10.16 — Eigenartig, wie sie vor mir sitzt, die flachen Schuhe gegen die Beine des Stuhles gestemmt, beide Hände auf dem Tisch, Innenseiten nach oben, derart verrenkt, als gehörten diese Hände nicht zu ihr, als seien sie vorsätzlich angebrachte Instrumente, Werkzeuge des Fangens, Blüten. Jetzt schließen sie sich, Finger für Finger, Nacht wird. — ::: — Eine Fotografie kommt über den Tisch, Take Five, lässige Geste, als würde eine Karte ausgespielt. „Was siehst Du?“, fragt sie. – ::: — „Landschaft!“, — antworte ich, „Afrika. Südliches Afrika. Einen Affenbrotbaum und zwei Männer. Einen jungen Mann schwarzer Hautfarbe, der einen hellen Anzug trägt, und einen älteren, einen weißen Mann, der einen dunkelgrauen Anzug trägt, einen Strohhut und eine Brille. Eine staubige Straße. Menschen, die schwarz sind und bewaffnet. Gewehre. Macheten. Harte Schatten. Spuren von Hitze, infernalischer Hitze. Sie sehen alle so aus, als schwitzten sie. Jawohl, alle, die dort auf der Straße stehen, schwitzen.“ — ::: — „Was noch?“ -, fragt sie, — „was siehst Du noch?“ – ::: — Sie fährt sich mit ihrer rechten Hand über die Stirn. – ::: — „Ich sehe ein Auto. Das Auto steht rechts hinter dem weißen Mann, eine dunkle Limousine, ein schwerer Wagen. Ich sehe einen Chauffeur, einen Chauffeur von schwarzer Haut, Schirmmütze auf dem Kopf. Der Chauffeur lächelt. Er schaut zu den beiden Männern hinüber, die unter dem Baum im Schatten stehen. Der weiße Mann reicht dem schwarzen Mann die Hand oder umgekehrt. Sieht ganz so aus, als sei der weiße Mann mit dem Auto angekommen und der schwarze Mann habe auf ihn gewartet. Historischer Augenblick, so könnte das gewesen sein, ein bedeutender Moment, eine erste Begegnung oder eine letzte. Beide Männer haben ernste Gesichter aufgesetzt, sie stehen in einer Weise aufrecht, als wollte der eine vor dem anderen noch etwas größer erscheinen. Da ist ein merkwürdiger Ausdruck in dem Gesicht des jungen, schwarzen Mannes, ein Ausdruck von Überraschung, von Verwunderung, von Erstaunen.“ – ::: — „Das ist es!“, sie flüstert. „Treffer!“- ::: — Jetzt lacht sie, öffnet ihre Fäuste und das Licht kehrt zurück, der ganze Film. “Die Klimaanlage. Der verdammte Wagen dort unterm Baum. Der Weiße hat dem Schwarzen eine kühle Hand gereicht, Du verstehst, eine kühle Hand. Der Kerl hatte eiskalte Hände.” — stop
Aus der Wörtersammlung: rot
nebelhorn
1.28 — Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen hatte, auf dem Postamt würde ein Paket auf mich warten. Ich ging also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt. Und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten, nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam, dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegenstemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos. — Aber jetzt zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange Zeit auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann, war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz der Begeisterung kurz einmal eingenickt sein sollte. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und da sind zwitschernde Mädchenstimmen, und das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton. — stop
mandelbrot
3.38 — Seit einigen Tagen bereits werde ich nachts gegen 1 Uhr müde. Nicht einfach müde in einer Weise, dass ich noch sagen könnte – Jetzt bist Du also müde, solltest einen schönen starken Kaffee trinken oder etwas schwarzen Tee mit Honig. Nein, das ist eine Müdigkeit, die aus dem Hinterhalt kommt, als Überfall oder so etwas. Vorhin erst habe ich meinen Kopf auf die Schreibtischplatte gelegt, um meine Springspinne, die gerade aus ihrer Höhle gekommen war, aus der Perspektive einer weiteren Spinne betrachten zu können. Das war ein Fehler gewesen. Es ist jetzt bereits 3 Uhr 30 und ich habe noch nicht eine der drei sehr kurzen Kurzgeschichten gelesen, die ich mir zur Übung Nacht für Nacht verordnet habe. Werde nun vorsichtig in die Küche gehen. Dann etwas Carver lesen und vielleicht, wenn ich nicht wieder eingeschlafen sein werde, über das schöne Wort Mandelbrotmenge nachdenken, über die Temperaturen des Atlantischen Ozeans vor Neufundland, über schneeweiße Wale und andere wunderbare Dinge. — stop
