nordpol : 22.05 — Lag nachmittags unter Sonne vor Ameisenstadt. Beobachtete, wie Bewohner, nein, Konstrukteure der knisternden Metropole, Käfer, Spinnen, Fliegen, Raupen, Rosenblätter, auch menschliche Papiere ins Wohngehäuse transportierten. Was, fragte ich mich, wird mit einer getöteten oder einer gelähmten Fliege, mit schlafenden Käfern und schlafenden Spinnen geschehen hinter der Fichtennadelhaut? Vielleicht einmal mit einer sehr kleinen Kamera eintauchen und schauen. Ich würde wohl auf eine Halle treffen, auf einen Ort der Zerlegung, des Tranchierens am laufenden Band. Hier also werden Prachtfliegen zerteilt und dort noch lebende Spinnen fein sortiert. In tiefer gelegenen Arsenalen dann die Kammer der Fluggeräte, die Kammer der Fliegen‑, der Libellenflügel, bitter duftende Luft, leichtes Flugglas bis unter die Decke geschichtet. In einer weiteren Höhlung sind je nach Länge und Stärke Spinnenbeine sortiert und aufeinandergelegt, Baumstämme, haarig, noch immer in zitternder Bewegung. Stunden werde ich in Magazinen schillernder Augen verweilen, ein begeisterter Zeuge in Fabriken gefangener Spinnen. Man hat ihnen die Beine abgenommen, aber sie leben und singen feinste Seide. Werden sie müde, werden sie an Soldaten verfüttert. — Kurz nach elf Uhr. Abend. Gerade eben hörte ich vom Tod des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. — stop
Aus der Wörtersammlung: fliegen
torero
marimba : 4.52 — Dichte Fliegenwolken in der Gewitterluft überm Palmengartensee. Man müsste als Vogel mit aufgerissenem Schnabel nur zwei oder dreimal knapp über das Wasser rasen, schon hätte man sich den Magen verdorben. In genau diesem Zusammenhang beobachtete ich vergangene Woche einen Falter, der sich über der Wasseroberfläche wie ein Torero verhielt. Rasante Flugmanöver lockten einen angreifenden Sperling immer wieder ins Leere. Mit Spannung auf den Absturz des Vogels ins Wasser gewartet. Aber dann führte ein minimaler Windstoß in der falschen Sekunde doch noch zum Ende des Falters, der ein verwegenes Tagpfauenauge gewesen war. — Es ist jetzt 4 Uhr und noch immer Nacht, weil es dunkel ist. Ich habe gerade eine Notiz seziert, die ich auf einem sehr alten Zettel wieder entdeckte. Ich kann mich an den Moment der Notiz nicht erinnern, aber die Schrift ist meine Handschrift. Sie ist zwanzig Jahre alt. Ein merkwürdiger Anblick, als würde ich die Gedanken eines Fremden betrachten, der mir doch vertraut ist. Der Fremde schrieb: Einmal für eine Stunde lang über einer großen Stadt unter einem Zeppelin auf der Stelle schweben, für diese eine Stunde nur, da die Gedanken der Menschen in der Stadt hörbar werden, die strengen, die leichten, die erinnerten, die rasenden Gedanken einer Stadt. — Ein Rauschen vielleicht. — stop
fliegende arme
delta : 0.05 — Wieder kurz nach Mitternacht. Immer schneller laufen die Tage. Gerade eben entdeckte ich auf Karteikarte 705 eine Notiz, die ich am 7. März 2006 in einem anatomischen Präpariersaal vermerkte. Sie geht so: Heute beginnt die Präparation der Gesichter. Wilhelm, 21, erzählt, er habe von hautlosen Armen geträumt, die an Propellerflügeln hinter ihm her durch den Saal schwebten. Meistens schlafe er aber gut. Wenn Wilhelm einmal nicht schlafen kann, liest John Steinbeck. Das beruhige. — stop
tonbandstimmen
echo : 5.15 — Vier Abendstunden mit Tonbandmaschine im Palmengarten gearbeitet. Folgte Stimmen junger Menschen, die von einer Zeit erzählen, die sie im anatomischen Präpariersaal verbrachten. Manchmal spule ich das Tonband zurück, notiere mit der Schreibmaschine Wort für Wort, um sie in einen größeren Textkörper zu transportieren. Da ist Mel, zum Beispiel, ihre hellsichtigen Gedanken zur Lunge. Als ich an den Tisch komme, um ihr meine Fragen zu überreichen, legt sie gerade Bronchien frei. Sie sagt, ich solle doch rasch fühlen, wie weich das Gewebe der Lunge sei und wie erstaunlich leicht. Während sie eine halbe Stunde zu mir spricht, verknüpft sie kunstvoll einen Handschuh mit einem weiteren Handschuh, ohne den Blick auch nur einmal von meinem Mikrofon zu heben. Etwas später wird sie sagen, dass ihr mein Mikrofon wie ein kleines fliegendes Ohr vorgekommen sei. – Libellen. — In der Dämmerung noch Unschärfen der Luft. — stop
