india : 0.05 — Während Zugfahrt nach einer Textstelle in Pete L. Munkis Roman Nautilus gesucht, die ich vor einigen Tagen markiert hatte, um sie bei Gelegenheit noch einmal lesen zu können. Der Erzähler der Geschichte, ein junger Mann namens Zezito Lopes, ruhte im 10. Stock eines Hauses in der Lexington Avenue auf einer Treppenstufe. Früher Nachmittag. Ein schwerer Behälter von gepanzertem Glas, in dem sich zwei Molluskenfische der Gattung Nautilus befanden, stand neben dem wartenden Mann auf dem Boden. Ich erinnere mich, dass der junge Mann, er war ein gut trainierter Träger, sich kurz darauf erhob, um an einer der Wohnungstüren, die auf den Flur führten, zu klingeln und nach einem Glas Wasser zu fragen. Unverzüglich wurde geöffnet, ein Gespräch entwickelte sich, in dessen Folge Zezito Lopes sich bückte, seinen gepanzerten Behälter in die Hände nahm und mit ihm in der Wohnung verschwand. So weit, so gut. Als ich nun aber das Buch im Zug öffnete, konnte ich die markierte Textstelle nicht finden. Sofort der Gedanke, ich hätte möglicherweise fantasiert, eine beunruhigende Vorstellung. Nicht minder beunruhigend scheint mir in diesem Moment der Gedanke zu sein, das Buch selbst könnte sich verändert haben, weiter- oder umgeschrieben worden sein, obwohl sich das Buch, auch nachts, immer in meiner Nähe aufgehalten hatte. Eine Nacht leichter Verwirrung. Das Beste ist, einfach weiterzumachen. — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
sleep
olimambo : 0.02 — Nehmen wir einmal an, es existierten Assistenten für müde, für erschöpfte Menschen, Müdigkeitsassistenten, die man zu Hilfe holen könnte, wenn man so müde geworden ist, dass man nicht einmal mehr eine Tasse Kaffee vom Tisch heben könnte, obwohl noch sehr viel zu tun ist, zum Beispiel, einen Aufsatz zu Ende zu schreiben, eine Rede zu halten, eine Operation in einem Brustkorb durchzuführen oder mit dem Auto durch eine Stadt zu fahren. Wie viel müsste ich pro Stunde bezahlen für einen Assistenten, der mich dem Schlaf fernhalten würde, warnen bei Gefahr, der mir die Funktionsweise einer Kaffeemaschine erklären könnte, wenn ich zu müde sein sollte, mich an das Leben meiner Kaffeemaschine noch zu erinnern. Es ist denkbar, dass Telefone bereits existieren, die ich anrufen könnte, einen Müdigkeitsassistenten oder eine Müdigkeitsassistentin herbeizuholen. Würden sie rechtzeitig bei mir eintreffen? Wie lange könnten sie bleiben? Was essen, was trinken sie bevorzugt? – Kurz nach Mitternacht. — stop
apnoe
tango : 0.01 — Auf einem Passagierlinienschiff gestern Nachmittag, während einer Überquerung des Starnberger Sees, im Selbstversuch zunächst 1 Minute und 28 Sekunden, kurz darauf 1 Minute und 52 Sekunden die Luft angehalten. Tatsächlich wieder der Eindruck, dass meine Augen in dieser Übung des Nichtatmens größer werden. — stop
nachtstimmen : julija tymoschenko chen guangcheng
tango : 3.08 — Gegen 2 Uhr in der Nacht werde ich wach. Regen, schwer, schlägt gegen das Fenster im Dach. Ein Sturm, unmöglich, der nicht angekündigt war in den Nachrichtenlinien, die ich verfolge. Stimmen kommen aus der Fernsehmaschine, berichten von der umstrittenen Politikerin Julija Tymoschenko, von der Willkür, die in nächster Nähe in einem europäischen Land herrscht. Und da ist dieser mutige Mann zu Peking, er trägt den Namen Chen Guangcheng. Wie lange Zeit werden wir noch von ihm und seiner Familie hören? stop. Die Namenlosen? stop. Dieser Sturm heute Nacht, unmöglich, ein Gewitter, kühle Luft, sie scheint im Kreis zu fahren. Wie ich am Fenster stehe und schaue, plötzlich das Bedürfnis, zum Friedhof zu laufen und einen Regenschirm über das Grab meines Vaters zu halten. – stop
koffer unsichtbar
echo : 0.03 — Mein Vater war ein Liebhaber technischer Messgeräte. Er notierte mit ihrer Hilfe Dauer und Kraft des Sonnenlichts beispielsweise, das auf den Balkon über seinem Garten strahlte. Die Temperaturen der Luft wurden ebenso registriert, wie die Menge des Regens, der in den warmen Monaten des Jahres vom Himmel fiel. Selbst die Bewegungen der Goldfische im nahen Teich wurden verzeichnet, Erschütterungen des Erdbodens, Temperaturen der Prozessoren seiner Computermaschine. Es ist merkwürdig, beinahe täglich gehe ich zurzeit auf die Suche, weil wieder irgendeine dieser Messapparaturen einen piepsenden Ton von sich gibt, als ob mein Vater mittels seiner Maschinen noch zu mir sprechen würde. Indessen habe ich seit zwei Tagen Kenntnis von einer Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Jetzt ist mir warm, wenn ich das Bild betrachte. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit gefürchtet habe. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrt zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. — stop
