lima : 8.16 — Von der Linzer Gasse hinauf zum Paschingerschlössel, in dem Stefan Zweig mit seiner ersten Frau, der Schriftstellerin Friederike Maria Burger, 15 Jahre lang wohnte und arbeitete. Ein steiler Weg, 264 Treppenstufen, James Joyce und Thomas Mann werden diese Strecke gegangen sein vor einer Sekunde noch vor den langsam westwärts fließenden Bergen. Das Haus No 5, großzügige Terrasse, hinter Laubbäumen versteckt, scheint sich von selbst im leichten Wind zu bewegen. Unten im Tal, schneegrün an diesem Abend, die Salzach. Auf den Dächern der Stadt lungern moderne Menschen, sie lesen, trinken Wein, schlafen in ihren Himmelsgärten in der warmen Novembersonne. Ein später Feuerkäfer passiert den schmalen, steinigen Weg, längst bin ich im Wald angekommen. Das Kloster der Kapuzinermönche liegt hinter mir. Buchen, Eschen, Linden brennen. Eine gebückt gehende alte Frau, ich sehe, sie geht kreuz und quer über die Pfade des Berges. So betagt muss sie ihrer Erscheinung nach sein, dass sie Stefan Zweig noch persönlich gekannt haben könnte. Wie sie zuletzt unter den Bäumen verschwindet, uraltes Kind, dachte ich an eine Fotografie, die in der digitalen Sphäre existiert. Sie zeigt Stefan Zweig und seine zweite Frau Lotte Altmann in ihrem Haus in der brasilianischen Stadt Petrópolis leblos liegend auf einem Bett. Dieser Blick nun eines Journalisten und seiner Lichtfangmaschine, der seit dem 23. Februar 1942 nicht wieder zurückgeholt werden kann. — stop
Aus der Wörtersammlung: himmel
kapselbäume
lima : 0.03 – Fenster von opakem Licht. Bäume draußen im Park vor dem Präpariersaal selbst nicht zu sehen, nur ihre Schatten, die sich im Wind bewegten. Der Eindruck, jene Schattenbäume handelten aus eigener Kraft, Muskeln unter der Rinde, Sehnen, Gelenke, Kapseln, Bänder. Schemen zweier Eichhörnchen hüpften von Ast zu Ast. Ich beobachtete eine Idee, während ich über Kopfhörer die Qualität einer Tonbandaufnahme kontrollierte. Eine Stimme. Die Stimme eines jungen Mannes. Er sagte: Ich hielt im Traum einen Kehlkopf in der Hand, der leise pfiff. Ich kann mich an ein paar sehr schräge Töne erinnern, an eine vibrierende Bewegung auf meiner Handfläche, als ob dort ein Falter sehr rasch mit seinen Flügeln auf und ab schlagen würde. : pause 2 sec : Manchmal habe ich am helllichten Tag Vorstellungen, Tagträumerei, meine Hände, zum Beispiel, auf dem Lenkrad meines Autos, ohne Haut. – Samstag. Wolkenloser Himmel. Count Basie. — stop
sekundenzeit
india : 10.01 — Ich habe eine lustige Geschichte mit mir selbst erlebt. Ich stand in einem Garten am späten Abend und versuchte, indem ich mich konzentrierte, die Umrisse meines Körpers wahrzunehmen, nicht die Umrisse einer bestimmten, einer ausgewählten Region meines Körpers, sondern die Umrisse meines Körpers insgesamt. Plötzlich meinte ich, mich in einem Film zu befinden, einem Film, der sich sehr langsam bewegte, mit einem Bild pro Jahrhundert, sagen wir, sodass ich mich nicht erinnern konnte, überhaupt schon einmal in Bewegung gewesen zu sein. Auch der wolkenlose Himmel über mir hatte sich noch nie zuvor bewegt, und die gefrorenen Blätter der Bäume und ihre Nachtschatten. Wie ich in dieser Weise verharrte und mich in die Vorstellung der Bewegungslosigkeit vertiefte, für einen Moment der Eindruck, Minutenzeit wahrnehmen zu können. — stop
coleoptera rasura
