Aus der Wörtersammlung: gerät

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gewebe

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lima : 2.26 — Gedan­ken, Atem, Minu­ten, Gefüh­le, Tex­tu­ren, Bewe­gun­gen, Träu­me, Geräu­sche, Gesprä­che, Tele­fon­hö­rer, Matt­schei­ben, Radio­wellen, auch Eich­hörn­chen­felle, Bli­cke, Licht und Dun­kel­heit, die Stäu­be der Bäu­me, Park­bank­fle­chten­wäl­der, Schuh­werk und Hand­läu­fe, alles vom Virus­text­schat­ten durch­wirkt. — stop

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ein heller windiger märztag

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oli­mam­bo : 15.55 UTC — Fan­gen wir noch ein­mal von vor­ne an: Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Büchern geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — Heu­te nun, es ist Mitt­woch am Nach­mit­tag, habe ich selbst in einer digi­ta­len Pro­be fol­gen­de Text­pas­sa­ge gele­sen, die mich berühr­te. Chris­toph Rans­mayr hat sie notiert: “Mir war die Tat­sa­che oft unheim­lich, daß sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschich­te, die man nur lan­ge genug ver­folgt, irgend­wann in der Weit­läu­fig­keit der Zeit ver­liert – aber weil nie alles gesagt wer­den kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahr­hun­dert genü­gen muß, um ein Schick­sal zu erklä­ren, begin­ne ich am Meer und sage: Es war ein hel­ler, win­di­ger März­tag des Jah­res 1872 an der adria­ti­schen Küs­te. Viel­leicht stan­den auch damals die Möwen wie fili­gra­ne Papier­dra­chen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Him­mels glit­ten die wei­ßen Fet­zen einer in den Tur­bu­len­zen der Jah­res­zeit zer­ris­se­nen Wol­ken­front – ich weiß es nicht.” aus : Die Schre­cken des Eises und der Fins­ter­nis: Roman von Chris­toph Rans­mayr  — stop
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zuggeschichte

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nord­pol : 15.55 UTC — Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Bücher geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — stop
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reisende pinguine

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nord­pol : 20.01 UTC — Lese in Lou­is Kekkola’s Eis­buch Jennifer.Five. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends, Vögel pfei­fen. In die­sem Moment tra­ge ich Hand­schu­he. Ich habe mein Ton­band­ge­rät ange­schal­tet und spre­che lei­se, indem ich das zer­brech­li­che Buch­we­sen in Hän­den hal­te. Kaum habe ich eine Sei­te abge­tas­tet, schlie­ße ich den Kühl­schrank, gehe in der Woh­nung spa­zie­ren und las­se mir alles durch den Kopf gehen. Dann keh­re ich zurück und lese mit damp­fen­dem Atem wei­ter. Höre in die­sen Minu­ten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekun­den Zeit erteilt, um das Buch unge­stüm war­mer Heiz­luft aus­zu­set­zen. Auf Sei­te 52 ent­de­cke ich Lou­is Kekkola’s Notiz über 22 Pin­gui­ne, die nord­wärts reis­ten in Flug­zeu­gen in höl­zer­nen Behäl­tern, um auf Grön­land wei­ter­zu­le­ben. Sie sol­len dort das Nord­licht ( Auro­ra borea­lis ) stu­díe­ren. — stop

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nuris drache

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echo : 18.02 UTC — Nuri erzählt, er habe unlängst einen Dra­chen gebaut so wie ihn bereits sein Vater bau­te, Kno­chen­stre­ben vom Holz der Blau­glo­cken­bäu­me, Flug­häu­te aus Trans­pa­rent­pa­pie­ren in dun­kel­blau­er und dun­kel­ro­ter Far­be. Ein sehr lan­ger Schweif war da aus­ser­dem noch, an des­sen Ende wie­der­um eine Box befes­tigt wor­den war, leicht, ein Tonab­spiel­ge­rät von der Grö­ße einer Wal­nuss. Dort drin spielt eine Com­pu­ter­ma­schi­ne Ben­ny Good­man nicht sehr laut, aber doch weit­hin hör­bar. So geht man dann in den Park, wenn man einen Dra­chen bau­te wie Nuri ihn erzähl­te. Und wie der Dra­che sin­gend an Höhe gewinnt, nun, die Vögel. — stop

