Aus der Wörtersammlung: ecke

///

nachtvogel

14

 

 

nord­pol

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : NACHTVOGEL

Eine merk­wür­di­ge Novem­ber­nacht neigt sich dem Ende zu. Ich habe, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, in den ver­gan­ge­nen Stun­den mehr­fach den Ver­such unter­nom­men, einen Vogel von blau­em Gefie­der, der ein paar Run­den durch mei­ne Woh­nung geflo­gen war, auf­zu­fan­gen, das heißt, mei­ne Hän­de in einer Wei­se dar­zu­bie­ten, dass der Vogel auf ihnen lan­den konn­te, ohne auf den Boden zu fal­len. Ich dürf­te eine kurio­se Erschei­nung gewe­sen sein, wie ich mich ver­renk­te, wie ich dem Vogel folg­te, wie ich Geräu­sche mach­te, als könn­te ich in der Spra­che der Vögel spre­chen. Und jetzt ist es bald fünf Uhr und der Vogel ist immer noch hier. Er flat­tert her­um, ein aus­dau­ern­des Geschöpf von der Grö­ße eines Ten­nis­bal­les, oran­ge­far­be­ne Augen, gel­ber Schna­bel, ein sehr beson­de­res Wesen, weil es sich um einen Vogel ohne Füße han­delt. Sicher wer­det Ihr Euch fra­gen, wie es mög­lich sein kann, dass der Vogel ohne sei­ne Füße über­le­ben konn­te, dass er nicht längst in irgend­ei­ner Ecke zer­schell­te, und über­haupt, wie es dazu gekom­men war, dass der Vogel sei­ne Füße ver­lor. Das alles liegt noch völ­lig im Dunk­len. Ich habe kei­ne Ahnung, nicht die gerings­te Vor­stel­lung, sodass ich nun war­ten muss, solan­ge war­ten, bis mir etwas ein­fällt, das noch fehlt, um voll­stän­dig wer­den zu kön­nen. Wie geht es Euch über­haupt? Denkt Ihr noch an die Fra­ge, die ich Euch unlängst stell­te? Ich woll­te wis­sen, ob Ihr dort Oben für die Ewig­keit noch immer leib­lich mit­ein­an­der ver­wach­sen seid? – Euer Lou­is, sehr herz­lich, wünscht einen guten Tag!

gesen­det am
11.11.2010
5.05 MESZ
1512 zeichen

lou­is to dai­sy and violet »

ping

///

edison

2

oli­mam­bo : 3.15 — Vari­an­ten, Bewe­gun­gen einer Hand zu beschrei­ben, die sich spie­le­risch über einer Kla­ri­net­te bewegt. — Müde. — Viel­leicht die­se Art Sand­au­gen­mü­dig­keit, die Nacht­ar­beit bewir­ken kann. Wann ist Mit­tag in der Nacht? Wann beginnt der Abend? Ich ste­he auf, ver­tre­te mir die Bei­ne, lau­fe vor dem Bücher­re­gal hin und her, ent­de­cke ein Buch, das von Edi­son erzählt, ein Buch aus der Kin­der­zeit, sit­ze auf dem Sofa, lese und schaue. — Wie man Glüh­bir­nen macht? Zunächst macht man einen glä­ser­nen Behäl­ter für das Licht und die­ses Glas nun glüht in einem sehr war­men oran­ge­far­be­nen Ton und ist flüs­sig und irgend­wie sehr heiß, denn die Män­ner, die an ihm arbei­ten, tra­gen kräf­ti­ge Hand­schu­he, ihre Gesich­ter sind zum Schutz mit feuch­ten Tüchern ver­bun­den. Jetzt bin ich ein­ge­schla­fen. — stop
ping