libellen
sierra : 3.22 — Heut Nacht sitz ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle eben, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
nichts nicht verbergen
lima : 22.01 — Einen Gegenstand mit Gedanken durchdringen. Haltbar machen. Eine Geschichte, eine schwierige Geschichte, zur Erfahrung notieren. Nicht im Schreiben liegt die Schwierigkeit, sondern darin, so zu leben, daß das zu Schreibende ganz natürlich entsteht. Etwas heute beinahe Unmögliches; aber ich kann mir keinen anderen Weg vorstellen. Dichtung als Entfaltung, Blüte, oder nichts. Alle Kunst der Welt könnte dieses Nichts nicht verbergen. Philippe Jaccottet Fliegende Saat
panzerwesen
delta : 5.05 — Seltsame Panzerwesen, die heute Nacht über meinen Schreibtisch taumeln. Sind wie besoffen. Sind, während ich in Jürg Federspiels Typhoid Mary las, weiß Gott woher aufgetaucht, manche paarweise an ihren Hinterteilen verlötet. Schwarz sind sie, tintenschwarz, und riechen streng nach Muskat und diesen Dingen. In nächster Nähe, zur selben Zeit, zwei kleine Fliegen, eine gelb, die andere grau und schwarz. Entweder auch hier etwas Liebe oder aber die dunkle Fliege saugt der hellen Fliege das Leben aus dem Hals. — 4 Uhr 25. Dämmerung. Minutenweise verlängert sich die Nacht. — stop
edmond jabès
tango : 0.05 — Als würde Regen fallen, so mächtig die Küsse der Fliegen ins Wasser. Irr auch die Falter, die Weißen und die Roten und die Blauen. Und auch die Libellen am Himmel, alle irr von der Liebe. — Wenn der Stein durchsichtig wird oder – genauer – wenn die Durchsichtigkeit Stein wird, lassen sich alle Träume der Erde lesen. Edmond Jabès
flut
india : 2.11 — Hochwasser. Meine Wohnung ist mit dem Boot erreichbar. In den Kronen der Kastanien, gleich jenseits der Fenster, haben sich Körper toter Menschen verfangen. Gesichter, die ich kenne. Entstellt. Dunkle Haut. An den Zimmerwänden tausende Fliegen. Sobald ich mich bewege, ein Brausen der Luft. Schüsse. Zwei Kerzen noch im Schrank, drei Liter Wasser, fünf Pfund Makkaroni, eine Packung schwedisches Knäckebrot, Salz, Pfeffer, Thymian, Rosmarin, Muskatnuss. Das Wasser, warm und schwarz. Ein Kontrabass, dann ein Krokodil treiben vorüber. Die Luft, dumpf und scharf in derselben Sekunde. stop Keine Fotografie ist vorstellbar, die einen lebenden Menschen zeigt, in der nicht auch Bewegung enthalten wäre. Dagegen jene Aufnahmen von Menschen, die zur Kamerazeit bereits leblos waren. Ich begegnete einer dieser Fotografien ohne Bewegung vor wenigen Jahren im World Wide Web. Sie zeigt den Leichnam Marilyn Monroes wenige Stunden nachdem ihr Körper aufgefunden worden war. Ich habe mich an diese Aufnahme immer wieder erinnert, an das feuchte Haar der jungen toten Frau, an die Spuren der Nachzeit, die sich bereits in ihrem Gesicht abzeichneten, und auch daran, dass ich heftig erschrocken war, in die Küche stürmte und zwei Gläser Wasser trank. Als ich nun vor einiger Zeit den Namen Marilyn Monroes in die Bildsuchabteilung der Googlemaschine tippte, erschien genau dieses Bild an erster Stelle. — stop
zoulou
sierra : 2.05 — Eine angenehme Nacht mit Benny Goodman und seinem Orchester 1938 in der Carnegie Hall. | stop | I play lightly, softly singing. | stop | Regen. | stop | Nasse Fliegen, nasse Falter. | stop | Habe in meiner Küche vor dem Ofen Platz genommen und eine Ente und die Hitze betrachtet und über die Zeit nachgedacht, über die hohe Geschwindigkeit, in der ich arbeite. Eine neue Geschichte beginnen, eine sehr langsam erzählte Geschichte, jeden Tag ein Zeichen. Ich beginne mit dem Zeichen : z – zoulou