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ki

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romeo : 15.05 UTC — Vor eini­gen Wochen hab ich ein Buch, sagen wir genau­er, ich habe einen Text mit dem Titel CIMBEL 8 auf mei­nem Paper­white-Leser­ge­rät ent­deckt. Es ist merk­wür­dig, ich kann mich zu die­sem Zeit­punkt nicht erin­nern, wie und wann und woher die­ser Text auf mein Lese­ge­rät gereist sein könn­te. Er scheint vom Ver­ges­sen und von Wör­tern zu erzäh­len, von Ent­de­ckun­gen und auch vom Erin­nern. Der Text wur­de von Helen KI. Lie­ber­mann notiert, die mir völ­lig unbe­kannt. Auch will der Text nicht enden, er setzt sich immer wei­ter fort, obgleich mir die Fort­schritts­an­zei­ge den Ein­druck ver­mit­telt, ich wür­de bereits 98 Pro­zent des Tex­tes stu­diert haben. Ich lese nun bereits seit zwei Wochen täg­lich meh­re­re Stun­den. Manch­mal habe ich den Ein­druck, mich in einem mir bekann­ten Gar­ten von Wör­tern auf­zu­hal­ten. Heut las ich Fol­gen­des: Über­leg­te, was wäre, wenn ich ein­mal mei­ne Spra­che ver­lo­ren haben wür­de, wenn eine Amei­se vor einer nun­mehr sprach­lo­sen Per­son über einen Tisch spa­zier­te? Was wür­de ich noch den­ken, wenn ich die­ses Tier sehen, aber kein Wort für sei­ne Erschei­nung in mei­nem Kopf ent­de­cken könn­te? Ich müss­te viel­leicht ein Wort erfin­den in die­sem Moment, um das Amei­sen­tier wahr­neh­men, das heißt, über das Tier nach­den­ken zu kön­nen. Viel­leicht wür­de ich mich an das Wort Eisen­bahn erin­nern. Viel­leicht wür­de ich sagen, das ist eine sehr klei­ne Eisen­bahn, die über den Him­mel lau­fen kann. — stop