am telefon
romeo : 0.03 — Ich hatte vorgestern mit einem Amt telefoniert. Ich saß auf einem Stuhl und verzeichnete in einem Notizblock, welche Papiere das Amt benötigt, um entscheiden zu können, was nun von amtlicher Seite her zu tun ist, nachdem mein Vater nicht mehr lebt. Ich hörte die Stimme einer jungen Frau, sie sagte: Haben sie schon eine Sterbeurkunde erhalten? Wenn sie eine Sterbeurkunde erhalten haben, senden Sie uns das Dokument bitte zu, damit wir nachvollziehen können, dass ihr Vater gestorben ist. Solange wir ihre Urkunde nicht erhalten haben, verstehen sie, ist ihr Vater den Fakten nach noch am Leben. Ich schickte ein leises Lachen durchs Telefon, ein leises Lachen kehrte von der anderen Seite her zurück. Gestern telefonierte ich wiederum mit der jungen Frau vom Amt. Ich teilte ihr mit, dass ich das Dokument zu ihr hin abgeschickt haben würde. Ein sehr seltsamer Moment. Ich war, während ich telefonierte, wieder einmal in der Lage gewesen, meinen Vater zu sehen, wie er vorsichtig, Schritt um Schritt, die Treppe herunterkommt. Ich presste den Telefonapparat an mein rechtes Ohr, mit dem linken Ohr erwartete ich, dass die Stimme meines Vaters in der nächsten Sekunde hörbar werden würde. — stop
nachtbienen
himalaya : 0.01 — Morgens höre ich wie das Radio angeschaltet wird unten im Wohnzimmer, unten in der Küche. Eine Stimme erzählt von Pablo Neruda. Die Stimme wird immer wieder von Musik unterbrochen, von feiner indianischer Musik. Das sind Geräusche wie früher, Geräusche in der Stille der vergangenen Tage, wohltuend, eine Verbindung zur Welt, die sich fortsetzt, unwirklich noch. Im Garten blühen Tulpen, rot, gelb, blau, orange. Man müsste einmal Blumen erfinden, die nachts ihre Blüten öffnen und leuchten, Nachtbienen, Nachtlibellen, Nachtwespen, Nachthummeln. — stop
perlboote
india : 0.02 — Auf der Suche nach Behälterkonstruktionen, in welchen Perlboote der Gattung Nautilus durch eine große Stadt transportiert werden könnten, ohne dass die Meerestiere Schaden nehmen würden, auf eine Website gestoßen, die unter dem Namen Louis Benett folgende Zeichenfolge vermerkt: member since monday, 30 january 2012 20.00 / last online > never logged in / profile views : 158 – stop. Seltsame Geschichte. Die Spur eines überaus vorsichtigen Verhaltens vielleicht, ein Zögern. – Mitternacht. stop. — Benny Goodman. — stop
uhrwesen
foxtrott : 0.05 — In der linken Hand halte ich Ilja Trojanow’s Roman Eistau fest, an der rechten Hand sitzt die Kühle der Uhr meines Vaters. Ich habe sie zur Probe angelegt. Vor zwei Wochen war sie noch an seiner Hand gewesen. Es ist erstaunlich, die Uhr geht noch immer auf die Sekunde genau, wie seit vielen Jahren schon. Immer dann, wenn ich sie betrachte, meine ich, die Zeit als ein eigensinniges Wesen zu sehen, die Zeit meines Vaters, die sich ohne ihn fortsetzt. Ich gehe mit den Augen durch das Zimmer spazieren. An den Wänden Bilder, die Lebende und Tote zeigen. Und dieser Regen. Sandwarm und müde. — stop
das licht eines nahenden todes
charlie : 15.14 — Wie ein nahender Tod in den Bewegungen der Menschen auf Hospitalfluren, in Gesprächen, Nachrichten, Telefonaten, auch in den Blicken pflegender Schwestern und behandelnder Ärztinnen nach und nach erscheint. Das Licht des kommenden Endes wird sichtbar im Leiserwerden der Stimme des Sterbenden, ein Mund, der sich öffnet wie der Mund eines jungen Vogels, nach Luft suchend, nach etwas Wasser, Tee, Aprikose. Letzte zärtliche Berührungen, die Kühle der Glieder, wandernde Farben der Haut, liebevolle Sätze von Dank, Klagen, Weinen, Gebete. Ja, das Licht eines nahenden Todes erscheint nach und nach unaufhaltsam wie das Licht der Farben auf einer Polaroidfotografie erscheint. — stop