marimba : 18.18 UTC — Unser Kater hieß Jakob. Er war ein großes Tier, beinahe so groß war Jakob wie ein kleiner Luchs. Er war in Paris geboren worden und reiste bald in einer kleinen Schachtel per Post nach Ferney Voltaire, wo er in einer Wohnung lebte im sechsten Stock. Da war ihm die Welt bald zu klein geworden, weswegen er lernte, mit dem Aufzug zu fahren. Manchmal hockte Jakob in den Bäumen vor dem Haus. Er machte Geräusche in der Katzensprache zu uns hin, da fuhren wir hinunter, um ihn abzuholen. Ich erinnere mich, dass mein Vater, Jakob, den Kater, nicht annehmen wollte. Eben, eben, ein Raubtier in einer Wohnung. Er sagte, als er den Spatzenkater, der damals bei seiner Anreise noch so groß gewesen war wie ein Spatz, auf dem Wohnzimmertisch sitzen sah: Nein! Kurz darauf hockte er selbst mit seinem Fotoapparat vor dem Katzentisch. Er beobachtete, wie der kleine Jakob mit seinen Tatzen nach noch kleineren Luftfischen angelte, die im Grunde nicht existierten, aber sich wie kleine Fische anfühlten, weil sie von Gas waren, das aus einem Mineralwasserglas hüpfte. Kaum war Vater aus der Dunkelkammer zurück, da war ein Bild entstanden, das Jakob noch lange Zeit zeigte, nachdem er längst nicht mehr existierte nach 24 Jahren Katzenzeit. Er kann bleiben, sagte Vater. Wie soll er heißen? — stop
Aus der Wörtersammlung: bild
apollo
nordpol : 15.02 UTC — Es war Nacht, eine besondere Nacht, die erste Nacht, da Louis von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarz-weißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch Louis Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er soeben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht beobachtete Louis seinen Vater, wie er den Bildschirm des Fernsehgerätes mehrfach fotografierte, Minuten, die meine Aufmerksamkeit für die Gegenwart moderner Lichtfangmaschinen schärften. Worauf sich das Objektiv eines Fotoapparates richtete, war von Bedeutung, ein Radiergummi, ein Schiff, das den Hafen der Stadt Chicago verlässt, ein roter Schuh, in dem sich mein linker Fuß befand, der gerade drei Jahre alt geworden war. — stop
zeitoun
whiskey : 9.35 UTC — In den letzten 10 Tagen des Oktobermonats lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen vordem nicht zu finden gewesen waren: Abstandsignale . Aquarelia . Bangsein . Birdy . Brieftaubenwörter . Camar . Carecon . Clustersuche . Contagion . Coronasimulation . Drohnenauge . Drohnensichtung . Drohnenvogel . Drollbirne . Ebolavirus . Eichhörnchenschatten . Fingercurser . Inari. Inzidenz. Jennifer.five . Kolibriwesen . Krokodilmodell . Kürbissuppe . Libellenlarven . Looters . luren . Meeresgewächse . Meereswesen . Monroe . Mundschutzalgorithmus . Nachtschifftag . neuronal . Palanca . Pandemietote . Pandemiezeit . Particleszeichen . Pfuhlschnepfe . Plexiglasscheiben . Resilienz . Rotkopfschildkröten . Sars-Cov‑2 . Sarslämpchen . Schiffpendelbewegung . Schlafdurcheinanderzeit . Seeanemonenblüte . Seetangklumpen . Spätabendmenschen . Spelling . Superdomehalle . Süßwasseranemone . Tänzerraver . Teillockdown . Tresspassangers . Vakzin . Warlogs . Wortkernbilder . Zattere . Zeitoun . Zeppelinwerkstatt . Zeppelinwolken. — stop
dunkelkammer
echo : 0.06 UTC — Ich stehe vor einer Tür. Ich bin groß genug geworden, um die Klinke der Tür mit einer Hand zu erreichen. Ich versuche die Tür zu öffnen, da ruft Mutter, nicht Louis, Papi arbeitet. Aber das war seltsam, weil das Zimmer hinter der Tür das Badezimmer gewesen war, nicht das Arbeitszimmer, das gab es auch. Mutter sagte: Dein Vater entwickelt Bilder, es muss dunkel, stockdunkel sein im Zimmer, Du musst etwas warten, mein Schatz, Papi wird bald herauskommen. Ich erinnere mich, dass ich mich auf den Boden legte und unter der Tür zum Badezimmer hindurch spähte. Ich konnte Vaters Radio hören, und ich beobachte rotes Licht, das im Badezimmer leuchtete, sodass ich dachte, das Radio würde vielleicht rot leuchten. Es ist nicht dunkel, sagte ich, Mutter antworte, doch, doch, das ist Vaters Dunkelkammer. Vermutlich weil ich erlebte, was ich gerade erzählte, bewirkte, dass ich mit Radioapparaten noch Jahre später rotes Licht in Verbindung brachte. Dann, bald, wurden Radios grün, wegen ihres leuchtenden Auges. Es waren Röhrengeräte. — stop
vom winterflieder
sierra : 20.01 UTC — Manchmal, wenn es regnete an Nachmittagen, wurde Nacht gemacht. Das Licht des Tages draußen ausgesperrt, nahmen wir Kinder im Wohnzimmer Platz auf dem Sofa, auf dem Boden, auf Stühlen und warteten, dass Vater seine Lichtmaschine, die er längst vorbereitet hatte, endlich starten würde. Da war eine Leinwand, und da waren beschriftete und gerippte Behälter von Kunststoff, in welchen sich Sekundenzeit reihte, Zeitabteile, die wir bald ansehen würden und davon berichten, wann das war und wo das war und wer das gewesen war auf der Leinwand bewegungslos. Da dachte ich einmal, da hast Du Louis aber streng geschaut, da hättest du vielleicht ein Lächeln der Kamera schenken sollen, da kann man jetzt nichts mehr machen. Du schaust aber melancholisch drein, sagte mein Bruder, und ich sagte: Das nächste Bild, weiter, bitte weiter! Und da war dann ein Fliederbaum zu sehen, es war Winter, und der Flieder brütete Schneeflocken aus, und das Lichtgerät rauschte und das blühende Bild stand so lange still, bis mein Vater auf jenen roten Knopf seiner Fernsteuerung drückte. — stop
