echo : 20.12 UTC — Ich habe Jonathan ungefähr drei Jahre lang nicht gesehen. Als ich ihm zuletzt begegnete, erzählte er von einem Film, der ihn hörbar beeindruckt hatte. Er sprach damals so schnell und aufgeregt, dass ich ihm nicht folgen konnte. Ich dachte nur immer wieder: Jonathan, dass Du so schnell und unentwegt sprechen kannst, wo hast Du das gelernt? Vor wenigen Minuten setzte sich Jonathan im Zug zu mir und ich machte mich auf eine weitere rasende Geschichte gefasst. Es war aber ganz anders gekommen, er sprach zunächst kaum ein Wort: Hallo Louis, lang nicht gesehen. Kurze Pause. Ja, ich arbeite noch immer in der Nacht. Lange Pause. Fünf Minuten schwieg Jonathan. Er sah zu seinen Händen hin, die in seinem Schoß ruhten. Dann begann sich seine linke Hand behutsam zu bewegen. Seine rechte Hand indessen war geöffnet. Jonathan schien einen Text zu schreiben auf einer nicht sichtbaren Tastatur, die dort für ihn sichtbar sein musste. Weitere fünf Minuten vergingen in dieser Weise des Notierens. Plötzlich hörte er auf, zu schreiben. Er führte seine rechte Hand unter seine linke Hand und begann zu lesen. — stop
Aus der Wörtersammlung: schreiben
von herzohren
olimambo : 2.22 UTC — Einmal studierte ich das Wesen der Schmeckknospen, außerdem eine anatomische Geschichte, die sich mit dem Wort Schmeckknospen verbindet. Der Himmel blitzte, ohne Donner, kaum Regen. Ich atmete mit Vorsicht, die Luft duftete nach Schwefel. Während ich las, bemerkte ich, dass ich auch im Lesen sehr langsam geworden bin. Manchmal lese ich so langsam, dass ich nicht Satz für Satz, sondern Wort für Wort vorwärts lese, jedes Wort, sagen wir, wahrnehme, wie es ist. Während ich insgesamt langsamer werde, scheinen viele Menschen um mich her schneller zu werden, sie lesen immer schneller, und sie lieben immer schneller, und sie schreiben immer schneller, und ihre Schuhe fallen ihnen vom rasenden Gehen immer schneller von den Füßen. Und Ihre Wohnungen wechseln Stadtmenschen so rasant wie früher andere Personen ihre Zimmer in Hotels. Ich kann nicht sagen, ob ich nicht vielleicht schon viel zu langsam geworden bin für das moderne Leben. Sicher ist, ich spreche noch immer viel zu schnell, auch für sehr schnelle Menschen spreche ich viel zu schnell. Wenn ich von Herzohren sehr schnell erzähle, fällt niemandem auf, dass ich von Herzohren erzählte, man glaubt, ich erzählte von Herzen und andererseits von Ohren. Einmal wanderte ich sehr langsam von einem Zimmer in ein anderes. Ich beobachtete mit großer Freude, dass ich in meiner Haut alles das, was notwendig für das Leben sein würde, von dem einen Zimmer, in dem ich aus dem Fenster geschaut hatte, in das andere Zimmer, in dem ich ein weiteres Buch lesen wollte, mit mir genommen hatte, nichts blieb zurück. – stop
in der straßenbahn
nordpol : 15.02 UTC — Folgendes. Wenn ich mich schreibend mit deutschen Menschen auseinandersetze, die überzeugt sind, afrikanische Menschen, die sich auf die Flucht nordwärts nach Europa begeben, seien selbst schuld, wenn sie im Meer ertrinken, man sollte Ihnen nicht helfen oder nur im Notfall, wenn jemand da ist, also wenn Hilfe unvermeidbar ist, wenn sie demzufolge nicht unsichtbar und ungehört zu ertrinken drohen, stelle ich mir immer wieder einmal vor, was diese Menschen an diesem schönen Sonntag wohl gefrühstückt haben? Ich frage mich, ob sie gut geschlafen haben und wie sie wohnen, ob sie glückliche Menschen oder eher unglückliche Menschen sind? Haben diese Menschen Kinder? Würde ich sie in einer Straßenbahn sitzend erkennen? Also sitze ich etwas später in einer Straßenbahn. Und plötzlich spüre ich einen Blick auf mir lasten, der nicht freundlich ist. — stop
im park