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lebenszeichen

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india : 11.28 UTC — Da sind Ther­mo­me­ter­werk­zeu­ge, 5 + 1, zur Mes­sung der Tem­pe­ra­tu­ren eines Zim­mers. Und fla­ckern­des Regen­licht, das von den Fens­tern her kommt. Ein Com­pu­ter­bild­schirm, in dem sich der Com­pu­ter selbst befin­det, zuletzt vor fünf Jah­ren ange­schal­tet. Auf dem Schreib­tisch ruhen ana­to­mi­sche Bücher, gedruckt in den 20er Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, bit­te­rer Duft steigt auf, sobald sie geöff­net sind. Das Hand­buch eines Opel-Rekord und eine Blech­do­se, drin sind Lie­bes­brie­fe: Mei­ne Liebs­te, wie ich mich nach Dir seh­ne! Eine Zigar­ren­schach­tel wei­ter­hin vol­ler Brief­mar­ken des deut­schen Rei­ches, die der Jun­ge noch sam­mel­te. Ein Kin­der­buch: Zwei Pin­gui­ne win­ken. Ein Gerät, das den Strom zu ver­mes­sen ver­mag, haar­dün­ner Zei­ger. Eine Kar­te der Stadt Lis­sa­bon und Fahr­kar­ten einer Stra­ßen­bahn, die in Lis­sa­bon noch immer anzu­tref­fen ist. Zwei Men­schen waren dort, die Lis­sa­bon lieb­ten. Dem Jun­gen, der Lis­sa­bon spä­ter ein­mal lie­ben soll­te, gehör­ten zwei Schul­bü­cher, er wird spä­ter ein Dok­tor der Phy­sik und ein Ver­eh­rer And­rei Sacha­rows. Sein Vater war Arzt gewe­sen, des­halb auch Skal­pel­le auf rotem Samt und eine Schach­tel, in wel­cher sich Objekt­trä­ger befin­den. Dort Spu­ren, die gelb­lich schim­mern. Und Dioden und Wider­stän­de und Rechen­ker­ne auf Pla­ti­nen geschraubt. Auch Luft­post­brie­fe, die ein jun­ger Stu­dent an sich selbst oder sei­ne Gelieb­te notier­te, da waren sie noch nicht nach Lis­sa­bon gereist, präch­ti­ge Mar­ken und Stem­pel und Son­der­wert­zei­chen der Bal­lon­post zu einer Zeit, als Express­brie­fe noch durch Eil­bo­ten zuge­stellt wor­den waren. Eine Film­do­se und noch eine Film­do­se, die man nicht wagt im Regen­licht zu öff­nen. Auf einem Dia ist sehr klein eine jun­ge Frau zu erken­nen, die vor dem World Trade Cen­ter in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Soh­nes sofort bekannt. In einer Klad­de ver­schnürt, Blät­ter eines Her­ba­ri­ums: Schlüs­sel­blu­me von Blei­stift­be­schrif­tung umge­ben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funk­an­ten­nen wie Füh­ler eines Insek­tes ohne Strom. Eine Post­kar­te ist da noch und immer noch Regen drau­ßen vor den Fens­tern. Auf der Post­kar­te steht in gro­ßen Buch­sta­ben rot umran­det ver­merkt: Lebens­zei­chen von L.K. aus der Brau­bach­stra­ße / 8. II. 44: Mei­ne Lie­ben! Wir sind gesund und unbe­schä­digt. Marie & Fami­lie. — stop

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paperwhite

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echo : 15.12 UTC — Esme­ral­da erzähl­te im Zug zur Arbeit, sie lese schon seit drei Jah­ren an einem Buch in ihrem Kind­le “Paper­white” Lese­ge­rät, das von Rei­sen durch die Stadt New York erzäh­le. Du liest lang­sam, fra­ge ich. Nein, ant­wor­te­te Esme­ral­da, ich bin eine geüb­te Lese­rin, ich glau­be, ich wer­de immer schnel­ler. Das Buch ist wohl sehr umfang­reich, fuhr ich fort, wer hat es denn geschrie­ben, woll­te ich wis­sen. Ein Spa­zier­gän­ger namens L., sag­te sie, es heißt, das Buch sei noch gar nicht fer­tig, son­dern wür­de immer wei­ter fort geschrie­ben, wäh­rend ande­re es bereits lesen. Das ist eine gute Erklä­rung, ant­wor­te­te ich, kann ich ein­mal sehen? Esme­ral­da reich­te mir das Lese­ge­rät, das leicht war wie eine Tafel Pop­corn­scho­ko­la­de, dort tat­säch­lich schö­nes Papier­licht wie geschäl­ter Reis. Ich las: Frei­tag. Es ist Frei­tag gewor­den. Fah­re im Zug der Sta­ten Island Rail­way ans Ende der Welt durch bors­ti­ge Land­schaft. Ort­schaf­ten, die sich ähn­lich sind, Häu­ser von Holz, ein oder zwei Stock­wer­ke hoch, hel­le Far­ben, Gär­ten, klein und von Holz­wän­den umzäunt, als woll­ten die Bewoh­ner die­ser selt­sa­men Gegend ein­an­der nicht sehen, nicht hören. Kirch­turm­spit­zen, Tank­stel­len, Fabri­ken, Stra­ßen ohne Ende, eine eiser­ne Wild­nis, in wel­cher Öltanks und Schrott­ber­ge wie Pil­ze aus kar­gen Wäl­dern wach­sen. Durch die­se Men­schen­land­schaft schau­kelt der Zug, dass man sich fest­hal­ten muss. Auf einem Schiffs­dock liegt ein Schau­fel­rad­damp­fer, den ich sofort mit mir neh­men wür­de, wenn ich ihn in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cken könn­te. Frie­ren­de Men­schen stei­gen ein und frie­ren wei­ter. Aus einer Tasche ragt die damp­fen­de Schwanz­flos­se eines gekoch­ten Fisches. Kon­duk­teu­re wan­dern von Abteil zu Abteil, schla­gen Eis von den Türen. Und da ist die­ser wil­de Kerl, läuft rufend und sin­gend im Wagon auf und ab. Gefro­re­ne Möwen fal­len vom Him­mel. Tomp­kins­vil­le. Gre­at Kills. Atlan­tic. - stop
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abend mit fliege no 1

