Aus der Wörtersammlung: boden

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china

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0.20 — Im Win­ter nach Ber­lin, immer im Win­ter, immer nachts, im Wes­ten ein lang­sam fah­ren­der Zug hin­ter Bebra. Dann Gren­ze. Ein Pos­ten. Tür­me. Metall. Und Licht. Gel­bes Licht, demo­lier­tes Licht. Und Hun­de, jawohl, Hun­de. Dann Osten. Von Stadt zu Stadt durchs unbe­kann­te Land. Auf Bahn­stei­gen : Volks­po­li­zei, Rücken zum Zug, Wachen oder so etwas, in den Abtei­len mit Stem­pel, mal freund­lich, mal fins­ter, mal kühl. Dann wie­der Gren­ze. War­ten. Ran­gie­ren. Demo­lier­tes Licht. Irgend­je­mand schlägt von unten her mit Metall gegen den Boden des Zuges. Hun­de. Dann Wes­ten. Herrn in Zivil, Staats­schutz, von Abteil zu Abteil. Dann Zoo. Wenn man so, immer nachts, reist, kaum Kennt­nis vom Land, durch das man kommt, sagt man, das riecht hier anders, das riecht hier nach Koh­le. Man steht an einem Fens­ter in die­sem Zug, der war­tet in Hal­le. Es ist gegen fünf in der Früh und man weiß, man darf nicht aus­stei­gen, man weiß, die Ande­ren auf den Bahn­stei­gen jen­seits der Pos­ten, jen­seits der Gelei­se, dür­fen nicht ein­stei­gen, man weiß, Schüs­se könn­ten fal­len. Die da drau­ßen her­um­ste­hen, die aus dem Mund damp­fen, die von der Mor­gen­schicht in Hal­le, wis­sen das bes­ser als die, die im Zug ste­hen und mit West­au­gen einen Kon­takt suchen für Sekun­den. Schüs­se könn­ten fal­len, jawohl, Schüs­se. Und deut­sche Spra­che, — Halt! Ste­hen bleiben!

Ich erin­ne­re mich an eine Text­pas­sa­ge. Mal­colm Lowry an Bord des Schlacht­kreu­zers, H.M.S.Proteus. Man liegt vor chi­ne­si­scher Küs­te, man spielt Cri­cket an Deck. Nicht weit, jen­seits des Was­sers an Land, war ein schreck­li­cher Krieg im Gan­ge. „Dum! Dum! Dum!, aber die gan­ze Sache feg­te über unse­re Köp­fe hin­weg, ohne uns zu berüh­ren.“ — „Sie kön­nen sagen, dass ich dem Mann glei­che, von dem sie viel­leicht gele­sen haben, der sein Leben auf einem Schiff ver­brach­te, das regel­mä­ßig zwi­schen Liver­pool und Lis­sa­bon hin — und her­fuhr, und bei sei­ner Ent­las­sung über Lis­sa­bon nur sagen konn­te : die Stra­ßen­bah­nen fah­ren dort schnel­ler als in Liver­pool.“ Ich erin­ne­re mich an eine Notiz des rus­si­schen Dich­ters Wene­dikt Jero­fe­jew : „Alle sagen, — der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein ein­zi­ges Mal gese­hen. Wie vie­le Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brum­men­dem Schä­del Mos­kau durch­quert, von Nor­den nach Süden, von Wes­ten nach Osten, aufs Gera­te­wohl, von einem Ende zum ande­ren, aber den Kreml habe ich kein ein­zi­ges Mal gesehen.“

Ein­mal, wie­der Win­ter in Ber­lin, Ber­­lin-West, 1987, ein Fest. Geräu­mi­ge Woh­nung. Auf den Tischen Schnaps­fla­schen und Erd­beer­glä­ser. Man sagt, das sei so üblich, — Gäs­te aus dem Osten, Schnaps auf dem Tisch. Da ist ein klei­ner Mann, schüt­te­res Haar. Sitzt die Nacht über an einem der Tische, trinkt und schlägt irre Rhyth­men mit­tels Mes­sern und Gabeln auf Tel­ler, an Glä­ser. Man sagt, der Mann sei gera­de rüber gekauft, man sagt, er habe in Baut­zen II geses­sen, man sagt, ein­mal, fros­ti­ge Luft, habe man den Mann aus­ge­zo­gen, man habe ihn aus­ge­zo­gen und in eine Schleu­se gestellt, man habe ihn dort ver­ges­sen unter frei­em Him­mel, dann habe man sich sei­ner erin­nert, dann habe man ihn warm geprü­gelt. — Irre Rhyth­men. — Hab ich also Land betre­ten. — stop

