alpha : 20.16 — Ich habe gestern mit K. gesprochen. Er erzählte, er habe unlängst versuchsweise online von Hamburg aus einen gekochten Hummer in Manhattan bestellt. Das Tier kostete 28 Dollar, alle notwendigen Angaben waren bald ausgefüllt, Name, Adresse, Kreditkartennummer. Es war ein später Abend gewesen. K. erhielt einen Anruf. Er plauderte einige Zeit mit einem Freund. Als er an den Computer zurückkehrte, war seine Maschine eingeschlafen, sie erwachte sofort, als er eine Taste bewegte. In diesem Moment muss es geschehen sein. K. berührte die weiterhin geöffnete Bestellform an entscheidender Stelle mit seiner Mouse, kurz darauf erreichte ihn per E‑Mail eine Bestätigung, der Hummer sei (Shipping) auf dem Weg. Versuche K.’s die Bestellung telefonisch rückgängig zu machen, schlugen fehl, der Betrag von 28 Dollar für das Tier plus 25 Dollar Transportgebühr wurden von seinem Kreditkartenkonto abgebucht. Zwei Wochen später erhielt K. Nachricht von hiesiger Zollbehörde, eine Sendung liege für ihn am Hafen zur Abholung bereit. Ein flaches Gebäude, Import, mehrere Schalter, Transportbänder, Beamte in grünen Uniformen. Als K. vor Ort erschien, wurde gerade eine Person, die heftig diskutierte, in Handschellen abgeführt. K. wartete. Nach einer Stunde wurde er zu einem Schalter gerufen. Man überreichte ihm ein Formular, dem eine Fotografie beigefügt worden war. Das Dokument zeigte ein geöffnetes Paket von Styropor, darin einen Sud, in welchem wesentliche Teile eines Hummers schwammen, Fühler, Schwanz, Augenstile, Zangen, alles war noch gut zu erkennen gewesen. Hände, die in Handschuhen steckten, hielten das Paket ins Licht. Auf begleitendem Schreiben wurden Verbrennungskosten von 118 Euro für importierte Sondermüllware angemahnt. Ein Beamter berichtete, einer seiner Kollegen sei während der Öffnung des Paketes umgefallen, dieser habe sich am Kopf verletzt, weitere Kosten wären denkbar. – Sonntag. stop. Vielleicht. stop. Guten Abend! — stop
Aus der Wörtersammlung: handschuhe
jamaica
echo : 20.26 — Ich will von einem Mann erzählen, der mir in einem Subwaywagon auf der Fahrt von der Lexington Avenue nach Jamaica begegnet war. Er trug, obwohl es im Abteil sehr warm gewesen war, Handschuhe an beiden Händen. Das waren recht merkwürdige Handschuhe, denn die Daumen des Mannes wurden von Schnüren, die an den Fäustlingen befestigt waren, ins Innere der Hand gezogen. Finger umschlossen sie fest, auch sie waren mittels Schnurwerkes gefesselt. Man könnte sagen, dass die Handschuhe, die der Mann trug, seine Hände bändigten, indem sie Fäuste formten. So, gefesselt, saß der Mann während der langen Fahrt vor mir und nickte. Er betrachtete seine Hände, wie mir schien, mit zärtlichenr Aufmerksamkeit, in der Art und Weise der Liebenden vielleicht, wenn ein Blick nachts heimlich einen schlafenden Mund umschmeichelt. Ich versuchte zu arbeiten, konnte mich aber nicht konzentrieren. Nach einiger Zeit fragte ich den Mann, ob er denn etwas in Händen hielte, etwas, das vielleicht flüchte könnte, wenn er seine Hände öffnete. Das schien nicht der Fall zu sein, weil der Mann seinen Kopf schüttelte und lachte, ohne indessen mit mir ein Gespräch aufnehmen zu wollen. Ich wartete also einige Zeit, sah aus dem Fenster, späte Flugzeuge, eine Kette von Lichtern, näherte sich dem Flughafen. Und da war mein müdes Gesicht im Spiegel der Scheibe. Und dann wieder der Mann und seine Hände, die auf seinen Schenkeln lagen. Sie drücken die Daumen, sagte ich, ist das möglich? Der Mann lachte jetzt. Er schien zu überlegen, dann antwortete er mit leiser Stimme, die in dem scheppernden Lärm des Subwaywagons kaum noch zu hören war, dass ein Problem sei, dass er nicht wisse, wie er seine Fäustlinge für das Wünschen bei Nacht, ohne die Hilfe eines weiteren Menschen anlegen könnte. Der linke der Handschuhe war im übrigen von gelber, der rechte von blauer Farbe. — stop