die fotografien meines vaters
marimba : 14.12 UTC — Als ich noch ein Kind gewesen war, lernte ich bald das Geräusch der Fotografien kennen. Es war, zum Beispiel, an einem Samstag. Der Fotoapparat, der das Licht zu fangen vermochte, befand sich irgendwo außerhalb meines rollenden zu Hauses in den Händen meines Vaters, der die Linse auf mich richtete oder in den Himmel hinauf oder auf das lachende Gesicht meiner schönen Mutter, die den Kinderwangen schob und schaukelte. Dann, auch an jenem Samstag zum Beispiel, war bald ein wunderbares Geräusch zu hören, das ich noch immer in meinem Gehirn nachbilden kann, eine Sammlung heller trillernder, auch raschelnder Töne, ein Gleiten von einer Sekunde Dauer. Und noch einmal, ja, er lacht, sagte mein Vater, und dass ich tatsächlich lachte, würde ich einige Jahre später mit eigenen Augen sehen, vor einer Leinwand sitzend, auf die das Licht fiel, das mein Vater eingefangen hatte. Dieses Licht, das aus einem surrenden, hechelnden grauen Kasten strömte, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuchten brachte, als würde es schneien in unserer kleinen Wohnung. Fotografieren war für mich zunächst ein Ton, nachdem sich auch die Vögel in den Wäldern und Parks herumdrehen wollten. — stop
oktoberklee
nordpol : 8.12 UTC — Vom Bildschirm aus spricht eine ältere Frau, erzählt von Kontaktverfolgung, wie sie im Gesundheitsamt, das sie leitet, verwirklicht wird. Ruhige Sprache, klug, sie scheint widerstandsfähig zu sein, gesund, man möchte meinen, sie sei vielleicht eine Almwirtin, die in großer Höhe bei Wind und Wetter arbeitet. Nur ihre Stirn, ihre Augen, ihr graues Haar sind zu sehen. Mund, Nase, Wangen liegen hinter einem Mundschutz verborgen. Den möchte ich gern entfernen, weil ich diese energisch und zugleich warm und freundlich sprechende Person, wahrnehmen möchte, als wäre nicht Pandemiezeit. Tatsächlich entdecke ich in der digitalen Sphäre bereits im ersten Versuch eine Fotografie, die sie zeigt, als sie noch ohne Maske arbeiten konnte. — Heute leichter Regen, die Straßen von Kastanien bedeckt, Eichhörnchen durchsuchen das Meer der Früchte nach genießbaren Nüssen, die sie nicht finden. Es wird einen warmen Winter geben. Unter den Bäumen blüht der Klee. — stop
vom brausetütchen
echo : 0.28 UTC — Zeiträume meines Lebens existieren, für die ich keine Erinnerung habe, Bilder, Geräusche, Geschichten, Gegenstände, die ich sofort aufrufen könnte, irgendwo sind sie versteckt. Vor kurzem erinnerte ich mich an Springspiele meiner Kindheit, was waren das für Gummibänder gewesen? Brausetütchen. Ein Plattenspieler. Ein sich im Wind wiegender Baum. — Das Wort Pandemie ist mir schon lang bekannt, wann präzise könnte ich das Wort zunächst gelesen oder gehört haben? — stop
regenhell
whiskey : 22.14 UTC — Einmal, vor Jahren, wachte ich auf. Es war hell im Zimmer. Ich bemerkte, dass es über Nacht unerwartet heftig geschneit hatte, all das Weiß vor den Fenstern, und ich dachte für einen Moment, ich sollte das Bild korrigieren. Und gestern nun eine ähnliche Geschichte, es hatte geregnet, die Bäume vor meinem Fenster tropften, ein Knistern oder leises Rauschen. — stop
ja bitte?
echo : 15.02 UTC — In den Archiven meiner flachen Glasschreibmaschine sind letzte Gespräche geborgen, die ich vor zwei Jahren im Sommer mit meiner Mutter führte. Sie war im Haus der alten Menschen plötzlich wieder wach geworden, so wach, dass sie in ihrem Bett sitzen und erzählen wollte. Sie trug, ich erinnere mich noch gut, eine rosafarbene Bluse, und während sie erzählte, fasste sie immer wieder nach meiner Schreibmaschine, wollte sie in Händen halten, sah die Bewegung ihrer Stimme auf dem Bildschirm, Amplituden. Plötzlich schlief sie ein. Und ich ließ das Tonbandprogramm laufen, legte meine Schreibmaschine neben Mutter ins Bett und ging ein wenig über die Flure spazieren. Als ich zurückkehrte, war meine Mutter wach geworden. Ich hörte, noch war ich auf dem Flur, wie sie sprach, wie sie der Maschine erzählte, die sie gleich neben sich liegen sah. Sie lachte, als sie mich entdeckte und erzählte weiter, ohne eine Pause zu machen. Ich habe diese Gespräche mit meiner Mutter, ihre Erzählungen, seither nicht wieder gehört, habe sie jedoch sorgfältig gesichert. Es fällt nicht leicht ihre Stimme zu erinnern so einfach so. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde sie anrufen, dann geht es: Sie sagt: Ja bitte? — stop