sofa und beobachte mit einem Auge einen Käfer, der sehr langsam die Südwand meines Arbeitszimmers entlangspaziert. Man könnte sagen, der Käfer kommt auf mich zu, vielleicht wünscht er sich mit mir zu unterhalten, vielleicht wünscht er nachzusehen, was dieser Herr seit Stunden tut, warum er auf seinem Sofa ruht, Computerschreibmaschine auf seinem Bauch, Kopfhörer in den Ohren, fast bewegungslos, eine bekleidete Statue, ein um 50 Jahre gealterter Junge, der in einer Zeitkonstruktion ohne Schnitt, die Annäherung der Astronauten der Apollo 11 Mondlandemission beobachtet. Was für ein wunderbarer Tag. Von Zeit zu Zeit hole ich etwas zu trinken, dann wieder vor dem Bildschirm, die Stimmen dreier mutiger Männer in den Ohren, die mich ein Leben lang begleiteten, als wäre ich geboren worden, Zeuge zu sein, rechtzeitig, um 8 Jahre später ausreichend alt geworden zu sein, um zu verstehen, was sich ereignen wird. Ich erinnere mich, wie ich im Alter von drei Jahren auf warmem Land liege, das atmet. Bald fliege ich durch die Luft, schwebe über dem Bauch meines Vaters und lache, weil ich gekitzelt werde. Meine Stimme, meine kindliche Stimme. Und da sind eine hölzerne Eisenbahn, das Licht der Dioden, dampfendes Zinn, Lochkarten einer Computermaschine und die Geheimnisse der Algebrabücher, die der Junge von sechs Jahren noch nicht entziffern kann. Aber ein Forscher, wie der Vater, will er schon werden, weshalb er die Schneespuren der Amseln, der Finken, der Drosseln in ein Schulheft notiert. Zu jener Zeit drifteten Menschen bereits in Geminikapseln durch den Weltraum, um das Sternreisen zu üben. Nur einen Augenblick später waren sie schon auf dem Mond gelandet, in einer Nacht, einer besonderen Nacht, in der ersten Nacht, da der Junge von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarz-weißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch der Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er soeben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht, in genau derselben besonderen Nacht, saß zur gleichen Minutenstunde irgendwo im Süden der Dichter Giuseppe Ungaretti vor einem Fernsehgerät in einem Sessel und deutete in Richtung des Geschehens fern auf dem Trabanten auf der Bildschirmscheibe, auf einen Astronauten, wie er gerade aus der Landefähre klettert, oder habe ich da etwas in meinem Kopf verschoben? Sicher ist, auf jenem Fernsehgerät, vor dem Ungaretti Platz genommen hatte, waren drei weitere, kleinere Apparate abgestellt. Alle zeigten sie dieselbe Szene. Echtzeit. Giuseppe Ungaretti war begeistert, wie wir begeistert waren. Ja, so ist das gewesen, wie heute, viele Jahre später. – stop
regen
zoulou : 18.07 UTC — Ein Freund erzählte von einer Rede, die er an einem späten Sommerabend auf einem Anrufbeantworter vorfand, als er nach Hause gekommen war. Diese kleine liebevolle Rede war von seiner sterbenskranken Frau kurz vor ihrem Tod im Hospital für ihren geliebten Mann gesprochen worden, während er gerade auf dem Fahrrad von ihr zurück nach Hause fuhr. Es hatte geregnet. Er saß in der Küche im letzten Licht des Tages. Er erzählte, er habe lange Zeit geweint, sich die Rede immer wieder angehört, dann beschlossen, die Stimme seiner geliebten Frau mittels eines Tonbandes aufzunehmen. Irgendetwas muss kurz darauf geschehen sein, wovon er nicht berichten wollte. — stop
teriberka
whiskey : 20.01 – Ich erinnere mich an Ludwig, er war gerade 8 Jahre alt geworden, als er beobachtet wurde, wie er eine Schuhschachtel vor das Fenster seines Zimmers stellte, um 1 Stunde lang das Licht eines frühen Nachmittags einzufangen. Er wendete in dieser Stunde nicht eine Minute seinen Blick von dem Behälter, den er sodann sorgfältig mit ernster Miene verschloss, um ihn noch an demselben Tag mit seiner Mutter zu einem Postamt zu bringen. Das ist für meinen Freund Janos, erklärte Ludwig dem Beamten, der bei der Verfertigung einer zollamtlichen Erklärung behilflich war, 1 Stunde Sonne für meinen Freund, der in Teriberka weit im Norden in Russland wohnt. Ludwig wartet. Es hoffte, dass er seinerseits zur Weihnacht vielleicht etwas Winternachtlicht geschenkt bekommen würde. Ich sollte Ludwig einen Brief schreiben. — stop
Игрок