linie 12 : 2 uhr und 25 minuten
echo : 3.08 — In dieser Nacht fahren funkensprühende Straßenbahnen durch die Stadt, uralte Modelle, und die Luft duftet pelzig nach Zinn und Eisen unter Stromabnehmern, welche über Leitungen raspeln, deren gefrorene Wassermäntel im Licht der Laternen schimmern. Dieses Feuer, mal blau, mal schrill und gleissend hell, mal in den milden Farben der Kerzenflammen. Erscheinungen, als würde Lava aus Adern dringen, die über Straßen gespannt. In den Wagons der Trams stehen Männer. Sie tragen Handschuhe und lederne Schürzen, warum? — stop
schneefliegen
nordpol : 1.15 — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden sind, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird nun ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Wärmung menschlicher Existenz. — stop
handschuhbäume
alpha : 6.45 — Im Warenhaus entdecke ich Preise, beispielsweise den Preis von 1.99 für ein Paar Handschuhe, gestrickt. Das fünfte Jahr in Folge ist es gekommen, dass die Preise für Handschuhe fallen. Sie scheinen inzwischen auf Bäumen zu wachsen wie Bananen. Auch Bananen werden immer billiger. An den Handschuhspitzen, dort wo man einen Zeigerfinger hineinstecken kann, entkommen dem Gewebe Fäden. An dieser Stelle, so nehme ich an, waren sie mit ihrem Baum verbunden, hier wurden sie getrennt vom Wind, der Schwerkraft oder von Menschen, die kaum etwas verdienen, nur gerade soviel, dass sie nicht verhungern oder verdursten, weil man sie noch gebrauchen könnte in den nächsten Jahren, geübte, geduldige Frauen und Männer. Vermutlich sind Handschuhbäume ganzjährig blühende Wesen, irgendwo ist immer Winter. Außerdem lassen sich Handschuhe gut aufbewahren, sie verderben nicht so schnell, man muss sie nicht einmal kühlen, nur gefräßige Tiere vertreiben. Das alles, dass Handschuhe von den Bäumen kommen, scheint noch sehr geheim zu sein. Ich habe vor wenigen Minuten versucht mittels der Suchmaschine Google herauszufinden wo Bäume, wie ich sie mir vorstellte, wachsen und wo man sie ihrer Früchte beraubt. –stop
hurricane
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : HURRICANE
Es wird Winter, nicht wahr, liebe Daisy, liebe Violet, es wird Winter. Habe Pullover, Mäntel, Handschuhe, Hüte, Schals auf mein Bett gebreitet, alles ist jetzt geprüft, ich bin gerüstet. Nicht viel ist zu erzählen zur Zeit, vielleicht dass ich gestern am späten Abend die Lektüre eines Romans von Ray Loriga aufgenommen habe, der von der Erfindung Manhattans handeln soll, ein angenehm leichtfüßig erzählter Text. Während ich las, erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich mit einem Matrosen der Staten Island Fähren noch im Januar führte. Er berichtete, wie er mit einem der Schiffe, es war die Andrew J. Barberi gewesen, den Hudson aufwärts fuhr, um das Schiff vor dem Hurrikan Irene in Sicherheit zu bringen. Es sei eine unheimliche Reise gewesen, Notbeleuchtung an Bord, Möwen waren mit stromaufwärts gefahren, unbewegt saßen sie auf den Handläufen der Reling, hunderte Vögel, als hätten sie das Fliegen verlernt. Ein Lotse, nicht der Kapitän, führte Kommando über das Schiff. Er selbst habe sich zum ersten Mal in seinem Leben landeinwärts von der Küste fortbewegt. Ich erinnere mich gern an diesen kleinen Mann, der in Brooklyn groß geworden war. Manchmal trug er eine blinkende Kopfbedeckung, die den Strahlenringen der Freiheitsstatue nachempfunden worden war. Heute, an diesem Abend, wird er vielleicht wieder unterwegs sein mit seinem Schiff den Hudson aufwärts, es geht nun um Sandy, und es geht um Barack Obama. Ich frage mich, liebe Daisy, liebe Violet, wen, wenn ihr noch in heimlichen Wahlregistern verzeichnet sein solltet, würdet Ihr wählen? Euer Louis, sehr herzlich, wünscht eine gute Nacht!
