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eine postkarte

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zou­lou : 7.15 — Ges­tern ent­deck­te ich in mei­nem Brief­kas­ten eine Post­kar­te, die von irgend­je­man­dem mit win­zi­gen japa­ni­schen Zei­chen beschrif­tet wor­den war. Zunächst wirk­te der Text wie ein Mus­ter, das sich erst dann zu Schrift­zei­chen auf­lös­te, als ich mei­ne Bril­le aus der Schub­la­de hol­te. Ich konn­te den Text natür­lich nicht lesen. Ich neh­me an, die Post­kar­te wur­de ver­se­hent­lich in mei­nen Brief­kas­ten gewor­fen. Bei genaue­rer Unter­su­chung stell­te ich jedoch fest, dass die Post­kar­te in jedem ande­ren Brief­kas­ten ver­mut­lich gleich­wohl ein ver­se­hent­li­ches Ereig­nis gewe­sen wäre, die Post­kar­te trug näm­lich kei­ne Anschrift an der dafür vor­ge­se­he­nen Stel­le, aber eine Brief­mar­ke des japa­ni­schen Hoheits­ge­bie­tes. Auch auf ihrer Rück­sei­te war kein Adres­sat zu erken­nen. Eine Foto­gra­fie zeigt Samu­el Beckett, der unter einem blü­hen­den Kirsch­baum sitzt, oder einen Mann, der Samu­el Beckett ähn­lich sein könn­te, der Dich­ter im Alter von 160 Jah­ren, er hat sich kaum ver­än­dert. Ein sehr inter­es­san­tes Bild. Auf einem Ast des Bau­mes sind Eich­hörn­chen zu erken­nen, sie­ben oder acht Tie­re, die ihre Augen geschlos­sen hal­ten. Ich erin­ne­re mich, dass ich ein­mal davon hör­te, Men­schen wür­den immer wie­der ein­mal Post­kar­ten notie­ren, oft sehr auf­wen­dig aus­ge­ar­bei­te­te Schrift­stü­cke, um zuletzt die Adres­se des Emp­fän­gers zu ver­ges­sen. Das ist tra­gisch oder viel­leicht eine Metho­de, Infor­ma­ti­on an die Welt zu sen­den, die nie­man­den oder irgend­ei­nen belie­bi­gen Men­schen errei­chen soll. Nun liegt die­se Post­kar­te neben Zimt­ster­nen, Bana­nen und Äpfeln auf mei­nem Küchen­tisch. Zunächst hat­te ich das Wort L i e b e r in die Goog­le – Über­set­zer­ma­schi­ne ein­ge­ge­ben und in die japa­ni­sche Spra­che über­setzt. Zei­chen, die sich auf mei­nem Bild­schirm for­mier­ten, waren mit den ers­ten Zei­chen auf der Post­kar­te iden­tisch. Ich weiß sehr genau, was nun zu tun ist. In die­sem Augen­blick jedoch scheue ich noch davor zurück, mei­nen Namen in die Mas­ke der Such­ma­schi­ne ein­zu­ge­ben. Es ist bald Mor­gen­däm­me­rung, ich höre Tau­ben auf dem Dach spa­zie­ren. — stop

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wangenschirm

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india : 5.12 — Neh­men wir ein­mal an, man erkun­dig­te sich, ob ich bereit wäre, mir einen Bild­schirm anstatt Wan­gen­haut auf mein Gesicht ver­le­gen zu las­sen, einen hoch­auf­lö­sen­den Licht­schirm, sowie einen klei­nen Spei­cher, der unsicht­bar in einen mei­ner Wan­gen­kno­chen ver­tieft wer­den könn­te. Wel­che Fil­me wür­de ich selbst auf mei­nem Gesicht zur Auf­füh­rung brin­gen? Ganz sicher Jim Jarmusch’s Down by law oder Wong Kar Wai’s Melo­dram 2046. Eine auf­re­gen­de Idee. Wel­chen Fil­men wür­de ich wohl begeg­nen, wenn ich in eine U‑Bahn stei­ge, sagen wir in der Stadt Madrid. Wie wir uns gegen­über­sit­zen und schau­en. An der Hal­te­stel­le Bil­bao wün­sche ich aus­zu­stei­gen, aber eine älte­re Dame hält mich an, reicht mir eine Pfund­no­te, bit­tet mich drin­gend, sit­zen­zu­blei­ben, weil sie noch nicht fer­tig sei, die­ser wun­der­ba­re Strei­fen, den sie noch nie gese­hen habe: Paris, Texas. — Exis­tie­ren viel­leicht Men­schen auf unse­rer Erde, die nach ihrer Geburt nie­mals von einem wei­te­ren Men­schen berührt wor­den sind? — stop
polaroidgiraffen

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k.a.i.r.o.

