MELDUNG. Ein halbes Pfund Lakritze im Lafayette [Rue de la Chaussee d’ Antin, Paris ], damit in der Tüte ist Odile, eine Rose, zwanzigzwölf voller Glück über die Straße gegangen. — stop
Aus der Wörtersammlung: paris
samarkand
echo : 0.28 UTC — Am Telefon erzählte unlängst eine Freundin, die 32 Jahre länger lebt als ich selbst, sie höre mir gern zu, auch dann, sagte sie, wenn du schnell sprichst. Sie gehe manchmal kurz in die Küche und mache sich einen Tee oder lese in einem Buch über die Stadt Samarkand. Hin und wieder stehe sie auf dem Balkon und betrachte den Abendhimmel, das Telefon ruhe indessen stets in Hörweite auf dem Wohnzimmertisch. Ich vernehme Dich also, lieber Louis, ich mag deine Stimme, aber Du solltest lernen, Pausen zu machen, langsamer zu werden. Ich antwortete: Ja, das ist gut, ich bin schon seit einigen Wochen in der Übung langsamer zu werden. Es ist sehr angenehm, langsam zu gehen und langsam oder gar nicht zu sprechen. Fortan werde ich, das ist ein Versprechen, immer wieder einmal zu Hause oder unterwegs eine Pause einlegen. Dann fragte ich: Was macht man denn so in einer Pause? — Es ist sehr schön wie meine Freundin lacht. Sie reist viel herum, nach Amerika, nach Paris, nach Jerusalem. — stop
nachtzug nach douala
tango : 7.15 UTC — Akossiwa, die ihr junges Leben überwiegend in der Stadt Yaoundé verbrachte, erklärte während eines Gespräches im Zug, Tiere, die ich als wilde Kreaturen bezeichnete, Affen, sagen wir, Löwen, Antilopen, würden in ihrem Heimatland im zentralen Zoo der Hauptstadt leben. Man könne sie dort besuchen, man müsse sich nicht fürchten, allerdings würde der Besuch Eintritt kosten. Erst einmal musst Du überhaupt nach Kamerun fliegen. Du fliegst, sagt Akossiwa, am besten über Paris oder Amsterdam nach Yaoundé, das ist überhaupt kein Problem. Ich hatte Akossiwa eine dramatische Vorstellung ihres Landes skizziert, in der vermutlich wirkliche wilde Tiere natürlicherweise auch jenseits der Naturreservate existieren. Kurz darauf entwickelte sich ein aufregendes Gespräch über Wahrnehmung, Wirklichkeit und Projektion einerseits, andererseits über die Existenz wiederum der niederbayrischen Auerhähne in meinem persönlichen Leben. Eine Zugfahrt von Ngaoundéré nach Douala sei reizvoll, berichtete Akossiwa, es existiere auch eine Nachtzugverbindung, die würde sie aber nicht empfehlen: Weil Du nichts siehst! — stop
5 stunden
nordpol : 10.22 – Ich beobachte das Fernsehgerät. Eine Reporterin des amerikanischen Fernsehens berichtet aus St. Denis, einer kleineren Stadt nordöstlich der größeren Stadt Paris. Sie erzählt in Echtzeit fünf lange Stunden lang. Die Sendung beginnt gegen 4 Uhr morgens, da ist es noch dunkel am Himmel, aber eine Straße der kleineren Stadt wird hell erleuchtet von Blaulicht und Scheinwerfern der Kameras, die nach Bildern und Geräuschen eines schweren Kampfes suchen. Schüsse sind zu hören, rhythmisch, drei oder vier dumpfe Detonationen. In Hauseingängen, vor Straßenecken, auf einer Kreuzung warten Polizisten und Soldaten, sie bewegen sich so, als wäre tiefster Winter, sie scheinen überhaupt nervös zu sein. Hinter der Flucht alter Häuserfassaden, die auf dem Bildschirm in einer scheinbar unverrückbaren Einstellung zu sehen ist, tobt dieser Kampf, das ist sicher, es heißt, eine Frau habe sich mittels eines Sprengstoffgürtels getötet, von Festnahmen wird berichtet, Namen junger, berühmter Terroristen werden postuliert. Weil doch nur selten hörbar geschossen wird, werden etwas später, es ist Tag geworden, hell, immer wieder Szenen einer Zeit auf den Bildschirm gespielt, als noch Dunkel war am Himmel, als noch geschossen wurde, sodass alle es hören konnten, die gerade erst wach geworden sind. Gestern erzählte mir Nasrin, die in einem Café am Flughafen arbeitet, ein Kollege deutscher Muttersprache habe sie gefragt, ob M., ein weiterer Kollege, vielleicht sich freuen würde, dass in Paris so viele Menschen getötet worden seien. Sie habe geantwortet, er solle M. doch selbst befragen, woraufhin der Kollege deutscher Muttersprache gesagt habe, ihm würde M. ja doch niemals die Wahrheit sagen. Da habe sie nicht weitergewusst, sie habe den Wunsch gehabt, sofort einzuschlafen oder aufzuwachen. – stop
paris : 5 minuten