sierra : 22.58 UTC — Vor einigen Tagen hab ich mir ein Buch gewünscht in russischer Sprache, nämlich Игрок von Fjodor Dostojewski. Nun werden Sie vermutlich fragen, ob Louis, der hier schreibt, die russische Sprache zu lesen vermag. Nein, ich kann die russische Sprache nicht lesen, aber ich höre sie gern, und es wird mir eine Ehre sein, ein berühmtes Buch in russischer Sprache auf meinen Schreibtisch zu legen. Da wird es dann liegen, neben einer Übersetzung in die deutsche Sprache von Swetlana Geier. Ich könnte vielleicht sagen, dass das eine Buch, das ich zu lesen vermag, vor jedem Satz, den ich in Augenschein nehmen werde, das andere Buch, das ich nicht zu lesen vermag, befragen wird. Das ist eine gute Vorstellung. Noch heute Abend setze ich mich auf mein Fahrrad. Gewitterlicht. — stop
lichtgeister
delta : 22.18 UTC — Im Vorspann des Films Tracks erscheint in der ersten Minute der Hinweis für jene Zuschauer, die Aborigines oder Torres-Strait-Insulaner sind: Bitte beachten Sie, dass dieser Film möglicherweise Bilder oder Stimmen Verstorbener enthält. Wie zart, wie ernst dieser Hinweis auf die Sterblichkeit der im Film auftretenden Persönlichkeiten. — stop
nachtschläferkapselbaum
alpha : 0.12 UTC — Sobald ich das Wort Nachtschläferkapselbaum notiere, meldet mein Textverarbeitungsprogramm, dieses Wort sei in seinen Registern nicht zu finden, ein Wort demzufolge, das bislang nicht existierte. Tatsächlich ist das so, dass ich das Wort Nachtschläferkapselbaum zunächst im Kopf erfunden habe, ehe ich das Wort mittels der Tastatur meiner Schreibmaschine verwirklichte. Die Vorstellung eines Baumes von enormer Größe, an dessen Ästen Kapselformen befestigt sind, in welchen sich Menschen zur Ruhe legen. Ich überlegte Bäume, die in der Nähe eines Flughafens sich erheben, Leitern, Seile, Wendeltreppen, Blätter, Blütenduft, Flüssigkeit spendende Röhrenlianen. Selbstverständlich wurde vor wenigen Sekunden nun bereits zum dritte Male gemeldet, dass das Wort Nachtschläferkapselbaum nicht existiert. Wenn ich nun aber das erfundene, markierte Wort und damit die unbekannte Welt, die sich mit ihm verbindet, mit meiner Mouse berühre, entdecke ich die Möglichkeit, das Wort zu lernen, also in das Register des Programms einzutragen. Es wäre dann so, dass ich nie wieder an das vorgestellte Wort erinnert sein würde, solange ich meine eigene Schreibmaschine verwende, weil meine Schreibmaschine sich über die Existenz der Nachtschläferkapselbäume nicht wieder wundern würde. — Früher Abend. Als ich Magazine gelernter Wörter meiner Schreibmaschine durchsuchte, habe ich meinen Text, der von Nachtschläferkapselbäumen erzählt, wiederentdeckt. Das war vor wenigen Minuten. Ich bin noch immer sehr zufrieden. — stop
ai : KOLUMBIEN
MENSCHEN IN GEFAHR: „In Bojayá im Departamento Chocó befinden sich 7.000 Angehörige afro-kolumbianischer und indigener Gemeinschaften in Unión Baquiaza, Egoróquera, Unión Cuití, Playita, Mesopotamia und Carrillo im Kreuzfeuer der Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Gruppen. Amnesty International betrachtet die Lage mit Sorge und ist der Ansicht, dass die Gefahr massenhafter Tötungen und Vertreibungen besteht. Im Departamento Chocó wurden in jüngster Zeit mehrere Gemeinde-sprecher_innen ermordet, und die Präsenz bewaffneter Gruppen stellt eine ständige Bedrohung für die dortigen Gemeinschaften dar. Die kolumbianischen Behörden haben bisher nichts unternommen, um diese Menschen zu schützen. / Die meisten der betroffenen Personen können sich bereits seit mehr als einem Jahr nicht mehr frei bewegen, da sie versuchen, sich vor den Aktivitäten der Guerillagruppe Ejército de Liberación Nacional (Nationale Befreiungsarmee) und der paramilitärischen Gruppe Autodefensas Gaitanistas de Colombia zu schützen. Diese haben im vergangenen Jahr Antipersonenminen in der Gegend gelegt, Kinder rekrutiert, Gemeinde-sprecher_innen getötet und ganze Gemeinschaften belagert. Es gab einige Fälle, in denen Angehörige der Gemeinschaften die Zusammenarbeit der bewaffneten Gruppen mit Angehörigen der kolumbianischen Armee angeprangert haben. / Amnesty International warnte in einem 2017 veröffentlichten Bericht, dass die kolumbianische Regierung in dieser Gegend von Chocó ein Klima der Ausgrenzung und Vernachlässigung geschaffen hat, was die Schutzbedürftigkeit der dortigen Gemeinschaften noch weiter verstärkt. Die Reaktion der Behörden auf die dortige Lage war bisher alles andere als umfassend und konzentriert sich lediglich auf militärische Maßnahmen.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 30. Mai 2019 unter > ai : urgent action