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MELDUNG. Fünf mit Hand­feu­er bewaff­ne­te Beam­te [ Soko K.a.i.r.o ] haben zu Vene­dig zwei Ägyp­ter sicher­ge­stellt, fili­gra­ne Mei­ßel wei­ter­hin [ 0.3 Zoll Kan­ten­län­ge ], sowie zwei Hand­täsch­chen [ tür­ki­se ]. Fol­gen­de kryp­ti­sche Signa­tur war dem Sockel­ge­stein des Palaz­zo Gri­ma­ni di San Luca [ Cal­le Riva Car­bon ] bei­gebracht : 5MHFDTHSXMHZT65. Auch die­se Ägyp­ter [ Ägyp­ter No 27 und 28 des lau­fen­den Jah­res ], je 178 cm hoch, mitt­le­res Alter, ver­wei­gern jede Aus­sa­ge. – stop

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isaak b. singer

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nord­pol : 2.55 — Ich stell­te mir soeben einen jun­gen Mann vor, der an einer län­ge­ren Novel­le schreibt. Die­se Novel­le erzählt von Kie­men­men­schen, wel­che in Was­ser­woh­nun­gen der Stadt Val­let­ta exis­tie­ren sol­len. Merk­wür­dig ist viel­leicht, dass der jun­ge Mann einen Erzähl­band Isaac B. Sin­gers auf sei­nen Arbeits­tisch leg­te, dem er nun Wör­ter ent­nimmt, die er in sei­ner Novel­le ver­wen­den will. Ich spre­che mit dem jun­gen Mann, erfah­re, dass er für sei­ne Geschich­te aus­schließ­lich Wör­ter ver­wen­den dür­fe, die im Buch Isaac B. Sin­gers ent­hal­ten sind. Es han­delt sich um eine Über­set­zung der Coll­ec­ted Sto­ries aus dem Jahr 1983. In dem Buch sind kaum noch freie Wör­ter zu fin­den. Wör­ter, die bereits ver­wen­det wur­den, sind mit Blei­stift mar­kiert. Der jun­ge Mann blät­tert wie wild gewor­den in sei­nem Buch her­um, er sucht nach den Wör­tern Lun­gen­schleu­se und See­ane­mo­nen­baum, er sucht viel­leicht ver­geb­lich, weil die­se Wör­ter in dem Roman Isaac B. Sin­gers bis­her von nie­man­dem ent­deckt wer­den konn­ten. Zu die­sem Zeit­punkt, inmit­ten der Nacht, ist denk­bar, dass der jun­ge Mann noch Jah­re so sit­zen wird und suchen, ohne sei­ne Geschich­te je fort­set­zen oder zu Ende schrei­ben zu kön­nen. — stop
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Viktoria og Marit Ansethmoen