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alpha : 22.45 UTC — Selt­sam ist das mit den Flie­gen gewor­den, den Fal­tern, den Käfern. Frü­her noch an war­men Som­mer­aben­den, sobald ich mei­ne Fens­ter öff­ne­te, waren unver­züg­lich, als hät­ten sie gewar­tet, dut­zen­de Tie­re in mei­ne Woh­nung geflo­gen, saßen auf und in Lam­pen­schir­men, spa­zier­ten über Bild­schir­me der Schreib­ma­schi­nen und des Fern­seh­ge­rä­tes, hock­ten an den Wän­den, besuch­ten mei­ne unbe­klei­de­ten Bei­ne und Arme, Stirn auch und mei­ne Hän­de, wäh­rend sie mit den Tas­ten arbei­te­ten. Auch an die­sem Abend könn­ten sie mich besu­chen, es scheint jedoch, als wäre nie­mand da drau­ßen oder nur sehr weni­ge Käfer, die Mari­en­kä­fer sind. Wenn ich an die­sem Abend von einem Zim­mer ins ande­re gehen wür­de, indes­sen eine Flie­ge mich in Kopf­hö­he beglei­te­te, wäre sie in genau dem Augen­blick, da ich ihre Exis­tenz mit mei­nen Wör­tern ver­zeich­ne, eine erfun­de­ne Flie­ge. — stop

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ahorn no 2

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echo : 22.18 UTC — Im geöff­ne­ten Fens­ter, das ich für eine Stun­de lesend außer Acht gelas­sen hat­te, beweg­te sich vor Tagen ein Spinn­fa­den in einem Wind, der nicht spür­bar gewe­sen, aber in der Bewe­gung des Fadens sicht­bar gewor­den war. Irgend­je­mand, dach­te ich, wird ver­mut­lich ange­kom­men sein wäh­rend ich las, ist ent­we­der schon auf dem Weg abwärts wie­der zur Stra­ße zu den Bäu­men hin oder aber sitzt im Kak­teen­wald auf dem Fens­ter­brett und war­tet, dass es dun­kel wer­den wird. Und ich dach­te, solan­ge ich mein Fern­seh­ge­rät nicht anschal­ten wür­de, sei hier oben in den Räu­men unter dem Dach alles sehr fried­lich an jenem Abend. Tat­säch­lich hat­te ich ver­ges­sen, was das Radio vor zwei Stun­den noch erzähl­te. Ich muss­te mich mühen, um an das Gehör­te zu kom­men. Ich notier­te einen Text. Und ich dach­te sehr lan­ge Zeit nach, indes­sen die Besu­che­rin, die zunächst ver­schwun­den gewe­sen war, zur Nacht­stun­de ein Netz über Sta­chel­horn­wäl­der einer Mam­mil­la­ria frai­le­a­na zu weben begann. Gegen Mit­ter­nacht erin­ner­te ich mich, was oder wovon das Radio erzähl­te. — stop

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