bamako : 10.22 UTC — Mutter sagte im November des Jahres 2016, nachdem Donald J. T. zum Präsident der Vereinigten Staaten gewählt worden war: Das ist doch verrückt! Ich hörte heut Nachmittag ihre Stimme. Meine Gedankenstimme antwortete: ja Mutter, vollkommen verrückt und gefährlich. Es ist seltsam, ich kann mich auch an die Stimme meines Vaters wieder erinnern. Er ist noch vor November 2016 gestorben. Vermutlich würde er präzise wiederholt haben, was Mutter sagte am Telefon an einem frühen Morgen. John Cage notierte in seinem wunderbaren Buch Silence: Gib einem Gedanken einen Stoß, er fällt leicht um. — stop
Aus der Wörtersammlung: gedanken
von gedanken
bamako : 3.08 UTC — Gestern Abend habe ich versucht, meine Gedanken zu beobachten. Eigentlich wollte ich eine Liste meiner abendlichen Gedanken verfertigen, Gedanken in der Straßenbahn, Gedanken vor einer Supermarktkasse wartend, Gedanken in der Beobachtung eines Fernsehbildschirmes. Ich war sehr müde gewesen, hatte lang gearbeitet, war, sagen wir, langsam mit dem Kopf, deshalb nicht ausreichend schnell, um sagen zu können, das war nun ein Gedanke, der soeben abgeschlossen wurde, nun beginnt gerade ein weiterer Gedanke, dieser Gedanke No 18 (Herzlich Willkommen!) beschäftigt sich mit der zentralen Frage, wovon Koboldmakis sich eigentlich ernähren? Ich habe bemerkt, dass es möglich zu sein scheint, einen Gedanken festzuhalten, um den Gedanken zu vergrößern, ihn also schwerer (Gravitation) zu machen, sagen wir, den Gedanken mit Zeiträumen rückwärts (erinnernd) oder vorwärts (spekulierend) zu versehen. Je länger ich an einem Gedankenknoten festhalte, desto schläfriger werde ich. Ein Gedanke kann sich in ein Bild verwandeln. Wenn ich in Gedanken die Augen eines Koboldmakis zur Aufführung bringe, schlafe ich ein. — stop
Sunda-Koboldmaki
betrachtet einen Inarivogel
im Gestaltmantel eines
Leopardkolibris.
Es ist früher
Morgen.
Fotografie: ស្វែងយល់
auf hoher see
delta : 15.33 UTC — Vater vor vielen Jahren, wie er sich über einen Tisch beugt, der leuchtet. Er trägt ein weißes Hemd und einen kamelfarbenen Pullover. Diesen erinnerten Pullover hatte ich heute Nachmittag auf einer Fotografie entdeckt, die meinen Vater zeigt auf einem Segelboot vor der kalifornischen Küste im Jahr 1965. Ich bin mir nun nicht sicher, welches der Objekte zunächst in meinem Kopf gegenwärtig war, die Erinnerung an die Farbe des Pullovers, den Vater trug, als er sich über einen Leuchttisch beugte. Oder war es die Begegnung mit der Fotografie des Seglers gewesen, die eine Erinnerung färbte oder überhaupt erst möglich machte? Vater betrachtete ein Dia, das vor ihm auf dem Tisch lag. Zwischen seinem Auge und der Fotografie klemmte eine SILVESTRI — Lupe; es war deshalb, weil Vater, mich mir vorstellte, so tief oder so weit wie möglich in die Fotografie hineinsehen wollte. Ich erinnere mich, dass ich selbst immer wieder Fotografien in dieser Weise betrachtete. Ich entdeckte, dass es möglich war, rein erfundene Gegenstände oder Gesichter oder Tiere in den Tiefen der besichtigten Fotografie wahrzunehmen, demzufolge zu halluzinieren und für eine kurz darauffolgende Erzählungen der Lichtaufnahme in Gedanken festzuhalten. — stop
von farben
marimba : 23.18 UTC — S. ist schwarz und ich bin weiß. Seltsame Formulierung. Stempelsatz, dem zahlreiche weitere seltsame Stempelgedanken folgen, Gedanken, die eben nicht hörbar, aber sehr wirkungsvoll sind. Ich stellte ihr vorsichtig eine Frage, die sie mir selbst vermutlich nie stellen würde. Ich frage, wie sie Rassismus in ihrem Alltag erlebe. Sie könne hunderte Geschichten erzählen, vom Übersehen werden, von Menschen, die ihr in seltsamer Sprache antworten würden, als sei sie ein Baby, vom offenen Staunen, dass sie einen deutschen Pass besitzen würde, der Pass wird mehrfach kontrolliert, einmal flog sie wieder zurück über den Atlantischen Ozean, weil man ihr die Einreise grundlos verweigerte. Ein junger Mann bemerkte im Zug, dass sie Truman Capote lese. Sie sei intelligent, setzte er hinzu. Im Blick mancher Menschen, wenn sie sie betrachteten, würde etwas flackern, sehr seltsam, sagte sie, spooky. — stop
sekundenzeit
sierra : 22.01 UTC — Überfallartige Wesen. Twitterwelttexte. Derart kurz, dass sie unverzüglich vom lesenden Gedanken erfasst sind. Wie viel Zeit, wie viel Energie ist kurz drauf notwendig, das Resultat eines Überfalls abzuschütteln, demzufolge zu vergessen, was nicht gewusst werden will. — Das Radio berichtet von Schweinefarmen, die in China existieren sollen, vollautomatisch, 20 Stockwerke hoch, 1,2 Millionen Stücktiere Jahr ein Jahr aus. — stop
chatGPT