helene hanff
6.07 — Leichter Schneefall. Papierlicht. Las in Helene Hanffs wundervoller Briefsammlung 84, charing cross road. Wieder der 25. März 1950. New York. 14 East 95th St. — Frank Doel, was TUN Sie eigentlich da drüben?? Sie tun gar NICHTS, Sie sitzen nur HERUM! Wo bleibt Leigh Hunt? Und wo die Oxford Gedichtanthologie? Wo bleibt die Vulgata und wo der liebe vertrottelte John Henry? All das wäre eine so nette aufbauende Lektüre für die Fastenzeit gewesen … und Sie schicken mir absolut nichts! Sie lassen mich hier sitzen und lange Randbemerkungen in Bibliotheksbücher schreiben, die mir nicht gehören. Eines Tages wird das herauskommen, und sie werden mir meinen Bibliotheksausweis wegnehmen. Ich habe mit dem Osterhasen eine Abmachung getroffen, Ihnen ein Ei zu bringen. Er wird herüberkommen und feststellen, dass Sie in Untätigkeit verstorben sind. Für den nahenden Frühling brauche ich unbedingt einen Band mit Liebesgedichten. Keinen Keats oder Shelley! Schicken Sie mir Dichter, die Liebe machen können, ohne zu sabbern – Wyatt oder Jonson oder irgendeinen anderen … denken Sie sich selbst etwas aus. Einfach ein schönes Buch, schmal genug, um in eine Anzugtasche gesteckt und in den Central Park mitgenommen zu werden. Also, sitzen Sie nicht herum! Spüren Sie es auf! Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie dieser Laden existieren kann. — stop
popcorn
22.38 — Die Vorstellung, man könnte einmal Käfer in Tüten kaufen, so wie man Popcorn in Tüten kaufen kann. Käfer in grünen Panzern, die nach Pistazien schmecken, und Käfer in roten Panzern, sie schmecken nach Johannisbeeren, und Käfer in gelben Panzern, sie schmecken nach Melisse. Sobald man eine Tüte öffnet, fliegen sie los. Sie sausen ein paar Runden durch die Luft, verdrehen einem den Kopf, um sich unverzüglich in jeden Mund zu stürzen, der sich vor ihnen öffnet. Dort dann zerplatzen sie mit einem zarten Geräusch in einem vollendeten Aromastern. — Wong Kar-Wai’s wunderbarer Nachtvogel ohne Füße, der niemals landet. — stop
china
0.20 — Im Winter nach Berlin, immer im Winter, immer nachts, im Westen ein langsam fahrender Zug hinter Bebra. Dann Grenze. Ein Posten. Türme. Metall. Und Licht. Gelbes Licht, demoliertes Licht. Und Hunde, jawohl, Hunde. Dann Osten. Von Stadt zu Stadt durchs unbekannte Land. Auf Bahnsteigen : Volkspolizei, Rücken zum Zug, Wachen oder so etwas, in den Abteilen mit Stempel, mal freundlich, mal finster, mal kühl. Dann wieder Grenze. Warten. Rangieren. Demoliertes Licht. Irgendjemand schlägt von unten her mit Metall gegen den Boden des Zuges. Hunde. Dann Westen. Herrn in Zivil, Staatsschutz, von Abteil zu Abteil. Dann Zoo. Wenn man so, immer nachts, reist, kaum Kenntnis vom Land, durch das man kommt, sagt man, das riecht hier anders, das riecht hier nach Kohle. Man steht an einem Fenster in diesem Zug, der wartet in Halle. Es ist gegen fünf in der Früh und man weiß, man darf nicht aussteigen, man weiß, die Anderen auf den Bahnsteigen jenseits der Posten, jenseits der Geleise, dürfen nicht einsteigen, man weiß, Schüsse könnten fallen. Die da draußen herumstehen, die aus dem Mund dampfen, die von der Morgenschicht in Halle, wissen das besser als die, die im Zug stehen und mit Westaugen einen Kontakt suchen für Sekunden. Schüsse könnten fallen, jawohl, Schüsse. Und deutsche Sprache, — Halt! Stehen bleiben!