tango : 10.12 — Eine zierliche Frau von hohem Alter. Sie schob einen Rollwagen vor sich her, auf dem zwei Koffer ruhten. Elegante Kleidung, sandfarben, leichte Sommerschuhe, links in der Hand eine Tasche von gelbem Leder, der ein Kabel entkam, das ein paar Kopfhörer und ein Mikrofon mit einem Telefon verband. Das Telefon war nicht sichtbar gewesen, aber die Frau sprach in das Mikrofon, das sich in der Nähe ihres Mundes befand, als würde sie telefonieren. Hin und wieder blieb sie stehen, ihre weißen Hände flattern dann in der Luft herum, als wollte sie zur Unterstützung ihrer Zunge mit Fingern artikulieren. Ich versuchte, sie anzusprechen, zu grüßen, ihr nahezukommen, um hören zu können, in welcher Sprache sie korrespondierte. Ich sage Euch, sie flüsterte unbekannte Wörter. Einmal öffnete sie einen ihrer Koffer. Sie gab mir ein Zeichen, ich kniete nieder. In dem Koffer hockten Käfer in Fächern, zwei Käfer je in einem Fach. Ihre Körper waren von der Farbe und Zeichnung der Bruyèrehölzer gewesen, und sie brummten, vielleicht deshalb, weil an der Stelle, da sich üblicherweise Käferzangen befinden, knöcherne Trommeln in rasender Geschwindigkeit rotierten. Gegen Viertel nach zwei Uhr erwacht. Wolkenloser Himmel, Sterne, eiskalte Luft nahe der Berge über dem Dach. — stop
handgeschichte
echo : 23.58 — Ich hatte gerade in einem Buch gelesen, als ich beobachtete, wie meine Hände, die den Buchkörper von entgegengesetzten Richtungen des Himmels her kommend berührten, sich bewegten, obwohl ich sie nicht dazu ermuntert hatte. Vielmehr war das so geplant gewesen, dass sie bewegungslos auf den Papieren ruhen sollten, um das Buch, das sich immer wieder schließen wollte, zu bändigen. Zunächst bewegte sich der linke, dann der rechte Daumen, ein Geräusch, ein helles Geräusch war zu hören, ich unterbrach meine Lektüre und legte das Buch zur Seite. Ich notiere: Sobald ich mich für ein oder zwei Minuten ganz und gar auf meine Hände konzentriere, vergesse ich mich selbst. Ich könnte mich, das ist denkbar, in dieser Übung einmal so gründlich vergessen, dass ich von außen her gerettet werden müsste, um wieder ganz anwesend und beweglich sein zu können. An einem anderen Tag, noch nicht lange her, war ich durch die Bewegung eines Fingers meiner linken Hand derart erschrocken, dass ich bald vom Tisch aufgesprungen wäre. Seltsame Sache. — stop
PRÄPARIERSAAL : kreide
delta : 22.56 — Gewitterhimmel. Abend. Moskitofische segeln von Zimmer zu Zimmer. Seit zwei Stunden Julian, seine tiefe Tonbandstimme. Seltsam ist, dass ich mich an Julians Gesicht nicht erinnern kann. Zeit und Ort der Tonbandaufnahme, ein kleines Café in Schwabing zu München, sind hingegen sofort erreichbar. Samstag. Winter. Sobald sich die Tür des Cafés öffnete, wehte Schneewind herein. > Wir haben zunächst das Präparat auf dem Tisch herumgedreht. Aber das sagt sich so leicht. Man kann das Präparat nicht alleine herumdrehen. Das Präparat ist zu schwer, um von einer Person auf einem schmalen Tisch herumgedreht werden zu können. Wir haben das Präparat gemeinsam bewegt. Ein intensiver Moment. Wir schwitzen. Wir halten den Atem an. Das Präparat ist feucht. Eine Hand hält den feuchten Kopf des Präparates, eine weitere Hand einen feuchten Arm, Hände halten feuchte, kühle Schenkel, einen feuchten, kühlen Rücken, einen feuchten, kühlen Nacken. Wir haben noch nicht an Tiefe gewonnen, wir haben noch keinen Schnitt gesetzt. Wir sind noch am Anfang. Wir sind noch am ersten Tag. Wir haben noch nicht darüber geschlafen. Ich sehe, wie ich ein Stück Kreide in die Hand nehme. Ich nehme dieses Stück Kreide in die rechte Hand. Mit der linken Hand taste ich über den Rücken meines Präparates. Ich ertaste Untiefen, Knochen, feste Strukturen, die meinen Fingern Orientierung bieten. Sobald ich mit der linken Hand eine Untiefe, einen Knochenpunkt ertastet habe, ziehe ich mit der rechten Hand einen Kreis. Wenn ich mit der Kreide den Körper berühre, gibt der Körper nach. Mein Finger ist ein Werkzeug des Tastens, die Kreide ein Werkzeug des Beschreibens. Ich zeichne dem Präparat die Form eines Herzens auf die Brust. Ich zeichne einen Magen auf den Bauch. Ich zeichne in die Tiefe eine Niere links, eine Niere rechts. Ich habe die Vermutung eines Herzens, ich habe die Vermutung eines Magens, ich habe die Vermutung einer Niere da und einer Niere dort. Das Präparat ist ohne Geräusch. Es ist merkwürdig, alles scheint schon sehr lange her zu sein, und doch habe ich den Eindruck, dass kaum Zeit vergangen ist. Das Präparat auf dem Tisch, dieser Mensch, ist fast verschwunden. — stop
