15.35 – Körperzeit kennt nur eine Richtung. Die elektrische Wahrnehmung der Wirklichkeit, der gegenwärtigen wie der vergangenen Wirklichkeit, scheint dagegen niemals linear zu sein. Vielleicht deshalb, weil sich die Substanzen der Erinnerung wie Flüssigkeiten verhalten. Eine Ordnung hineinzudenken fordert Arbeit, ein Vorher und Nachher zu identifizieren, Konsequenz. Nie kann ich sicher sein, ob ich meine vergangene Zeit gerade wiederfinde oder ob ich eine ganz andere, nie dagewesene Zeit erfinde. — Habe einen Katalog jener Erscheinungen erstellt, die ich in der Google Earth Pixelwelt aufsuchen werde, beispielsweise Kamelkolonnen auf einer Wüstenoberfläche oder die Spuren des Krieges in der Stadt Grosny, Ground Zero, Goldgräbersiedlungen am Amazonas, meine alten Spazierwege in Paris, Eisverkäufer im Central Park, die kleine Stadt Petuschki und ihre Eisenbahn, Elephantisland, Menschenkarawanen auf dem Chomolungma, Soveto, Lampedusa, Alcatraz. — Null Uhr siebzehn in Lhasa, Tibet. — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
particlesmaschine
5.48 — Die Beobachtung, dass ich in der Particlesmaschine vergeblich mit der Mouse einzufangen versuchte, was ich kurz zuvor noch durch einen Code in Bewegung gesetzt hatte. Sofort ein Gefühl von Heiterkeit. Ich könnte vielleicht sagen, dass diese Beobachtung des Scheiterns an Objekten, die ich selbst geschaffen habe, grundsätzlich zu tun haben könnte mit der suchenden Bewegung schreibender Menschen. Da schwebt zum Beispiel Kentaur Billy vor Neufundland 70 Meter tief unter dem Meeresspiegel. Eine Erfindung. Eine Erfindung, die zunächst eine Entdeckung gewesen ist, die Wahrnehmung einer uralten, einer neurologisch fest geschalteten Form, die unverzüglich, blitzartig, weiter gefaltet wurde, ein Modell wenig später mit Robbenfell an der ein oder anderen Körperstelle, einem schönen Menschenkopf, der Heckflosse eines Wales und anatomisch klandestinen Verdauungsorganen eines Pferdes. Sobald dieses Wesen vor mir schwebte und sprach, war es nie wieder einzuholen, weil es in der Sekunde seiner Entdeckung, in jener ersten Sekunde seiner Existenz, sich sofort in eine jener Substanzen verwandelte, die nur unvollkommen in einen erzählenden Text zu transportieren sind, weil dieser tauchende Kentaur wie alle anderen Wesen höchst feinen Gesang aus 1 Trilliarde Ziffern erwartet. — 12.58 in Tibet. Lhasa. — stop
blaue schuhe
0.56 — Ich hatte mir vorgenommen, eine kleine Notiz über eine Ameise zu schreiben, die ich gestern Nachmittag in einem U‑Bahn-Waggon angetroffen hatte. Aber dann habe ich meine Hände gesehen, wie sie dicht über der Tastatur der Schreibmaschine auf Anweisung warteten. Ich dachte, dass meine Hände jene anatomischen Strukturen meines Körpers sind, die ich am besten kenne, weil ich sie vielfach betrachtet habe. — Alle Hände, die ich erinnern kann, sind die Hände eines Menschen, der nicht mehr Kind ist. Aber ich erinnere mich an Bewegungen, die Kissen in einem Kinderwagen sortieren. Ich erinnere mich an meinen Wunsch, in meinem Kinderwagen Ordnung zu halten. An hölzernes Spielzeug erinnere ich mich, das vor meiner Nase baumelte. Da sind jetzt kleine, blaue Schuhe in meinem Kopf. Sie bewegen sich, wenn ich wünsche, dass sie sich bewegen. — stop
zeitort