ping

///

groundzerosekundenzeit

2

char­lie : 22.18 — Kurz nach sechs Uhr abends. Church Street. Auf einer Trep­pe sitzt ein Mann in einem dunk­len Anzug, wei­ßem Hemd, blau­er Kra­wat­te. Seit bald einer Vier­tel­stun­de, Akten­kof­fer zwi­schen den Bei­nen, Hän­de gefal­tet, ver­harrt er in die­ser Wei­se bewe­gungs­los, schaut in den Luft­raum über Ground Zero. Press­luft­häm­mer sind zu hören, Tau­ben picken über den Boden. Eine Arm­län­ge ent­fernt von dem Mann, der zu beten scheint, balan­ciert ein sehr viel jün­ge­rer Mann auf den Schul­tern eines wei­te­ren jun­gen Man­nes. Er hält mit einer Hand einen Foto­ap­pa­rat so weit wie mög­lich in die Höhe, um eine Foto­gra­fie jenes Ortes auf­neh­men zu kön­nen, der hin­ter einem Bau­zaun ver­bor­gen liegt. Das sieht so aus, als ver­su­che er rück­wärts in die Zeit vor­zu­drin­gen, als wol­le er noch etwas vom Ver­schwun­de­nen, vom Schre­cken doku­men­tie­ren, all das fin­den viel­leicht, was dort nicht mehr ist, so gründ­lich wur­de auf­ge­räumt. Wie er jetzt von den Schul­tern des Freun­des springt, fällt ihm der Foto­ap­pa­rat aus der Hand. Der klei­ne Blech­kas­ten schep­pert über den Geh­steig, Tau­ben flie­gen auf. Auch der Blick des beten­den Man­nes bewegt sich, fla­ckert für einen Moment in den Räu­men der Zeit. — stop
ping

///

raymond carver goes to hasbrouck heights

2

echo : 22.12 — Es ist die Welt des Ray­mond Car­ver, die ich betre­te, als ich mit dem Bus die Stadt ver­las­se, west­wärts, durch den Lin­coln Tun­nel nach New Jer­sey. Der Blick auf den von Stei­nen bewach­se­nen Mus­kel Man­hat­tans, zum Grei­fen nah an die­sem Mor­gen küh­ler Luft. Dunst flim­mert in den Stra­ßen, deren Fluch­ten sich für Sekun­den­bruch­tei­le öff­nen, bald sind wir ins Gebiet nied­ri­ger Häu­ser vor­ge­drun­gen, Eis­zap­fen von Plas­tik fun­keln im Licht der Son­ne unter Regen­rin­nen. Der Bus­fah­rer, ein älte­rer Herr, begrüßt jeden zustei­gen­den Gast per­sön­lich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Has­b­rouck Heights, eine hal­be Stun­de Zeit, des­halb liest man in der Zei­tung, schläft oder schaut auf die Land­schaft, auf ros­ti­ge Brü­cken­rie­sen, die flach über die sump­fi­ge Gegend füh­ren. Und schon sind wir ange­kom­men, ein lie­be­voll gepfleg­ter Ort, der sich an eine stei­le Höhe lehnt, ein­stö­cki­ge Häu­ser in allen mög­li­chen Far­ben, groß­zü­gi­ge Gär­ten, Hecken, Büsche, Bäu­me sind auf den Zen­ti­me­ter genau nach Wün­schen ihrer Besit­zer zuge­schnit­ten. Nur sel­ten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlen­de­re von Stra­ße zu Stra­ße, wer­de dann freund­lichst gegrüßt, how are you doing, ich spü­re die Bli­cke, die mir fol­gen, Bäu­me, Blu­men, Grä­ser schau­en mich an, das Feu­er der Aza­leen, Eich­hörn­chen stür­men über sanft geneig­te Dächer: Habt ihr ihn schon gese­hen, die­sen frem­den Mann mit sei­ner Pola­roid­ka­me­ra, die­sen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns neh­men, wird klin­geln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gera­de foto­gra­fiert. Wol­len Sie sich betrach­ten? — stop