Ich erinnere mich an eine Textpassage. Malcolm Lowry an Bord des Schlachtkreuzers, H.M.S.Proteus. Man liegt vor chinesischer Küste, man spielt Cricket an Deck. Nicht weit, jenseits des Wassers an Land, war ein schrecklicher Krieg im Gange. „Dum! Dum! Dum!, aber die ganze Sache fegte über unsere Köpfe hinweg, ohne uns zu berühren.“ — „Sie können sagen, dass ich dem Mann gleiche, von dem sie vielleicht gelesen haben, der sein Leben auf einem Schiff verbrachte, das regelmäßig zwischen Liverpool und Lissabon hin — und herfuhr, und bei seiner Entlassung über Lissabon nur sagen konnte : die Straßenbahnen fahren dort schneller als in Liverpool.“ Ich erinnere mich an eine Notiz des russischen Dichters Wenedikt Jerofejew : „Alle sagen, — der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel Moskau durchquert, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, aufs Geratewohl, von einem Ende zum anderen, aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen.“
Einmal, wieder Winter in Berlin, Berlin-West, 1987, ein Fest. Geräumige Wohnung. Auf den Tischen Schnapsflaschen und Erdbeergläser. Man sagt, das sei so üblich, — Gäste aus dem Osten, Schnaps auf dem Tisch. Da ist ein kleiner Mann, schütteres Haar. Sitzt die Nacht über an einem der Tische, trinkt und schlägt irre Rhythmen mittels Messern und Gabeln auf Teller, an Gläser. Man sagt, der Mann sei gerade rüber gekauft, man sagt, er habe in Bautzen II gesessen, man sagt, einmal, frostige Luft, habe man den Mann ausgezogen, man habe ihn ausgezogen und in eine Schleuse gestellt, man habe ihn dort vergessen unter freiem Himmel, dann habe man sich seiner erinnert, dann habe man ihn warm geprügelt. — Irre Rhythmen. — Hab ich also Land betreten. — stop
fjorde
3.15 — Hölzerne Schrittgeräusche, als würde ich über eine Marimba gehen. Hoch über Wolkenfjorden, eine Ebene. Kräftige, von der Arbeit stetiger Winde gegen den Boden gezwungene, feuerrote Ahornbäume. Eine uralte steinerne Straßenbahn, die steinernen Rauch ausstößt, fährt auf steinernen Schienen unter steinernen Bäumen hin und her. Leuchtbirnen von glühender Lava. — Bin vor dem Schreibtisch eingeschlafen. Kurz nach 3 Uhr von Regengeräuschen geweckt. Stehe auf. Laufe ein wenig von Zimmer zu Zimmer. Höre etwas Monk. Schneide Ingwer für den Tee. Sortiere Tonbänder. Notiere Wortbojen. — Sinusknoten. — Venenstern. — Pyramidenbahn. — Wie verdammt gut die Luft heut riecht. – Zehn Uhr fünfzehn in Naypyidaw, Burma. — stop
marco polo
3.15 — Ich kann mir auf der Stelle ein flugtaugliches Wesen denken, das von einer leuchtend roten Körperfarbe ist und über Augen verfügt, die auf Türmen sitzen. Statt Antennen wachsen ihm Scheren aus dem Kopf, statt Wasser bewohnt es Bäume, statt von Vögeln wird es von Menschen gefressen. Weshalb faszinieren mich Hummer? Warum fürchte ich Krabben? — stop
büchermenschen
15.02 — Ich hörte mich von Büchermenschen erzählen, von Büchermenschen, jawohl. Das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren gehen, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandschaften herum, in Cafés oder in einer Untergrundbahn. Dort, aus heiterem Himmel angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigte, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Wenn man sie fragte, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. — Heute habe ich mir gedacht, man sollte für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine bereits existierende Stadt, die geeignet ist, und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden wie Blumen auf einer Wiese. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man könnte dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung. Auf alle Straßen, die man passieren wird, sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden‑, und da sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen sitzen und schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. — stop