coleoptera somnia — 14 gramm
tango : 6.55 — Äußerst bemerkenswert an der Gattung der Schlafkäfer ist, dass sie unverzüglich vom Himmel stürzen, sobald sie während ihres Fluges erwachen. Warum? — stop
syrischer traum
tango : 6.15 — Ich hatte einen beunruhigenden Traum. In diesem Traum wurde mit Panzern auf protestierende Menschen geschossen. Projektile, groß wie Koffer, flogen durch die Luft. Wenn sie einen Menschen trafen, rotierten Körperteile gegen den Himmel. Überhaupt bewegte sich die Welt in diesem Traum sehr langsam, die Blätter der Bäume, Kinder, die unter Platanen Himmel und Hölle spielten, auch jene fliegenden Eisenkoffer und das Feuer, das aus den Geschützrohren der Panzer trat, alles zur Zeitlupe verzögert. Einmal saß ich auf einer Bank. Ich hielt den Kopf eines Jungen in Händen. Durch ein furchterregendes Loch in der linken Wange des Kindes spähte ich in das tobende Gesicht eines Offiziers. Das alles war mir, noch im Traum befindlich, sehr merkwürdig vorgekommen, weil die singende Stimme eines Kindes in nächster Nähe zu vernehmen gewesen war. — stop
regentaucher
sierra : 18.55 — Ich habe Geräusche entdeckt, Töne, die viele Jahre zurück einmal in meinem Leben existierten. Ich lag damals oft auf dem Rücken in einem Wagen, der schaukelte. Groß war ich zu jener Zeit noch nicht gewesen, ich war nicht länger als 50 cm. Meistens trug ich keine Schuhe. Ich erinnere mich, dass die Wolken und der Himmel über mir schaukelten, und da war ein hölzernes Röhrchen, von dem weitere hölzerne Röhrchen baumelten, die klimperten, helle Geräusche, während sich der Wagen und ich bewegten, oder auch dann helle Geräusche, wenn der Wagen angehalten war, weil ich sofort mit meinen kleinen Händen nach den Röhrchen langte. Jetzt, da ich jene entfernten Geräusche erinnerte und ihre Entstehung, kann ich sie beliebig zur Aufführung bringen, obwohl sie so unmöglich in der Wirklichkeit sind, wie Geräusch des Regens für einen Tiefseetaucher unerreichbar. — stop
taubenstadt
~ : oe som
to : louis
subject : PIGEONS
date : july 17 11 8.15 a.m.
Seit gestern endlich wieder ruhige See, ein wolkenloser Himmel über uns. Noe, wohlauf in 550 Fuß Tiefe, liest Javier Tomeos Taubenstadt. Großartiges Buch. Vor 10 Tagen haben wir damit begonnen, Noes Stimme aufzunehmen. Wundervolle Funkgeräusche seither ohne Unterbrechung. Als wir Noe berichteten, dass wir seine lesende Stimme verzeichnen, dass man ihm zuhören könne in Lissabon, in Lima, in Shanghai, dass er eine Sensation sei, ein Mann, der das Lesen wasserfester Bücher erprobt, ein Mann im Taucheranzug, ein Mann, der seit 820 Tagen im Atlantik vor Neufundland lebt, eine menschliche Station, ein beleuchteter Körper in Lichtlosigkeit, – seit wir ihm gebeichtet haben, dass wir ihn konservieren, scheint Noes lesende Stimme ruhiger geworden zu sein. Wir haben den Eindruck, dass unser Mann nun fort jedes Zeichen genießt, das wir ihm zur Verfügung stellen. Nach wie vor heftige Debatten über die Temperatur des Tees, den wir in die Tiefe leiten. Noe behauptet, der Tee sei zu kalt. Er wolle in diesem Tee weder baden noch wolle er ihn trinken, wir sollten endlich alle Leitungen beheizen, die zu ihm führen. Vielleicht weil er sich darüber heftig erregte, verlor Noe gestern, um 20 Uhr und zwölf Minuten, Ovids Liebeskunst an das Meer. Eine Tragödie. In diesen Minuten, da ich Dir telegrafiere, liest Noe wieder ruhig vor sich hin. Wir hören seinen Atem. Wir hören das Funken der Wale. Beste Grüße Dein OE
gesendet am
17.07.2011
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