///

ground zero

2

sier­ra : 18.16 — Zwei Stun­den Broad­way süd­wärts bis Ful­tonstreet. Eine klei­ne Kir­che, St Paul’s Cha­pel, Gra­nit­stei­ne, Grä­ber, ein Gar­ten unter Bäu­men. Ich ken­ne die­sen Gar­ten, die­se Bäu­me, eine Foto­gra­fie genau­er, die einen Staub­gar­ten zeigt, Sekun­den­zeit ent­fern­ter Gegen­wart, ein Bild, das im Sep­tem­ber 2001 auf­ge­nom­men wur­de, am elf­ten Tag des Monats kurz nach zehn Uhr vor­mit­tags. Hell­graue Land­schaft, Papie­re, grö­ße­re und klei­ne­re Tei­le, lie­gen her­um, Akten, Scher­ben. Auch die Bäu­me vor der Kir­che, hel­le Gestal­ten, als hät­te es geschneit, eine fei­ne Schicht reflek­tie­ren­der Kris­tal­le, Spät­som­mer­eis, das an Wän­den, Stäm­men und an den Men­schen haf­tet, die durch den Gar­ten schrei­ten, träu­men­de, schlaf­wan­deln­de, jen­sei­ti­ge Per­so­nen im Moment ihres Über­le­bens. Ein merk­wür­di­ges Licht, bei­nern, nicht blau, nicht blü­hend wie am heu­ti­gen Tag um Jah­re wei­ter­ge­kom­men. Etwas fehl­te in der Luft im Raum unter dem Him­mel über Man­hat­tan sehr plötz­lich, war so fein gewor­den, dass es von flüch­ten­den Men­schen ein­ge­at­met wur­de. Kaf­fee­tas­sen. Trep­pen­läu­fe. Hän­de. Feu­er­lö­scher. Füße. Wasch­be­cken. Nie­ren. Stüh­le. Schu­he. Com­pu­ter­bild­schir­me. Arme. Brüs­te. Kopf­scha­len. Radio­ge­rä­te. Blei­stif­te. Tele­fo­ne. Ohren. Augen. Her­zen. stop
ping

///

zungen

2

del­ta : 18.
05 — Was ich hör­te im Gehen Ecke Lex­ing­ton Ave­nue zur 59. Stra­ße, ein Wort müss­te ich übers ande­re schrei­ben. Das Heu­len der Lösch­zü­ge, das Hupen der Taxim­o­bi­le, quiet­schen­de Brem­sen, Kra­wall aus Läden, Men­schen­stim­men, Pfei­fen, Quiet­schen, Äch­zen, Brau­sen, Lärm­zun­gen, die um jede Ecke strei­chen, ein Wort über das ande­re schrei­ben, bis sich die Zei­chen aus dem Papier erhe­ben. — stop

///

holly — juli 26

2

gink­go : 1.18 — Ein Herr, wie geträumt, sitzt auf einem Klapp­stuhl nahe der Bus­sta­ti­on Port Aut­ho­ri­ty in einem Sub­way­tun­nel. Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Mann voll­zieht auf einer Ham­mond­or­gel Ohren­wurm­me­lo­dien ohne Pau­se. Wei­ßes Haar, gelb­lich schim­mernd, grau­er Anzug, blau­es Hemd. Dürr sprin­gen sei­ne Hän­de über die Tas­ta­tur, auf dem spie­geln­den Rücken des Instru­men­tes tanzt eine elek­tri­sche Jazz­fi­gur im schwar­zen Anzug. Die klei­ne Per­so­nen­ma­schi­ne scheint defekt zu sein, hält immer wie­der ein­mal an, bebt ein wenig nach, federt, for­dert einen wecken­den Stoß unver­züg­lich. Unweit, auf dem Boden, eine wei­te­re Pup­pe, rotes Haar, lebens­nah, durch­blu­tet, ein Bon­sai­mäd­chen, dem zwei Fin­ger der rech­ten Hand ver­lo­ren sind. Geschmei­di­ge Bewe­gun­gen der hel­len Arme in jede Him­mels­rich­tung, gra­zil, leicht und rhyth­misch, als ver­füg­te sie über wirk­li­che Ohren ihres hoch­be­tag­ten Freun­des, des­sen Kopf von wan­dern­den Wir­bel­kno­chen tief über die Tas­ta­tur gezwun­gen wird. Jede Bewe­gung, jeder Blick in den Raum, scheint aufs Äußers­te schmerz­haft zu sein. Für Sekun­den sind Augen eines jun­gen Men­schen zu sehen, selt­sam hel­le Augen. Eine ele­gant geklei­de­te Frau kniet vor dem Klapp­stuhl auf dem Boden. Sie betrach­tet den alten Mann von unten her, sie lacht, sie spricht. — stop

