alpha : 5.56 – Ich habe heute Nacht eine Tonbandmaschine, einen Notizblock, Bleistifte, einen Radiergummi und einen gezeichneten Grundriss jenes Ortes, von dem ich erzähle, auf den Tisch vor mir abgelegt, auch einen hölzernen Kasten, in dem ich Karteikarten verwahre, die ich im Präpariersaal rasch beschrieben habe, Sekundenware, ein Verzeichnis der Geräusche, der Bewegungen, der Fragen, Atmosphären, Gedanken, die ich mit unruhigen Händen in meine geöffnete Handfläche notierte. Ich meine, einen feinen Geruch von Formalin zu vernehmen, der noch immer von den Kärtchen aufzusteigen scheint. Jetzt schreibe ich das Wort Meer und sofort danach das Wort Atlantik. Eine junge Frau sitzt vor diesem atlantischen Meer an Deck eines sehr großen Schiffes. Sie unterhält sich mit einem Matrosen, der ihr eine Zeitung brachte. Wenn ich sie so heimlich beobachte, meine ich zu erkennen, dass sie verliebt ist. Sie errötet, wenn der junge Mann zu ihr spricht, schlägt die Augen nieder, dann wirft sie Brot in die Luft zu den Möwen hin. — 5 Uhr 18. Seit Montag 25.8. wieder Funkzeichen aus Peking > Zeng Jinyan ( chinese : english by babelfish )
Aus der Wörtersammlung: net
vögel
echo : 6.05 — Eine Frau, sehr alt, sitzt in einem verwüsteten Zimmer auf dem Boden. Ihr Gesicht ist verletzt, das linke Auge erblindet, eine tiefblaue, geschwollene Wunde. Dann ist eine Straße zu sehen. Automobile fahren im Schritttempo schwer bepackt nach Norden oder Süden. Ein Hubschrauber der russischen Armee jagt über diese Straße hin, als würde ein Kinofilm gedreht. Ich schalte das Fernsehgerät aus, schließe die Wohnungstür und trete vor das Haus. Vögel pfeifen, immer pfeifen im Sommer Vögel, wenn ich auf die Straße trete, auch gestern, als wollten sie mir etwas sagen. Vielleicht wollten sie sagen, dreh Dich um, setz Dich an Deine Schreibmaschine, denk nach, versuche herauszufinden im Sucher Deines Seamonkeybrowsers, was dort geschieht vor den kaukasischen Bergen. Gestern, nachmittags, habe ich mich also doch auf den Weg gemacht, um in einem Warenhaus ein weißes Hemd zu kaufen. Zwei Stunden später saß ich im Café vor einer Tasse Schokolade und notierte, warum ich wegen ausgedehnter Beobachtungstätigkeit in dem Versuch scheiterte, ein weißes Herrenhemd zu kaufen. — stop
schuhwerk
echo : 5.22 — Einmal wartete ich im Regen stehend auf eine Straßenbahn. Das war ein sehr angenehmer, warmer, nach Steinen duftender Regen, eine Art Regen, bei der ich an das Wort Monsun denke, wenn ich seine Geräusche höre. Ich stand also im Regen und dachte an das Wort Monsun, als genau um 22 Uhr und 18 Minuten die Straßenbahn, die ich erwartete, vor mir hielt. Die Türen öffneten sich und ein Herr stieg aus der Straßenbahn, der eine Zigarre rauchte. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine hellgrüne Krawatte, keine Schuhe, aber Strümpfe. Für einen kurzen Moment, ich hatte einen Fuß bereits in den Waggon der Straßenbahn gestellt, stand der Mann direkt neben mir. Ich sagte: Sie haben keine Schuhe an, mein Herr. So, erwiderte der Mann, blickte dann erstaunt an sich herab, sah mir in die Augen und fragte mit einer sehr hellen Stimme: Warum? — stop
kampftrinken zu dublin
propeller
