bamako : 23.02 UTC — Ich packe einen Koffer. Harte, sehr harte Schale, hart wie die Schale der Pekannüsse. Ich lege Hemden hinein, und Hosen und eine Jacke, es könnte kalt werden nachts dort, wohin ich reise. Brille, Turnschuhe, bunte Strümpfe und 1 Paar Handschuhe, Halstücher in Gelb und Rot und Blau. 2 Bücher, die von Vögeln erzählen, 1 Landkarte, 2 starke Batterien für Schreibmaschine, 1 Gummiband, Seife, 1 Stetson Hut, 1 Pullover taubengrau, 1 Pullover gelb, 1 Telefon. Letzte Phase vor Abreise. Ich sitze und schau mir an, was ich als Reiseordnung betrachte. Ich klappe den Koffer zu und verschließe mein Gepäck, in dem ich das Zahlenschloss wild bewege. Der Koffer ist zu, ich kann ihn nicht öffnen. Ich suche nach einem Zettel. Ich bin aufgeregt. Ich mahne zur Ruhe. Ich sage: Sei gleichmütig, Louis! Geduld, Louis! Eine Zahl ist zu erinnern, vier Stellen. Noch ist Zeit. Ich beginne mit der Zahl 001. Zwei Fliegen sausen herum. Im Café um die Ecke wird gefeiert. Ich beobachte, als gehörten sie nicht zu mir, meine Finger, die in rhythmischer Bewegung Zahlen versuchen. Astor Piazzolla: Tiempo Nuevo. Es geht darum, keine der möglichen Zahlen zu übergehen, es geht um Präzision. Eine wunderbare Nacht, noch früh. — stop
Aus der Wörtersammlung: handschuhe
in den wolken spazieren
echo : 11.28 UTC — Das war schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spazierte. Sie trug Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünschte. Sie schien sich zu fürchten, ernst schaute sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtete sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kannte, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut waren, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegten scheinbar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Morgen, Wolken berührten den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch gestürzt war, einfach so, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, so ein Schlamassel. Hundert Meter weit war sie nun schon gelaufen, da entdeckte sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten konnte. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine, waren unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen musste. Für einen Moment blieb die alte Dame stehen. Es wurde ganz still. Sie beugte sich zur Klingel herab, und schon war ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach war das Geräusch zu hören gewesen. — Das Fernsehen erzählt, in der Stadt Mariupol war kein Radio zu vernehmen, gewesen in der Zeit der Blockade, nur das Radio der Propaganda von Osten her, und das Radio der menschlichen Stimmen in den Kellern und auf den Straßen. — stop
schneefliegen
nordpol : 1.15 UTC — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden seien, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren, ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann, mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird nun ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Wärmung menschlicher Existenz. — Das Radio erzählt von der Meeresbeobachtung eines Mannes im März des vergangenen Jahres. Er habe, sagt der Mann, mit eigenen Augen gesehen, wie Raketen ähnliche Flugkörper dicht über die Oberfläche des Wassers hin in Richtung der Stadt Mariupol geflogen seien. — stop
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 in der 508. Etage bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete, sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück, mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Straße getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop
mundsegel
alpha : 3.15 UTC — Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Ich beobachtete am Flughafen eine Frau, wie sie im Supermarkt Früchte berührte. Ihre Hände steckten in Plastikhandschuhen, sie trug eine Brille, die groß ausgefallen war, und einen papierenen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem blähte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Hände bewegten sich hastig, zwei Äpfel, einen Pfirsich, drei Bananen legte sie in ihr Körbchen ab, dann eilte sie weiter sofort zur Kasse, wo sie warten musste. Sie wirkte seltsam verloren, kaum jemand schien sie zu beachten. Sie stand in der Schlange, unruhig, eine Erscheinung, als wäre sie versehentlich viel zu früh an einem Zeitort angekommen, der noch nicht bereit war, sie aufzunehmen. Plötzlich stellte sie das Körbchen, das sie auf ihrem Rollkoffer balancierte, auf dem Boden ab und flüchtete. — Das ist doch seltsam, dachte ich heute bald sechs Jahre später. Dieser Text wurde bereits am 14. Oktober 2014 von mir selbst notiert. Ich hatte ihn verlegt. Das papierene Segel erinnerte mich. — stop
reisende pinguine