ps. Mr. Salter hat seine Drohung nun wahr gemacht. Im Hof, verpackt in mehrere Kisten, wartet das Eisenbahnabteil eines Pullmannwagens darauf ausgepackt, und in meiner Wohnung montiert zu werden. Es ist angeblich möglich, dass ich mich in das Abteil setzten und dort arbeiten könnte. Landschaften, die ich frei wählen kann, sollen an Fenstern vorüberziehen. Stimmen sind zu hören, das ist sicher, Stimmen aus Nachbarabteilen, die nicht existieren. Und die Bewegung eines wirklichen Zuges unter meinen Händen. — stop
gesendet am
28.10.2012
5.16 MEZ
2145 zeichen
MELDUNGEN / ENDE
PRÄPARIERSAAL : freihändig
alpha : 1.45 — Spaziergang nachts bis 1. Die Luft kalt und klar. Fortsetzung der Audiotranskription. Matthias erzählt: > Die Geräusche des Saals sind nicht leicht zu erinnern. Ich hatte den Eindruck, dass wir, die lebenden Menschen, nach und nach immer lauter wurden. Manchmal war es so laut, dass ich mich mit meinem Gegenüber am Tisch nicht verständigen konnte. Das Geräusch der Pinzetten, die gegen Metallbehälter geschlagen wurden, um Gewebe abzuschütteln, ich glaube, das ist das Geräusch, dass ich mit dem Präpariersaal als typisch verbinde. Und die plötzlich hereinbrechenden Lautsprecherstimmen, wenn jemand eine Ansprache halten wollte. Ich bin jedes Mal fürchterlich erschrocken. Ein Erlebnis ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Das war an einem Tag gewesen, der sehr warm war. Die Sonne brannte durchs Fenster der Apsis. Ich schwitzte wie der Teufel und richtete mich immer wieder auf und spazierte herum, weil mir der Rücken schmerzte von der gebückten Haltung vor dem Tisch. Wenn ich meine Runden drehte, hatte ich meistens meine Handschuhe ausgezogen. Das war auch jenem Tag so gewesen. Und als ich dann zurückkehrte und meine Arbeit wieder aufgenommen hatte, erkundigte sich eine Kollegin am Tisch, ob ich jetzt immer – freihändig – präparieren würde. Ich bemerkte, dass ich vergessen hatte meine Handschuhe wieder anzuziehen. Das war ein Versehen. Ich habe, und das wundert mich wirklich, über das Wort – freihändig – nachgedacht in den folgenden Minuten. Das hörte sich so an, als würde ich in diesem Moment ohne Netz gearbeitet haben. — stop
funkstille
~ : malcolm
to : louis
subject : FUNKSTILLE
date : oct 17 12 8.15 p.m.
Ja, warum antworten Sie denn nicht, verdammt, wenn wir ihnen schreiben? Rom. Das ist doch kein Grund, sich nicht zu melden. Kaum auszudenken, wenn wir das so machen würden wie Sie. Frankie haben wir jedenfalls wiedergefunden. Fünf Tage war er nicht zu finden gewesen, kein Signal, kein Frankie im Central Park, wie vom Erdboden verschluckt. Man stelle sich das einmal vor, wir würden Frankie’s Spur verloren haben, wenn es einmal wirklich ernst geworden ist. Wir dachten, die Brennstoffzellen seines Senders könnten ausgefallen sein. Es war an einem Samstag, da war Frankie plötzlich fort, Höhe 76. Straße. Gerade noch kauerte er neben einer Eiche. Wir waren müde, glaube ich, es war Abend, wir saßen in Sichtweite auf einer Bank, vielleicht sind wir kurz eingeschlafen. Natürlich haben wir sofort die Suche nach Frankie aufgenommen. Haben jede Unterführung geprüft und jedes der Abflussrohre, die Frankie zum Verhängnis geworden sein könnten. Grauenvolle Tage, wir irrten ziellos herum. Jedes Eichhörnchen, dem wir uns näherten, konnte Frankie gewesen sein. Das war ein Albtraum, ein ganz ungeheuere Sache, wie ähnlich sie sich doch sind. Matt wurde mehrfach in die Hand gebissen, wir tragen jetzt Lederhandschuhe. Und dann kam Frankie zurück. Es war wieder Abend geworden und Frankie tauchte genau dort, wo wir ihn verloren hatten, wieder auf. Langsam kam er auf uns zu, sein Schwanz zitterte, sein fester Körper bebte, er machte den Eindruck, als wollte er uns begrüßen. So nah kam er heran, dass wir ihn berühren konnten. Ich habe mir gedacht, dass Frankie verdammt genau den Eindruck machte, als hätte er nach uns gesucht wie wir nach ihm, und dass er froh gewesen war, uns endlich gefunden zu haben. Das ist schon eine seltsame Geschichte. Gerade sitzt Frankie auf einer Bank neben uns. Er knackt Erdnüsse, die wir im schenkten. Eine Art Bestechung vielleicht. Der Sender piepst. Alles scheint wieder in Ordnung zu sein. Ihr Malcolm – stop / codewort : lilienthal