sierra : 5.15 — Für einen Moment, für 20 oder 30 Sekunden, war heute Nacht der Strom ausgefallen. Überfallartig die schwarze Farbe der feuchtwarmen Luft und in dieser Farbe, die sanft mein Gesicht berührte, das schnurrende Geräusch der Propeller meiner Süßwasserfiltermaschine, Fische, die schlaftrunken durchs Wasser schossen, Fische, die die Grenzen ihrer gläsernen Welt berührten, auch das ein Geräusch, ein etwas dunkleres p i n g, knöchern, schmerzhaft. Da war noch das Seufzen der Kühlschranktür von der Küche her, das Geräusch meiner Finger, die auf dem Schreibtisch nach einem Feuerzeug suchten, Schritte von oben, vom Dach, mein Atem. In diesem Moment der Finsternis, ich weiß nicht warum, erinnerte ich mich an Noe, meinen Taucher, und sofort, nachdem das Licht zurückgekehrt war und mit diesem Licht, die Möglichkeit, das Internet zu erreichen, besuchte ich Noe, lauschte eine Weile, las was er zu sagen hatte, was er in der Tiefe des Atlantiks vor Neufundland in die Schreibmaschine tippte, war glücklich, dass Noe noch existierte: r e d f i s h r i g h t w a r d s. s t o p also schreibe ich. s t o p ich schreibe was ich sehe. s t o p feine stäube treiben durchs wasser. s t o p schattenlose wesen. s t o p lichtzeichen. s t o p pulse. s t o p habe versucht die gestalt eines kühlschranks zu erinnern? s m a l l b l u e f i s h r i g h t h a n d . s t o p lange zeiten der beobachtung. s m a l l g r e e n f i s h t o p l e f t. s t o p meine schreibenden hände. s t o p die bewegung der handschuhe auf der tastatur der maschine. s t o p als ob ein anderer arbeitete so fern scheinen mir ihre gesten zu sein. s t o p fremd. s t o p wie lange zeit habe ich meine unbekleideten hände nicht gesehen? s t o p
istanbul
nordpol : 2.55 — Beobachtete nachmittags auf meinem Fernsehbildschirm einen Blitz, der einen Abend zuvor von einer Handykamera aufgenommen worden war. Dieser Blitz ereignete sich in Istanbul zu einem Zeitpunkt, als ich gerade überlegte, ob ich in einem Buch lesen sollte oder besser noch etwas notieren über die Kirschholzwangen einer japanischen Frau, die ich gerade erfinde. Aber mein Kopf war in der feuchtwarmen Luft doch sehr langsam geworden, also stellte ich mich für zwei Minuten unter kaltes Wasser und als ich zurückkam und mein Fernsehgerät einschaltete, konnte ich sehen, was der Blitz, den ich erst einen Tag später mit eigenen Augen sehen würde, angerichtet hatte. Menschen lagen bewegungslos auf einer Straße herum und andere Menschen, die sich bewegten, versuchten jene Menschen, die lagen und sich nicht mehr bewegten, zu überreden, es ihnen gleichzutun, also zu atmen und weiterzuleben, als sei der Blitz nie geschehen. Da war das Geräusch von Ambulanzen, ein jaulender Ton, von dem ich häufig träume, und da war die Stimme einer amerikanischen Frau, die die Explosion zweier Bomben meldete, einer kleineren, lockenden Bombe und einer größeren, mordenden Bombe. Als ich gestern Nachmittag dann auf meinem Fernsehbildschirm jenen Blitz beobachtete, der so viele Menschen tötete, dass zwei Hände nicht ausreichen, sie mit den Fingern zu zählen, habe ich überlegt, ob ich nicht bald einmal wagen sollte, einen Attentäter zu erfinden, also mich in einen Attentäter zu verwandeln auf dem Papier, mich hineinzuversetzen in eine Figur, die Bomben legt, um Menschen zu töten. Ist es möglich, frage ich, mich in einen Attentäter so lange hineinzudenken, wie ich mich in eine japanische Frau hineindenke, eine japanische Frau mit einem kirschhölzernen Gesicht, ohne Schaden zu nehmen? — stop
katze
india : 3.18 — Schwüle Hitze, Fenster und Türen weit geöffnet. Gegen drei Uhr der Besuch einer Katze. Sie nimmt sich in aller Ruhe ein Zimmer nach dem anderen vor. Goldgelbe Augen. Rascheln. 10 Minuten. – Während ich lese, wieder der Eindruck, dass meine Ohren zur Nachtzeit größer werden.