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fjorde

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3.15 — Höl­zer­ne Schritt­ge­räu­sche, als wür­de ich über eine Marim­ba gehen. Hoch über Wol­ken­fjor­den, eine Ebe­ne. Kräf­ti­ge, von der Arbeit ste­ti­ger Win­de gegen den Boden gezwun­ge­ne, feu­er­ro­te Ahorn­bäu­me. Eine uralte stei­ner­ne Stra­ßen­bahn, die stei­ner­nen Rauch aus­stößt, fährt auf stei­ner­nen Schie­nen unter stei­ner­nen Bäu­men hin und her. Leucht­bir­nen von glü­hen­der Lava. — Bin vor dem Schreib­tisch ein­ge­schla­fen. Kurz nach 3 Uhr von Regen­ge­räu­schen geweckt. Ste­he auf. Lau­fe ein wenig von Zim­mer zu Zim­mer. Höre etwas Monk. Schnei­de Ing­wer für den Tee. Sor­tie­re Ton­bän­der. Notie­re Wort­bo­jen. — Sinus­kno­ten. — Venen­stern. — Pyra­mi­den­bahn. — Wie ver­dammt gut die Luft heut riecht. – Zehn Uhr fünf­zehn in Nay­py­idaw, Bur­ma. — stop

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luftbeben

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2.15 — Heu­te Nacht, weiß der Him­mel war­um, knis­tern die Wän­de mei­ner höl­zer­nen Zim­mer. Viel­leicht ist der Boden unter der Stadt nach Nor­den vor­ge­rückt, und ich höre in die­sen Stun­den das Nach­fe­dern des Hau­ses. Oder aber feins­te Sub­stan­zen der Luft sind in elek­tri­scher Bewe­gung, weil hin­ter den wan­dern­den Erd­ma­gne­ten bereits Win­ter wird. Um eins gehe ich aus dem Haus. Um zwei bin ich zurück. Jetzt ist es fünf­zehn Minu­ten spä­ter und in New York gera­de kurz nach sie­ben Uhr Abend, bes­te Zeit einen klei­nen Imbiss zu mir zu neh­men. Dann wie­der an die Arbeit. Habe noch ein paar Namen zu erfin­den. Geräu­sche, sagen wir: — Bur­ma 8. Man­drill. Sub­se­ven. Mila­n­o­ma­ki. — Gern würd ich die kom­men­den 500 Jah­re über­le­ben. — stop

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im wald

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14.12 — Träum­te einen Wald. Küh­le Luft dort, stei­ner­ne Hal­me bis unter den Him­mel, uraltes Zeug. Auch Affen, sie waren durch­blu­tet, mäch­ti­ge Tie­re, von Kopf bis Fuß schwarz-weiß in Strei­fen. Auch die Ohren, schwarz und weiß. Sehr klei­ne Ohren, Ohren aus Mensch. Auf einer Lich­tung dreh­te sich eine Kugel dicht über dem Boden, rasend schnell, elek­trisch beleuch­tet, war­mes, ange­neh­mes Licht. Sand flog auf an Ort und Stel­le, und Laub. Da war noch Musik, eine Orgel, direkt aus dem Boden, Wal­zer­mu­sik. Auch Stim­men von dort, gedämpf­te Stim­men. Nicht weit, etwas loses Papier im Gras. Und lee­re Fla­schen. Die Luft stank nach Schnaps, nach Urin und die­sen Din­gen. Im Schat­ten einer kräf­ti­gen Buche lagen ein paar Bücher her­um, ein Lowry, etwas Duras, etwas Fitz­ge­rald, auch von Joy­ce ein paar Sei­ten, von O’Neill. Plötz­lich Däm­me­rung, Zwie­licht. Ich erin­ne­re mich an das Haupt von Patri­cia High­s­mith, das aus dem Boden rag­te. Das war ein sehr schmut­zi­ger Kopf, ein Kopf, der lach­te. Der Kopf sah mich an und sag­te, hei­se­re Stim­me: Mal­colm hat wie­der ein Manu­skript ver­lo­ren. Dann schwieg er. Dann aber kühl: Ich wün­sche eine Bestel­lung auf­zu­ge­ben. — stop

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wespenjäger

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20.05 — Beob­ach­tung am frü­hen Abend : Wes­pe, 1 Zen­ti­me­ter, stürzt sich auf Libel­le, 12 Zen­ti­me­ter, reißt Insek­ten­vo­gel aus der Luft zu Boden, 0,5 Sekun­den, tran­chiert Kopf vom Rumpf, 20 Sekun­den. Abtrans­port des schö­nen Schil­ler­schä­dels unver­züg­lich, als wär man nur an Gehir­nen inter­es­siert, oder an Augen, oder Tro­phä­en. — stop