sierra : 2.55 UTC — Gestern beobachtete ich Louis, wie er in einem Park saß und eine Geschichte in ein Notizbuch schrieb. Das war ein schmales Buch gewesen. Louis notierte mit Bleistift in winziger Schrift. Er hatte deshalb eine Lesebrille aufgesetzt, die er immer wieder einmal auf seiner Nase zurechtrückte. Es war sehr feucht am See, Libellen jagten herum, obwohl schon fast dunkel geworden war, und sie leuchteten, blinkten, als wären sie ferngesteuerte Hubschrauberwesen. Louis schien sie nicht zu bemerken, er schrieb und schrieb, und wenn man sich näherte, konnte man hören, wie sein Bleistift sacht über das Papier raspelte. Das schmale Buch war schon fast vollgeschrieben und Louis Schrift wurde immer kleiner. Ich fragte ihn: Sag, worüber schreibst Du? Louis antwortete, er schreibe über einen Mann, der Lastenaufzüge bediente, verschmutzte Kästen, die in einem Lagerhaus auf und abwärts fuhren. Der Mann, von dem Louis erzählte, arbeitete bereits seit Jahren in einem dieser Kästen. Trotzdem war er im Grunde immer gut gelaunt. Das lag daran, dass der Mann sich vorstellte, er würde bald einmal in einem dieser Lastenaufzüge wohnen. Er konnte präzise beschreiben, wie sein zukünftiges Wohnzimmer beschaffen sein wird. Sofa, Regale für Bücher und Elefantenstatuten, die der Mann sammelte, Kakteen und Bambuspflanzen, zwei Tische, ein Rubensgemälde, Vasen, und so weiter und sofort. Nun, sagte Louis, das Problem ist, ich bin hier mit meinem Notizbuch bald zu Ende, aber das Zimmer im Aufzug tritt immer deutlicher an mich heran. Ich werde das Zimmer in diesem Büchlein hier nicht unterbringen. Verdammte Sache! — stop
zeitwort
india : 22.55 UTC — Ich könnte das Wort Zikadenpauke schreiben. stop. Wie viel Zeit vergeht, ehe ich das Wort Zikadenpauke zu Ende geschrieben haben werde? stop. Einhundert Paukenzeiten. stop. Wie viele Paukenzeiten machen einen Tag? — stop.
sandmann
ulysses : 22.08 UTC — Irgendwo, nicht lesbar für mich, soll im World Wide Web die schriftliche Arbeit einer Frau existieren, die vor Jahren einmal über eine verschlüsselte Datenverbindung mit einem Mann konfrontiert gewesen war, der sie bedrohte. Ich weiß nicht, was genau geschehen war. Nur soviel, dass diese Frau seither einen Text notiert, der in ihrer Vorstellung niemals enden darf, weil sie der Überzeugung ist, ihre schreibende Arbeit würde sie schützen. Dieser Text, in chinesischer Sprache verfasst, soll seinerseits von einer bedrohten Frau erzählen, die sich Tag für Tag erinnert und fürchtet, eine Beschwörung, die Geschichte eines Lebens ohne Schlaf. — stop
denkbar
marimba : 22.45 — Wenn einer schreibt in seiner Wut, dass er den ein oder anderen Menschen gerne vertreiben oder schlagen oder pfählen würde, würde er in der Wirklichkeit jenseits der Computerschreibmaschine vor seinem Haus nicht sofort tun, was er beschrieb. Aber vielleicht, wenn viele Menschen schreiben, dass sie den ein oder anderen Menschen gerne vertreiben oder schlagen oder pfählen würden, und er das liest und sich selbst wiederholt, wird er sich vielleicht bald staunend bei der Pfählung eines Menschen beobachten, einer Handlung, die ihm kurz darauf schon selbstverständlich und richtig vorkommen wird. Das ist denkbar. — stop
synopse
ginkgo : 12.08 — In einem mehrstündigen, äußerst strapaziösen Versuch, Gedanken auszutauschen mit Menschen, die eine Twitterhöllenkammer befeuern, habe ich Folgendes gelernt. Es ist nämlich so, dass in der Vorstellung dieser Menschen bald Ankerzentren existieren werden, umzäunte Gebiete, die Personen beherbergen, Personenmenschen, welche aus dem Süden bereits zu uns gekommen sind oder furchtbarer Weise noch kommen werden. Weiterhin habe ich bemerkt, dass Menschenpersonen, die sich in jenen umzäunten und bewachten Gebieten zwangsweise aufhalten sollten, in der Wahrnehmung der Höllenkammerbewohner immerzu jung sind und gesund und Männer. Man vermutet, dass diese männlichen Menschenpersonen möglicherweise schwächere Menschen auf hoher See vorsätzlich von Bord gestoßen haben könnten, vorwiegend Kinder und Mädchen, das ist selbstverständlich reine Behauptung, die durch stetige Wiederholung in der Höllenkammer stetig zur Gewissheit wird. Diese jungen Männer nun, sie sind sehr häufig von schwarzer oder dunkler Haut bedeckt, sollen außerdem über finanzielle Mittel gebieten, die ihre Flucht oder Reise überhaupt