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sier­ra : 6.50 — Ich beob­ach­te­te einen älte­ren Mann, der auf einer Fahrt von Man­hat­tan nach Sta­ten Island Schrift­zei­chen in die höl­zer­ne Sitz­bank einer Fäh­re gra­vier­te. Ein kal­ter Win­ter­tag, der Mann war sport­lich geklei­det, rote Wind­ja­cke, Lapp­land­müt­ze, Wan­der­schu­he, dazu Fäust­lin­ge, die sei­ne kräf­ti­gen Hän­de schütz­ten. Er war über­haupt von mäch­ti­ger Sta­tur gewe­sen. Ich hat­te die Vor­stel­lung, dass es sich um einen Nor­we­ger oder Fin­nen gehan­delt haben könn­te. Als der Mann das Schiff betrat, folg­te ich ihm, setz­te mich in sei­ner Nähe nie­der. Leich­ter See­gang, die Schei­ben des unte­ren Decks waren von der Salz­gischt geblen­det, drau­ßen bedeck­te eine Eis­krus­te die Pro­me­na­de der Fäh­re. Wäh­rend der Über­fahrt, da ich den alten Mann beob­ach­te­te, spiel­ten ein paar schwarz­häu­ti­ge Jungs wun­der­bar schep­pern­den Blues auf Metall­gi­tar­ren. Eine Hand­voll Schul­kin­der toll­ten her­um. Das Horn des Schif­fes grüß­te in die Luft der Upper New York Bay wie immer. Da begann der alte Mann vor mei­nen Augen mit einem Klapp­mes­ser sei­ne Arbeit. Er ver­füg­te über eine schö­ne Schrift. Wäh­rend er arbei­te­te, schien er kei­nen Blick für sei­ne Umge­bung zu haben, er mach­te das so wie einer, der meint, er sei nicht sicht­bar, solan­ge er fest an sei­ne Unsicht­bar­keit glaubt. Eine gute Vier­tel­stun­de schnitz­te er vor sich hin. Dann pack­te er sein Mes­ser in sei­nen Ruck­sack und ver­ließ das Schiff mit allen ande­ren Pas­sa­gie­ren. Kaum waren wir an Land, stell­te ich mich in die War­te­schlan­ge Rich­tung Man­hat­tan, um sofort wie­der zurück auf das­sel­be Schiff zu gelan­gen, mit dem ich zur Insel hin gefah­ren war. Nur weni­ge Minu­ten spä­ter nahm ich genau an der Stel­le Platz, an der der Mann gear­bei­tet hat­te. Auf dem Boden des Schif­fes lag ein Häuf­chen dunk­ler Spä­ne, in den Sitz ein­gra­viert ein Name: Vik­to­ria og Marit Ans­eth­moen. Dem Namen folg­te eine Zif­fer: No 7563. Die­se Zif­fer, und den dazu­ge­hö­ri­gen Namen, ent­deck­te ich ges­tern in einem Notiz­buch wie­der, das ich damals geführt hat­te wäh­rend win­ter­li­cher Fahr­ten auf Sta­ten Island Fäh­ren. Noch immer weiß ich nicht, was die­se Zahl bedeu­ten könn­te, und war­um der alte Mann den Namen einer Frau in die Sitz­bank des Schif­fes ein­ge­tra­gen hat­te. Heu­te Nacht die Vor­stel­lung, ich könn­te mei­nen Text in die nor­we­gi­sche Spra­che über­set­zen las­sen, um ihn der digi­ta­len Sphä­re zu über­ge­ben: Alter Man­hat­tan­mann, mel­den Sie sich bit­te. Code: Vik­to­ria og Marit Ans­eth­moen / No 7563 — stop

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buenos aires

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sier­ra : 6.15 — Eine spin­del­dür­re Frau kommt auf dem Flug­ha­fen­bahn­steig an mir vor­über. Es ist kurz vor halb sechs Uhr. Die Frau trägt ein Som­mer­kleid, obwohl Win­ter ist. Ich den­ke noch, viel­leicht ist sie gera­de aus Süd­ame­ri­ka ange­kom­men oder aus Aus­tra­li­en. Da dreht sie um und kehrt zurück. Sie steht unge­fähr drei Meter von mir ent­fernt und schaut mich neu­gie­rig an wie ein Kind. Beson­ders auf­merk­sam betrach­tet sie mei­ne klei­ne, fla­che Schreib­ma­schi­ne. Ich habe die Schreib­ma­schi­ne auf­ge­klappt und notie­re gera­de über einen Film, den ich vor Kur­zem beob­ach­tet hat­te. Der Film han­delt von zwei Lon­do­ner Ärz­tin­nen, die in das syri­sche Bür­ger­kriegs­ge­biet rei­sen. Sie kau­ern in einem Taxi und wis­sen nicht, wie sie sich bewe­gen sol­len, weil sie schwe­re, gepan­zer­te Wes­ten tra­gen. Die jün­ge­re der bei­den Frau­en berich­tet, dass das ein sehr selt­sa­mes Gefühl sei, hier im Auto mit die­ser Wes­te, man kön­ne nicht atmen, aber man sei sicher. Kurz dar­auf waren Schüs­se zu hören. Auf dem Bahn­steig hebt die spin­del­dür­re Frau ein Bein in die Luft, wäh­rend sie auf dem ande­ren balan­ciert. Kei­ne Tasche weit und breit, kein Kof­fer. Plötz­lich eine hel­le Stim­me. Die Frau zeigt lächelnd auf mei­ne Schreib­ma­schi­ne: Ob da wirk­lich etwas Wich­ti­ges drin ist, sagt sie. Wie ein Storch steht sie vor mir. Ihre Haut ist so weiß, als wäre sie noch nie mit dem Licht der Son­ne in Berüh­rung gekom­men. stop – Nichts wei­ter. — stop
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whis­key : 5.58 — Leroy schrieb mir einen Brief auf Papier. Er notier­te: Lie­ber Lou­is, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lan­ge man möch­te, ohne einen Cent dafür bezah­len zu müs­sen. Das ist ein ange­neh­mes Gefühl. Ich hat­te die­ses Gefühl so nicht erwar­tet. Manch­mal sit­ze ich vor dem Bild­schirm und beob­ach­te mei­nen Text auf dem­sel­ben Weg, den auch ande­re neh­men, um mich lesen zu kön­nen. Ich bin begeis­tert davon, dass ich dem Text nicht anzu­se­hen ver­mag, ob ihn gera­de in die­sem Moment ande­re Augen betrach­ten, weil es doch der­sel­be Text mit dem­sel­ben Ursprung ist. Ich wer­de noch dahin­ter­kom­men, bis dahin wun­de­re ich mich wei­ter. Ges­tern war Sin­ger zu Besuch, der sich aus­kennt in digi­ta­len Din­gen. Er frag­te, ob ich ihm sagen kön­ne, wie vie­le Men­schen denn mei­ne elek­tri­schen Tex­te besuch­ten. Ich erzähl­te ihm, dass ich selbst­ver­ständ­lich Nach­richt davon erhal­ten habe. Ich genie­ße, sag­te ich, die Auf­merk­sam­keit eini­ger Leser in Island, Ame­ri­ka, Togo, Deutsch­land, der Schweiz, den Nie­der­lan­den, Chi­na, Eng­land, Frank­reich, Marok­ko, Spa­ni­en. Man­che kom­men häu­fig und lesen, sie kom­men stünd­lich vor­bei, auf die Sekun­de genau, ande­re eher sel­ten, als wür­de sie mich gele­sen haben und sofort wie­der ver­ges­sen. Ich hol­te uns am Kiosk eine Limo­na­de, wäh­rend Sin­ger sich mit mei­nen Log­files beschäf­tig­te. Als ich zurück­kam, hör­te ich Sin­ger lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öff­ne­te, hör­te ich Sin­ger lachen. Dann hör­te er auf, und wir spra­chen über Kak­teen und ihre Win­ter­blü­te, und dass er bald wie­der für eini­ge Mona­te nach Mana­ro­la rei­sen wür­de, wo es mild sei im Win­ter. Kurz dar­auf schlief ich ein. Ich erwach­te vom Lärm vie­ler Stim­men. Auf der Stra­ße lie­fen Men­schen hin und her, es war frü­her Nach­mit­tag, ich wuss­te, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heu­te ist also Sonn­tag. Ich grü­ße Dich. Dein Leroy. — stop
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regensprache