simbabwe
delta : 0.02 — Gestern, am frühen Nachmittag, legte ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nachtarbeit sehr müde war. Ich stellte mein Fernsehgerät an, dort lief ein kleiner Charlie Chaplin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wieder wach wurde nach zwei Stunden, war der kleine Film zu Ende und ich sah in einem anderen Film eine Frau in einer grünen Landschaft auf dem Erdboden liegen. Die Frau, die ich sah, war eine afrikanische Frau, eine Bürgerin des Staates Simbabwe. Sie lag dort in Simbabwe auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sitzen konnte. Sie war ungefähr so alt wie ich oder sehr viel jünger, der tägliche Hunger hatte sie vielleicht älter gezeichnet, und sie schaute in die Kamera, eine europäische Kamera, und sagte, dass sie so gerne eine Apfelsine haben würde. — stop
nachtzeppelin
whiskey : 5.25 — Seltsame Lufterscheinung heute Nacht. Warm war’s bis 1 Uhr, dann plötzlich kühl bis 2, dann wieder warm. Arbeitete bei geöffneten Fenstern, hörte Duke Ellington, überlegte einen Brief an Daisy Hilton. Vielleicht ist ein kühles Objekt lautlos über die Stadt geflogen, ein Nachtzeppelin, oder ein Schwarm sehr kalter Faltertiere, vollkommen unbekannte Wesen, oder aber alle Eisspinnen der Stadt, so wie sie im Geheimen in jedem Kühlschrank existieren, haben ihre Boxen verlassen und sich zum Plaudern draußen vor den Fenstern getroffen. Wer könnte schon sagen, was genau geschehen ist in dieser Stunde mit ihrer seltsamen Luft? Haben doch fast alle Menschen geschlafen. — Es ist 7 Uhr morgens. Ich leg mich jetzt nieder. Gute Nacht. — stop
schreibtischkäfer
echo : 1.52 — Seit einer Stunde genau wohnt ein Käfer auf meinem Schreibtisch. Der Käfer ist so klein, dass ich ihn zunächst nicht sehen konnte, aber ich konnte ihn riechen, er roch nach heißem Zinn, was doch sehr seltsam war, weil der Käfer, als ich ihn nach längerer Suche endlich gefunden hatte, kühl, wenn nicht kalt in meiner Hand auf dem Rücken lag. Ich war zunächst in die Küche gewandert, um nach meinem Bügeleisen zu sehen, dann öffnete ich die Wohnungstür, inspizierte meinen Kühlschrank, prüfte den Zustand meiner Nase, und kehrte an den Schreibtisch zurück. Jetzt hatte sich der Käfer durch Bewegung verdächtig gemacht. Da war nun also ein Käfer sichtbar geworden unter einer Lupe, und dieser Käfer, der nach heißem Zinn roch, bitter, und süß nach Maschinenöl, trug anstatt eines Panzers Menschenhaut. Als ich ihn mit einem Finger vom Tisch in meine Handfläche schob, öffnete er seine Flügel und kämpfte, um Luft unter seine Tragflächen zu bekommen. Alle Mühe war vergeblich, der Käfer war zu schwer oder doch zu müde, von einer längeren Reise, weiß Gott woher. — Weit nach Mitternacht, schwüle Luft, sitze vor dem Schreibtisch, betrachte den Käfer und der Käfer betrachtet mich. Der Eindruck, wir beide sind nicht sicher, ob wir nicht vielleicht, der eine dem anderen, je ein Albtraum sind. — stop