sierra : 3.15 – Der junge Mann will wissen, ob ich vielleicht gerade Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Sein Gesichtsausdruck, indem er auf mein Mobiltelefon deutet, ist ernst. Ich wohne in Paris, sagt er, ich bin dort aufgewachsen, ich studiere in Deutschland, ich habe versucht meinen Großvater zu erreichen, aber er meldet sich nicht, ich komme nicht durch, ich bin so aufgeregt, auch meine Freundin ist verschwunden. Wir stehen am Bahnhof, warten auf einen Zug, der in Richtung des Flughafens fährt. Es ist kurz nach Mitternacht. Auf dem Mobiltelefon des jungen Mannes wird von achtzehn Todesopfern berichtet, auf meinem sind bereits über vierzig Menschen gestorben. Der junge Mann läuft immer wieder einmal einige Meter den Bahnsteig entlang, schaut auf sein Telefon, hält es an sein Ohr, kommt wieder zu mir zurück, fragt, ob ich etwas Neues in Erfahrung bringen konnte. Ich sage: Ich glaube, für Frankreich wurde gerade der Ausnahmezustand erklärt. Oh Gott, antwortet der junge Mann, was ist nur geschehen! Er steht ganz still vor mir, schaut mich an. Wir kennen uns eigentlich nicht gut. Fünf oder sechs Minuten Zeit sind vergangen, seit der junge Mann fragte, ob ich Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Plötzlich klingelt sein Telefon. – stop
kubatajo
romeo : 5.20 — Kühle Luft, gnädiges Tier, fließt über den Boden. Zwei Tauben sitzen auf dem Fensterbrett und spähen ins Zimmer. Irgendwo im Süden südlich werden sich in diesem Augenblick hungrige große Menschen und hungrige kleine Menschen durchs Unterholz der Bergwälder schlagen. Unlängst erzählte vom Bildschirm her ein älterer Herr zu Budapest, er könne SIE nicht mehr sehen, Flüchtige, man sollte ihnen in die Beine schießen, dann würden sie nicht wieder kommen. Und ich dachte, derart präzise hat er bereits Körperorte der Verwundung vorausgedacht, dass er konkret werden kann. Wieder Wörter erfunden: jusibeba babukele biferigu jababuba kubatajo ribejumu gocubobu kubexebu sopijabe bibujebi. stop — 5 Uhr 15: Miles Davis / John Coltrane — Paris 1960 — stop
20 Gramm : eine Künstlerin erzählt
zoulou : 18.25 — Inés, die mehrere Jahre lang in einem zentralen Madrider Postamt arbeitete, erzählt, sie habe in der Stunde etwa 3200 Kurzbriefe mit der Hand sortiert. Jeder ihrer Arbeitstage dauerte 6 Stunden reiner Arbeitszeit, das heißt, Stundenzeit ohne Pause, da ihre Hände ruhten. Manchmal, wenn ihre rechte Hand schmerzte, habe sie mit der linken Hand sortiert, da sei sie aber nicht so schnell gewesen. Einmal habe sie errechnet, pro Nacht oder Schicht mit ihren Händen 385 Kilogramm angehoben und durch die Luft transportiert zu haben. Sie lebte damals in der Calle José Abascal in einem kleinen Atelier unter dem Dach, nun, im Alter von bald 40 Jahren, könne sie Grund der Bilder, die sie zeichne, hervorragend leben. Einmal wohne sie in London, dann wieder in Berlin, München, Paris. Manchmal träume sie noch von Briefen, die sie in ihrer postalischen Zeit gerne betrachtet habe, Kuverts, die selbst Kunstwerke gewesen seien, liebevoll gestaltet. Aber das genaue Betrachten der Briefe war natürlich nicht gestattet, da das Betrachten eines Briefes viel zu lange dauere. Dass ich jetzt Zeit habe, niemals hetzen muss, sogar selbst entscheiden kann, wie schnell ich mein Abendbrot zu mir nehme, ist mein größtes Glück. — stop
basra paris
zoulou : 1.12 — Ein Mädchen sitzt auf einer Treppe an der Place de la Bastille, sie schreibt in ein Schulheft. Es ist Abend geworden. Eine Kamera nähert sich. Das Mädchen hält ein Schulheft vor das Objektiv der Kamera. Ich schreibe, sagt sie, Tinte muss fließen anstatt Blut, Tinte muss fließen anstatt Blut. Das werde ich solange schreiben, bis mein Heft gefüllt sein wird. — An demselben Abend erzählt mir ein Freund von Naasem M.. Er soll im Alter von 18 Jahren nahe Basra als Soldat gekämpft und einen Lungenflügel verloren haben. Auch in diesem Jahr, wie viele Jahre zuvor, habe er sich kurz vor Mitternacht zum Jahreswechsel sehr große Kopfhörer aufgesetzt und Jazzmusik gehört. Von Ebola ist in den Nachrichten kaum noch die Rede. Leichter Schneefall. — stop
in der rue de javel 151
ginkgo : 0.02 — Ich fahre in einem Zug. Vor dem Fenster schlendert karge Landschaft, Büsche, kein Schnee, kein Gras, aber Moose und Steine. Dämmerung. Stundenlang nicht Tag und nicht Nacht. Die Waggons des Zuges scheinen von Holz zu sein, aus ihren Wänden wachsen winzige, wilde Bäume in den Raum. Diese Bäume sind nicht höher als ein Finger, winzige Affen turnen herum, auch Vögel kreisen, wenn ich mich nähere mit einem Ohr, vermag ich Pfiffe zu hören. Auf einer Bank vor dem Fenster sitzt ein älterer Herr mit einem Telefon. Er notiert große, ungelenke Buchstaben in ein Heft. Sturzprotokoll No 75: Im Nachthemd ist Mademoiselle Livin, 92, über eine Treppe vom fünften Stock des Hauses 151 in der Rue de Javel in den vierten Stock gestürzt. Paris, 10. Dezember 2014, 3 Uhr 5 Minuten. — stop
krim : lichtbild No 2
ulysses : 6.55 — Associated Press veröffentlichte vor einigen Monaten eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen, vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.