///

miniatur — world trade center

2

oli­mam­bo : 0.02 — Ein Frau­en­we­sen spät­abends in der Sub­way Linie 1 süd­wärts. Voll­stän­dig in Weiß geklei­det, blau geschmink­ter Mund, hoch­ge­wach­se­ne, schma­le Sta­tur, fal­ten­lo­se Stirn, die bis hin an die Decke des Zuges reicht. Leicht gebeugt ver­harrt sie von Taschen umge­ben neben einer Tür in der eisi­gen Luft, erns­tes Gesicht, ver­schenkt Zet­tel, auf wel­chen je nur ein Wort, das Wort LOVE, hand­schrift­lich ver­zeich­net ist. Ihre hei­se­re Stim­me, die Laut­spre­cher­an­sa­gen wie­der­holt. stop. Echo­es. stop. Ladies and Gen­tle­men! Plea­se stay clear of the clo­sing doors. This is a local A‑Train. — stop
ping

///

iris

ping

ping

tan­go : 0.05 — 1500 Mei­len Wol­ken­tüll über atlan­ti­schem Oze­an. Fünf wei­te­re Stun­den, bald hell­blau der Him­mel, das Was­ser, man könn­te die Welt dort oben auf den Kopf stel­len und wür­de es mit den Augen nicht bemer­ken. Höhe 11887 Meter. Wel­len, leich­tes­te Wel­len, — 55° Cel­si­us, Eis wis­pert in der Pau­ken­höh­le. Rep­ti­li­en von Dunst recken geschärf­te Rücken aus der Tie­fe. Dann wie­der sanf­te Gebil­de, Wol­ken­la­mel­len vom Meer an den Him­mel geat­met. Von dort aus fällt man zu Boden, öff­net Iris der Behör­de, fährt im luft­fe­dern­den Taxi­schiff über alte Brü­cke, Nacht, sand­mü­de Augen spa­zie­ren unter dem Regen­schirm. Der ers­te Blick ins irre Licht. — stop

ny62

///

feuerblume

2

marim­ba : 6.28 — Kurz nach Mit­ter­nacht. Hun­der­te gestran­de­ter Men­schen lie­gen, Flug­ha­fen­ter­mi­nal 2, auf Feld­bet­ten, schla­fen unter grau­en Decken, still, als sei­en sie ohne Träu­me, bewe­gungs­los, ver­puppt. Saß auf einer Bank in nächs­ter Nähe, war­te­te, notier­te: Die Augen der Papier­tier­chen befin­den sich im Zen­trum ihrer Kör­per­schei­be, eines erha­ben auf­wärts, das ande­re erha­ben abwärts gerich­tet. Licht und Schat­ten, Bewe­gung und Still­stand, so ist ihre Welt beschaf­fen. stop – Nie wer­den die­se Augen sehen, was ich in ver­gan­ge­nen Stun­den mit mensch­li­chen Augen auf dem Bild­schirm mei­nes Com­pu­ters beob­ach­te­te. Foto­gra­fien einer Feu­er­blu­me aus dem Eis, ihr tief­schwar­zer Atem, das Blut der Erde, ursprüng­lichs­te Kraft. — Bleibt noch, mit den Win­den zu sprechen.



ping

ping