india : 20.33 UTC — Ich stelle ChatGPT folgende Frage: Was würden Sie mir bitte über folgenden Text (Im Quarantänegarten 2. November 2023) erzählen, einen Text, den ich selbst geschrieben habe. ChatGPT antwortete: »Ihr Text beschreibt eindringlich eine Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart, mit starken emotionalen Nuancen. Hier sind einige Aspekte, die mir auffallen: Atmosphäre und Stimmung: Der Text erzeugt eine nachdenkliche und melancholische Atmosphäre, insbesondere durch die Erwähnung des Windes, des Februars und des verlassenen Hauses im Süden. Die Worte vermitteln eine emotionale Verbindung zu vergangenen Zeiten und Orten. Verlust und Erinnerung: Die Betrachtung der Kleider und persönlichen Gegenstände verschwundener Menschen bringt den Schmerz des Verlusts hervor. Die Details wie Schuhe, Halstücher und der verwilderte Garten verstärken das Gefühl von Abwesenheit und Vergänglichkeit. Beobachtungen und Fotografie: Die Erwähnung des Fotografierens von Schuhen und der Entdeckung von persönlichen Gegenständen in einer Handtasche vermittelt den Eindruck, dass der Protagonist versucht, Erinnerungen festzuhalten oder die Vergangenheit zu verstehen. Fotografie kann oft als Mittel dienen, um Momente einzufrieren und Erinnerungen zu bewahren. Der Schmerz des Abschieds: Der Text endet mit einer starken Aussage über den Schmerz, der mit dem Gedanken verbunden ist, die alte Dame nie wieder besuchen zu können. Dies verstärkt das Gefühl von Verlust und Abschied. — Insgesamt ist Ihr Text sehr bildhaft und einfühlsam. Er vermittelt eine persönliche Erfahrung von Verlust, Erinnerung und dem Versuch, die Vergangenheit zu bewahren.“ ::: Erste seltsame, unheimliche Begegnung mit einer Maschine in eigenen Räumen. Zeit für Antwort: 3 Sekunden. — stop
von den vasentieren
india : 3.15 UTC — Tagelang hatte ich überlegt, ob es sinnvoll wäre, über die Existenz der Vasentiere weiter nachzudenken. In diesem Diskurs mit mir selbst, hatten meine Vorstellungen über das Wesen und die Gestalt der Vasentiere, indessen weiter an Präzision zugenommen, ohne dass ich das zunächst bemerkte. Einmal wartete ich an einer Ampel unter einer Kastanie. Es war früher Abend gewesen und ich nutzte diese Situation des Innehaltens, um mir vorzustellen, wie es sein könnte, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigentlich nicht notwendig gewesen war, Vasentiere dürfen atmen, Vasentiere müssen atmen, und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, eine innere feste Struktur auszubilden, sagen wir, eben eine Art Behälter zu sein. Das ist gut gelungen, auch nachdem ich von einer Kastanie auf den Kopf getroffen worden war, bewegte ich mich nicht. In diesem Moment wurde stattdessen deutlich, dass Vasentiere niemals flüchten, weil sie nicht flüchten wollen und weil sie nicht flüchten können, ihnen fehlen Füße und Beine. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer organischen Konstruktion her begabt, Formen nachzuahmen, die geeignet sind, tiefere Gewässer in sich auszubilden, das ist nicht verhandelbar. Auch nicht, dass sie das Wasser zur Versorgung der Pflanzen, welchen sie Herberge bieten, aus der Luft entnehmen, sei sie noch so trocken. Möglich ist, dass Vasentiere, die in der Lage sind, mittels ihrer Gedanken Bewegung zu formulieren, eher unglückliche Wesen sein werden, daran sollte man unbedingt denken, ehe man sich an die Verwirklichung der Vasentiere machen wird. — Das Radio erzählt, hungrige Menschen hätten im März wilden Tauben nachgestellt, auch im April sei man unter Lebensgefahr auf Taubenjagd gegangen. — stop
eine meise blau
sierra : 02.15 UTC — Ein Kind war ich im Garten. Ich saß im Gras im Sommer. Eine Meise flog herum. Ich erinnere mich, dass ich ihr mit den Augen folgte. Ich dachte, ich lasse sie nicht aus dem Blick. Kaum habe ich deshalb die Augen geschlossen. Kaum den Gedanken gefasst, sie könnte einfach so auf und davon in einer Baumkrone verschwinden. Deshalb saß ich lange Zeit ganz still, weil die Meise verschwunden war, weil ich sie nicht zu fangen vermochte. Ich wartete. Ich warte so lange, bis ich ins Haus getragen wurde, wo ich sofort ein Fenster suchte. Das war damals ein heißer Sommer gewesen. Mohnblumen ließen ihre Köpfe hängen. - Das Radio erzählt, dass man sich nicht denken könne, wie viele Menschen in Mariupol ihr Leben verloren haben. — stop
schlafen in turku
delta : 12.03 — Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Donnern der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. – Guten Morgen! Heute ist Dienstag oder Mittwoch oder Samstag. Das Radio erzählt von Fallschirmen, die in der Stadt Mariupol von zersplitterten Bäumen hängen. — stop
gedankengang
ulysses : 6.52 UTC — Ich gehe, wie so oft, ein paar Schritte nach links, dann gehe ich, wie so oft, ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht, während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen, während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — Das Kurzfilmkino erzählt von einem russischen Soldaten, der nach dem Verlust seines linken Beines auf dem Boden liegt. Ein weiterer, ein riesiger Mann, kniet neben ihm. Er bietet dem verletzten Mann seine Hilfe an. Wir Ukrainer sind nicht so, wie Du fürchtest, sagt er, Hilfe kommt sofort. Der Mann erhebt sich und sucht nach dem Bein des Verletzten, er findet das Bein und einen Schuh. — stop