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tan­go : 6.35 — Wäh­rend einer Trau­er­fei­er für Nel­son Man­de­la, hef­ti­ger Regen, soll ein Mann, den ich mit eige­nen Augen ohne Ver­zö­ge­rung beob­ach­te­te, in einer merk­wür­di­gen Zei­chen­spra­che Reden über­setzt oder beglei­tet haben, die für gehör­lo­se Men­schen nicht ver­ständ­lich gewe­sen war. Bereits nach den ers­ten Minu­ten sei­nes Auf­tritts hat­ten sich Men­schen irri­tiert und wütend an Fern­seh­sen­der mit der Fra­ge gewen­det, um wen es sich dort auf dem Bild­schirm eigent­lich han­del­te. Eine doch selt­sa­me Geschich­te. Man über­leg­te, ob der Mann viel­leicht gefähr­lich gewe­sen sein könn­te. Aber der Mann mach­te nur Luft­zei­chen mit sei­nen Hän­den, nichts wei­ter. Ich habe mich in den ver­gan­ge­nen Tagen gefragt, was der Mann erzählt haben könn­te oder durch sei­nen Auf­tritt andeu­ten woll­te. Der Mann war von sehr ordent­li­cher Gestal­tung gewe­sen, wirk­te klar und kon­zen­triert. Er erweck­te nicht den Ein­druck, als woll­te er aus rein per­sön­li­chen, aus Eitel­keits­grün­den dort oben auf der Büh­ne neben berühm­ten Per­sön­lich­kei­ten ste­hen, um auf sich auf­merk­sam zu machen. Er war ganz ein­fach da und ges­ti­ku­lier­te. Ich dach­te, es könn­te sich in die­ser welt­weit sicht­ba­ren Spra­che um eine erfun­de­ne, um eine zufäl­li­ge, also gar kei­ne Spra­che gehan­delt haben, weil man sie nie­mals ein­deu­tig wie­der­ho­len könn­te. Viel­leicht war es Musik, die der Mann mit sei­nen Zei­chen in aller Stil­le zur Auf­füh­rung brach­te. Viel­leicht über­setz­te er die Geräu­sche des Regens. — stop

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