nordpol : 20.01 UTC — Lese in Louis Kekkolas Eisbuch Jennifer.Five. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends, Vögel pfeifen. In diesem Moment trage ich Handschuhe. Ich habe mein Tonbandgerät angeschaltet und spreche leise, indem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen halte. Kaum habe ich eine Seite abgetastet, schließe ich den Kühlschrank, gehe in der Wohnung spazieren und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Dann kehre ich zurück und lese mit dampfendem Atem weiter. Höre in diesen Minuten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekunden Zeit erteilt, um das Buch ungestüm warmer Heizluft auszusetzen. Auf Seite 52 entdecke ich Louis Kekkola’s Notiz über 22 Pinguine, die nordwärts reisten in Flugzeugen in hölzernen Behältern, um auf Grönland weiterzuleben. Sie sollen dort das Nordlicht (Aurora borealis) studieren. — stop
nahe aleppo
echo : 21.11 UTC — Der Wagen schaukelte vor sich hin wie ein Schiff im Sturm auf hoher See. Das war gewesen, als Mutter versuchte, im Laufschritt eine Straße zu überqueren. Auch der Himmel schaukelte und das hölzerne Spiel, das vor meinen Augen angebracht worden war, damit ich das Greifen und Fangen übte. Kaum hatten wir die Straße überquert, sortierte ich mein Bett im Wagen, meine Rassel, meinen Teddybären, meine Handschuhe und Decke. Ein Winterbild. Auch immer wieder Gesichter, die näher kamen, um in mein schaukelndes Zimmer zu spähen. Und Hände, die mich neckten, fremde Finger. Manchmal schlief ich ein, weil ich mich gut und sicher fühlte. Ich war vielleicht zwei Jahre alt. Eine Fotografie existiert vom Kinderwagen und mir, eine Hand, ich erinnere mich, ist zu sehen, die aus dem Verdeck greift, das sich über meinem Köpfchen wölbte, als wollte sie etwas fangen in der Luft oder die Luft selbst. — Vor wenigen Minuten noch habe ich bewegte Bilder von Kindern gesehen, die nahe Aleppo blutend in einem Krankenhaus auf einer Bahre ruhten. Die Kinder weinten nicht. Ihre Arme und Hände ohne Bewegung, aber ihre Augen. Sie waren nah auf dem Bildschirm meiner Fernsehmaschine. Ich hörte klagende Stimmen aus dem Off, von dort, wohin mein Bildschirm nicht reichte. – stop
unterwegs in den wolken
delta : 5.28 UTC — Das war schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spazierte. Sie trug Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünschte. Sie schien sich zu fürchten, ernst schaute sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtete sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kannte, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut waren, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegten scheinbar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Morgen, Wolken berührten den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch gestürzt war, einfach so, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, solch ein Schlamassel. Hundert Meter weit war sie nun schon gelaufen, da entdeckte sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten konnte. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine, waren unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen musste. Für einen Moment blieb die alte Dame stehen. Es wurde ganz still. Sie beugte sich zur Klingel herab, und schon war ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach war das Geräusch zu hören gewesen. — stop /koffertext
edison
delta : 2.15 UTC — Einmal, als Nacht war in der Zeit der Nachtarbeit vor Jahren, stellte ich die Frage, wann Mittag sei in der Nacht? Und wann der Abend beginnt? Ich stand auf, vertrat mir die Beine, lief vor dem Bücherregal hin und her, entdeckte ein Edisonbuch, eines aus der Kinderzeit, saß auf dem Sofa, las und schaute, wie man Glühbirnen macht? Zunächst macht man einen gläsernen Behälter für das Licht und dieses Glas nun glüht in einem sehr warmen orangefarbenen Ton und ist flüssig und heiß, denn die Männer, die an ihm arbeiten, tragen kräftige Handschuhe, ihre Gesichter sind zum Schutz mit feuchten Tüchern verbunden. Bald war ich eingeschlafen. — stop
im haus der alten menschen : ein zimmer
tango : 22.22 UTC — Da sind Bilder und Fotografien an den Wänden, eine Katze und noch eine Katze, ein Mann unter einem Schneekirschbaum, der die Arme in die Luft wirft. Hände, die sich in ihren Fingern umarmen. Und zwei Lampen. Eine Lampe zum Knipsen und eine zum Streicheln, Licht an, Licht aus. Ein Hase von Bronze mit langen Ohren von Bronze. Ein hölzernes Kreuz auf einem Tisch. Ein weiteres hölzernes Kreuz an einer Wand. Und ein gusseiserner, bemalter Baum. Zwei blühende Orchideen, weiß. Ein Christstern, rot. Und ein Strauß geschnittener Blumen, wild. Ein Stern von Papier und eine Zeichnung von Kinderhand, dies und das. Pflegeschaumdosen. Cremetuben. Tücher. Tupfer. Klingen. Ein Radio. Vinylhandschuhe. Und eine Nahrungsmittelpumpe. Ein Bett. Eine Matratze, die sich bewegt. Ein Bündel getrockneter Blumen. Kompressen. Ein Messgerät. Ein Pillenzerstäuber. Fünf Bücher. Auch Proust, Briefe zum Leben. Ein kleines Schaf und ein Teddybär. Ein Engel von Porzellan. Ein Duftwasserflacon, Ohrstäbchen, Handvollmenge. Ein Rosenkranz und ein Tannenzapfen. Holzlöffel für Zunge und Hals. Eine Schere. Eine Pinzette. Eine Spritze. Ein Mundschaumstäbchen. Eine Windel. Terminplan für Logopädie gegen verlorenes Sprechen. Lavendelduftkissen. Keine Uhr, nur die eine, die mit mir ins Zimmer gekommen ist. — stop