[ 0.08 ] — Ich schreibe diesen Text an einem Zeitort, der eigentlich nicht existiert. Habe mich um 0.05 Uhr an die Schreibmaschine gesetzt, aber noch ehe ich meine Hände auf die Tastatur gelegt hatte, war schon 1 Uhr geworden und ich hatte noch keinen einzigen druckbaren Satz notiert. Habe ich mir also eine zusätzliche Stunde Zeit fabriziert. Wieder war 0 Null Uhr geworden und ich dachte notierend über das Wassersprechen nach. — Ist es möglich, unter einer Meeresoberfläche Wörter aufzusagen? Ist es überhaupt Menschen möglich, unter Wasser so deutlich zu sprechen, dass zu verstehen ist, was ausgesprochen, das heißt, ausgeatmet wurde? Wie hört sich eine menschliche Stimme an, die unter Wasser spricht? Wie viele Sätze kann ich mit einer gesunden, mit einer prall mit Luft gefüllten Lunge so deutlich sprechen, dass von einer Unterhaltung die Rede sein könnte, wenn ich eine Antwort von einem weiteren Taucher erwarten würde? — stop
haltung
4.12 – Das Schreiben im Stehen, weil das Stehen sich in der Nähe des Gehens befindet, das Sitzen aber in der Nähe des Liegens, also des Schlafens. — stop
denken
5.18 — Ich bemerke vom Prozess des Denkens immer nur das Ergebnis, wenn angehalten wird, eine Sekunde, ein Bild, einen Satz. Oft geglaubt, dass ich nicht eigentlich denke, dass, wenn mir etwas einfällt, etwas von Außen hereinfällt, nicht von Innen heraus. — stop
kolibri
3.01 — Ich wurde, noch nicht lang her, gefragt, worin denn die Vorzüge eines Lebens auf Bäumen zu sehen seien. Hört zu, habe ich geantwortet, keine Zeitung, kein TV. Ruhe. Fast Stille. Etwas Pfeifen, etwas Schnattern. Käfer. Ameisentiere. Und Affen, größere Gruppen frecher Affen. Tamarine. Die Kerle drohen mit längst vergorenen Früchten, die sie für Geschenke halten. Moskitos. Fauchende Schaben. Kein Besteck, keine Waffen, keine Telefone. Abendsegler. Leichtere Fliegen. Fliegen in Blau, in Rot, in Schwarz. Schnelle Spinnen. Abwartende Spinnen. Regen. Warmes Wasser. Die Stämme der Bäume, die so hoch aufragen, dass man ihre Kronen nicht mit Blicken erreichen kann, auf und ab, auf und ab, Schiffsmasten im Hafen vor Sturm. Deshalb Seekrankheit, deshalb Höhenangst. Aber Vögel, sehr kleine Vögel. Flügel. Unschärfen der Luft. Öffnet man vorsichtig den Mund, wird man für eine Blüte gehalten. — stop
dubrowka – theater
22.15 — Im Café eine Unterhaltung mit einem Ermittlungsbeamten organisierte Kriminalität. Wir kommen auf eine Geiselnahme im Moskauer Dubrowka — Theater am 23. Oktober 2002 zu sprechen. 132 Menschen waren ums Leben gekommen. Folgendes > b : Wenn Du zwei Geiseln nimmst und verhandelst, hast Du gute Überlebenschancen. Wenn Du damit drohst eine Geisel zu erschießen, wird’s gefährlich. Wenn Du eine Geisel erschießt, bist Du ein toter Mann. — louis : Und wenn ich schlafe, wenn Ihr kommt? — b : Betäubt? — louis : Betäubt. — b : Bombe? — louis : Bombe! b : Dann bist Du tot. Du bist eine Bombe, Du schläfst und Du bist tot.
déjà-vu
15.08 — In der schwankenden Straßenbahn höre ich, wie sie mit brennenden Augen nach Worten suchen für das scheppernde Licht des Magnesiums, für das Fauchen der bengalischen Feuer, die sie in Händen gehalten haben. Da ist eine Nachtsekunde, die Sekunde, in der sie das rote, das verbotene Stäbchen entzündet und gerade noch eben rechtzeitig von sich geworfen haben, da ist das Heulen der chinesischen Pulverpfeifen, da sind Funkenregen, da sind blaugraue Wölkchen, die sich auf kleine Zungen niederlegen. Nicht die Feuerblumen des Himmels, das Spektakel der nächsten Nähe entfesselt die Erinnerung von Stunde zu Stunde. Zündhölzer, verborgen in Hosentaschen, sind zurückgeblieben, auch dieses Schwefelholz, eine heimliche Geschichte. — stop
libellen
15.11 — Ich sitze bei großer Hitze von Büchern umgeben seit Stunden bereits auf dem hölzernen Boden meines Arbeitszimmers. Lese da eine kleine Geschichte und dort einen Absatz und hier eine Zeile und mische im Kopf und warte, bis sich alles wieder voneinander absetzt. Gleich werde ich Wong Kar Wais < 2046 > auflegen. Jetzt leichter Regen, die Fenster geöffnet. Dutzende Falter, die sich, nach Licht süchtig, wieder und wieder in den Bildschirm stürzen. Ich sollte mir zwei kraftvolle Libellen halten. — stop