erst möglich machten, sie seien also, so erzählt man, weder arm noch in irgendeiner Weise hilfsbedürftig, sie würden beileibe nicht südlichen Hungergebieten entkommen oder vor Bürgerkriegen geflohen sein, vielmehr sollen sie von irgendwoher angereist sein wie aus dem Nichts, um auf Kosten verarmter Ureinwohner in der Mitte Europas Mischbevölkerung zu erzeugen. Weil sie sich sorgfältig kleiden, weil sie über Telefone gebieten, weil sie mitnichten ausgehungerte Elendsgestalten sind, werden sie verdächtigt, gut organisierte Ankermenschen zu sein, Vorhut oder Schlimmeres. Ja, so in dieser Art und Weise wird vorgestellt, wird ausgedacht, wird Gewissheit erzeugt. Ich stelle fest: Menschen, die keine Menschenpersonen, sondern Patrioten sind, Menschen, die in dieser skizzierten Gewissheit leben, sind empfindlich, sind wütend, sobald man sich mittels Wörtern fragend nähert. Sie schreiben unverzüglich zurück, dass man den Fragenden selbst sehr gerne pfählen würde bei lebendigem Leibe, erschießen, nach Afrika verjagen, da doch der Fragende ein linker Faschist sei, ein Antisemit, ein Mitvergewaltiger, das Böse schlechthin. stop. Die Sonne ist rund. — stop
verwandlung
echo : 0.52 UTC — Vor wenigen Tagen führte ein Gedankenaustausch mit einer Person, die mir in der digitalen Sphäre begegnete, zu einer seltsamen Situation. Später Abend. Ich stand in der Küche und schaute aus dem Fenster und überlegte, ob es sein kann, dass ein Mensch, der meinen tatsächlichen Namen nicht kennt, weil ich mit ihm unter einem Decknamen diskutierte, in der Lage sein könnte, herauszufinden, wer ich tatsächlich bin, in welcher Stadt ich wohne, in welcher Straße noch dazu. Er hatte mich nämlich als Tier bezeichnet, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob er denn jemals mit einem Menschen, der in Afrika geboren worden war, persönlich gesprochen habe. Er schrieb: Du Zecke, so können nur Schmarotzer fragen. Ich antwortete, ich müsse doch annehmen, dass er sehr viele afrikanische Menschen kenne, weil er doch andauernd über sie schreiben würde, dass man oder gar er persönlich inzwischen daran gewöhnt sei, dass Afrikaner Babys Köpfe abschneiden. Und schon wollte er mich besuchen, nicht sofort, in ein paar Tagen, vielleicht in der kommenden Woche, er würde mir dann das Licht ausknipsen. Deshalb stand ich in der Küche und überlegte. Es war kurz nach Mitternacht. — stop
brooklyn : february house
nordpol : 23.56 UTC — Wenige Wochen vor einer Reise nach New York brach ich mir den rechten Arm. Das ist jetzt bereits einige Jahre her, der komplizierte Bruch ist gut verheilt, ich kann ohne Beschwerden wieder mit der Hand notieren. Damals aber waren meine Bewegungen ungelenk, ich schrieb wie ein Kind mit großen Buchstaben. Einige dieser Zeichen entdeckte ich am späten Abend in Carson McCullers seltsamer Erzählung Die Ballade vom traurigen Café. Auf der Seite 52 des Buches hatte ich zwei Wörter vermerkt: February House. Ich erinnerte mich, dass ich damals den Entschluss fasste, einer Spur der Dichterin in New York zu folgen. Ich schrieb um Wochen verzögert und noch immer unter Schmerzen: Weil ich nur sehr schwerfällig mit der Hand in mein Notizbuch schreiben kann, notiere ich während des Lesens, indem ich in Gedanken wiederhole, was zu tun ist in den kommenden Stunden. Nachforschen in der digitalen Sphäre. Wo genau, in welcher Straße, in welchem Haus wohnte Carson McCullers in Brooklyn? Ist denkbar, dass die junge Dichterin tatsächlich drei Wochen benötigte, um das Subway-System der Stadt New York verlassen zu können? Oder suchte sie in ebendiesem Raum der Zeit nach ihrer Wohnung, die sie nicht wieder finden konnte, weil sie mittellos und ohne genauere Ortskenntnis in einem U‑Bahnwagon zurückgelassen worden war. Wie viele Dollar kostete eine Flasche Whiskey im Jahr 1934? Wie viel ein Taxi? – Wenn ich in Gedanken notiere, wiederhole ich dreifach, was ich mir zu merken wünsche. Verlorenes, das könnte sein, bemerke ich nicht. Oder nur einen Schatten ohne Wörter. — stop