empfangen am
18.10.2012
1512 zeichen
PRÄPARIERSAAL : verwandlung
alpha : 1.55 — Mein Tonbandgerät wird vielleicht bald aufhören zu existieren. Ein Knistern ist zu vernehmen, sobald sich die Motoren der Maschine in Bewegung setzen. Wenn ich sie schüttele, scheint etwas in ihr herumzufallen, weshalb ich sie in dieser Nacht öffnen werde, um nachzusehen, ob ich etwas tun kann, um ihren Verfall aufzuhalten. Es ist jetzt 1 Uhr 32 Minuten. Noch drehen sich die Räder der Maschine. Gerade eben erzählte Yolande aus Kamerun von ihrer Erfahrung der Verwandlung in der Umgebung anatomischer Arbeit : > Ich habe schon am ersten Abend gespürt, dass sich in meinem Leben etwas verändern würde. Ich kann mich, wie ich schon sagte, nicht sehr gut an meinen ersten Tag im Präpariersaal erinnern. Als ich nachts vor dem Spiegel stand, waren meine Augen gerötet. Das machte mir Sorgen. Ich konnte nicht einschlafen und darum bin ich im Zimmer auf und abgelaufen. Und plötzlich hatte ich ein ganz starkes Gefühl von Lebendigsein in mir. Ich hatte das Gefühl, dass diese alltäglichen, kleinen Schwierigkeiten unter Menschen, unbedeutend sind. Alles völlig unwichtig. Ich habe dann sehr gut geschlafen. — Wenn ich von meiner Erfahrung des Präparierkurses erzähle, reagieren die Menschen mit respektvollem Staunen. Ihre Augen werden groß und immer größer, je mehr sie erfahren. Sie meinen sehr häufig, dass sie das selbst niemals aushalten würden. Dann erzähle ich gern von meinen Freunden am Tisch. Ich habe als sehr wertvoll empfunden, in einem Team arbeiten zu können. Wir machten dieselben Erfahrungen und hatten ein gemeinsames Ziel: das Erlernen der Strukturen des menschlichen Körpers. Außerdem fand ich sehr angenehm mit den Händen arbeiten zu können, ich konnte die Materie anfassen, Muskeln und Nerven und Blutgefäße. Wir waren alle weiß gekleidet, vielleicht fühlten wir uns deshalb wie in einer anderen Haut. In dem Moment, da ich meinen weißen Kittel anzog und meine Handschuhe, hatte ich das Gefühl mich zu verwandeln. Auch dann, wenn ich mir nur ausmalte, wie ich meine Handschuhe überstreifte, verwandelte ich mich auf der Stelle. — stop
möwen
echo : 4.12 — Lese in Louis Kekkola’s Eisbuch Das Walfischorchester. Es ist jetzt kurz nach vier Uhr, Dämmerung, Vögel pfeifen. In diesem Moment trage ich Handschuhe. Ich habe mein Tonbandgerät angeschaltet und spreche leise, in dem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen halte. Kaum habe ich eine Seite abgetastet, schließe ich den Kühlschrank, gehe in der Wohnung spazieren und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Dann kehre ich zurück und lese mit dampfendem Atem weiter. Höre in diesen Minuten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekunden Zeit erteilt, um das Buch der ungestümen warmen Luft meiner Wohnung auszusetzen. Auf Seite 87 entdecke ich Louis Kekkola’s Notiz über das Leben der Möwen an nordischen Stränden. Er habe, schreibt er, in seinem Leben noch nie eine Möwe berührt. Das ist erstaunlich, ich glaube, es existieren nur wenige Menschen, die je eine Möwe mit ihren Händen berührten. Auch ich habe noch nie eine Möwe mit meinen Händen berührt. Ich könnte das ändern, ich sollte ans Meer fahren. — stop