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djuna barnes

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18.13 — Wes­halb träu­me ich nur sel­ten, und wenn, dann hei­te­re Geschich­ten vom Zer­glie­dern mensch­li­cher Kör­per? Ges­tern bei­spiels­wei­se kam der schö­ne Kopf einer Freun­din auf acht win­zi­gen Füßen über den Boden mei­nes Arbeits­zim­mers spa­ziert. Sie rezi­tier­te in rasen­der Geschwin­dig­keit einen Text Dju­na Bar­nes mit lach­gas­hel­ler Stim­me. — Nichts ist noch selbst­ver­ständ­lich. — stop

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zyklope

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20.33 — Ein­mal, vor zwei oder drei Jah­ren, erzähl­te mir ein jun­ger Medi­zin­mann einen merk­wür­di­gen Traum. Fol­gen­des, sag­te der Mann. Stell dir einen War­te­saal vor, einen Bahn­hof. Rei­sen­de sit­zen dort auf höl­zer­nen Bän­ken. Sie rau­chen und plau­dern mit­ein­an­der. Unweit einer Schal­ter­ga­le­rie kau­ern unbe­klei­de­te Zyklo­pen von schnee­wei­ßer Haut zu einem Kreis auf dem Boden, tau­schen Her­zen und Gehir­ne und Bei­ne und Arme von Men­schen. Sie rau­chen gleich­wohl und scher­zen in einer Spra­che, die nicht zu ver­ste­hen ist. Ich erin­ne­re mich, mei­nen eige­nen Kopf gese­hen zu haben. So lan­ge rei­chen sie ihn her­um, bis jeder der Zyklo­pen ihn ein Mal in Hän­den gehal­ten und von allen Sei­ten her betrach­tet hat. — An die­ser Stel­le mach­te der jun­ge Mann eine Pau­se. — Wol­ken­lo­ser Nacht­him­mel mit Mond. Der Ein­druck, es wür­de reg­nen. — stop

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büchermenschen

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15.02 — Ich hör­te mich von Bücher­men­schen erzäh­len, von Bücher­men­schen, jawohl. Das sind Per­so­nen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spa­zie­ren gehen. Wenn sie ein­mal nicht spa­zie­ren gehen, sit­zen sie stu­die­rend auf Bän­ken in Park­land­schaf­ten her­um, in Cafés oder in einer Unter­grund­bahn. Dort, aus hei­te­rem Him­mel ange­spro­chen, wenn man sich nach ihrem Namen erkun­dig­te, wür­den sie erschre­cken und sie wür­den viel­leicht sagen, ohne den Kopf von der Zei­chen­li­nie zu heben, ich hei­ße Anna oder Vic­tor, obwohl sie doch ganz anders hei­ßen. Wenn man sie frag­te, wo sie sich gera­de befin­den, wür­den sie behaup­ten, in Petusch­ki oder in Brook­lyn oder in Kai­ro oder auf einem Amzo­nas­re­gen­wald­fluss. — Heu­te habe ich mir gedacht, man soll­te für die­se Men­schen eine eige­ne Stadt errich­ten, eine Metro­po­le, die allein für lesend durch das Leben rei­sen­de Men­schen gemacht sein wird. Man könn­te natür­lich sagen, wir bau­en kei­ne neue Stadt, son­dern wir neh­men eine bereits exis­tie­ren­de Stadt, die geeig­net ist, und machen dar­aus eine ganz ande­re Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Pro­be. In die­ser Stadt lesen­der Men­schen sind Biblio­the­ken zu fin­den wie Blu­men auf einer Wie­se. Da sind also gro­ße Biblio­the­ken, und etwas klei­ne­re, die haben die Grö­ße eines Kiosks und sind geöff­net bei Tag und bei Nacht. Man könn­te dort sehr kost­ba­re Bücher ent­lei­hen, sagen wir, für eine Stun­de oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Wäh­rend man geht, wird gele­sen. Das ist sehr gesund in die­ser Art so in Bewe­gung. Auf alle Stra­ßen, die man pas­sie­ren wird, sind Lini­en auf­ge­tra­gen, Stre­cken, die lesen­de Men­schen durch die Stadt gelei­ten. Da sind also die gel­ben Krei­se der Stunden‑, und da sind die roten Lini­en der Minu­ten­ge­schich­ten. Blau sind die Stre­cken mäch­ti­ger Bücher, die schwer sind von feins­ten Papie­ren. Sie füh­ren weit aufs Land hin­aus bis in die Wäl­der, wo man unge­stört auf sehr beque­men Pini­en­bäu­men sit­zen und schla­fen kann. In die­ser Stadt lesen­der Men­schen haben Auto­mo­bi­le, sobald ein lesen­der Mensch sich nähert, den Vor­tritt zu geben, und alles ist sehr schön zau­ber­haft beleuch­tet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. — stop

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