Aus der Wörtersammlung: landschaft

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siatista

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ulys­ses : 15.02 — Nörd­li­ches Grie­chen­land. Kar­ge Land­schaft. Man erzähl­te mir von Sia­tis­ta, dort sol­len Wöl­fe leben in den Ber­gen, aus wel­chen die Stei­ne der Häu­ser der klei­nen Stadt geschla­gen sind. Im Win­ter fällt Schnee und bleibt lie­gen. Dann kom­men die Wöl­fe näher her­an, sind zu hören in den Näch­ten, ihr heu­len­des Gespräch. Alt sind sie, uralt wie die Men­schen in die­ser Gegend, die sich wider­set­zen, wenn ihre letz­te Stun­de gekom­men ist, leben sie ein­fach wei­ter. Sobald ein Win­ter endet und die Ber­ge blü­hen für eine kur­ze Zeit in allen Far­ben, die man sich nur vor­stel­len kann, liegt eine jun­ge Frau auf einer Wie­se her­um. Die­se Wie­se ist weiß von den Kör­ben der Kamil­le, eine Wie­se, die die Gestalt der jun­gen Frau erin­nert, wie sie auf dem Rücken liegt, immer an der­sel­ben Stel­le in den Him­mel schaut und glaubt über ein Eis­meer zu flie­gen. Wenn man sie besu­chen, wenn man sich neben sie legen wür­de, könn­te man Geschich­ten hören, die sie mit tie­fer Stim­me sogleich erzäh­len wird. Dass sie blau war zum Bei­spiel, ein blau häu­ti­ges Kind, dass sie nicht atmen konn­te in der ers­ten Stun­de ihres Lebens, dass man sie mit Luft, anstatt mit Was­ser tauf­te, weil man glaub­te, sie wer­de ihre zwei­te Lebens­stun­de nicht betre­ten. Dass sie sich im Alter von vier Jah­ren im Schnee ver­irr­te, dass zwei Wöl­fin­nen sie wärm­ten für eine Nacht, bis man sie fand. Dass sie eine Par­ti­sa­nen­toch­ter sei, dass sie mit den Schild­krö­ten spre­chen kön­ne und den Schlan­gen, den Fal­tern, den Flie­gen. Dann wird sie ein wenig schwei­gen und eine Hand­voll Aka­zi­en­blü­ten rei­chen, sie schmeck­ten vor­züg­lich, man müs­se sie sich auf die Zun­ge legen und war­ten, bis sie schmel­zen. Jetzt liegt die jun­ge Frau wie­der auf dem Rücken zum Eis­meer hin, erzählt wei­ter, erzählt von den lan­gen Wegen im Win­ter zur Schu­le und dass sie ein Jahr zurück das ers­te Mal das Meer gese­hen habe. Ein gro­ßer Frie­den. Ihre Stim­me, die so selt­sam tief ist. Das Brum­men drei­hun­dert Jah­re alter Insek­ten. Auch Wöl­fe fres­sen wei­ße Blü­ten. — stop

für v.s.
siatista

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feuerbäume

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nord­pol : 2.15 — Im Süden, in den Ber­gen, liegt ein Tal in gro­ßer Höhe, eine Hoch­ebe­ne, die dicht von Ahorn­bäu­men bewach­sen ist. Jedes Jahr im Herbst möch­te man mei­nen, ein gro­ßes Feu­er sei im Tal unter den Bäu­men aus­ge­bro­chen, eine Feu­ers­brunst, die nicht nur alle die ver­wit­ter­ten Bäu­me ver­schlin­gen woll­te, son­dern gleich noch ein paar Berg­gip­fel und Dör­fer dazu. Aber das ist natür­lich Unsinn, die Luft ist für ein wirk­li­ches Feu­er viel zu kalt und die Wie­sen unter den Bäu­men sind saf­tig und feucht. Libel­len, schon lang­sam gewor­den, flie­gen auf und ab. Sie ahnen den Win­ter, wie die Sumpf­dot­ter­blu­men, die mor­gens nur noch außer­ge­wöhn­lich auf­ste­hen wol­len. Nichts Auf­re­gen­des also in die­ser Land­schafts­be­schrei­bung. Alles das kommt vor in den Ber­gen, auch Schu­len blut­jun­ger Ken­tau­ern, die in der Däm­me­rung ver­geb­lich nach Hasen jagen. Wenn da nicht jene selt­sa­men Pil­ze wären, die noch ohne Namen sind, weil man sich bis­her nicht eini­gen konn­te, ob sie nun tat­säch­lich noch Pil­ze oder nicht doch schon ganz ande­re Wesen sind. Solan­ge das Son­nen­licht ins Tal ein­fal­len kann, ver­ste­cken sie sich zwi­schen den Grä­sern der Berg­wie­se in Gestalt der Bovis­te, sobald es aber dun­kel gewor­den ist, ich kann ihnen sagen, flie­gen sie los. Sie ent­fal­ten Schir­me von unglaub­li­cher Grö­ße und leuch­ten in zitro­nen­gel­ber Far­be und schwe­ben stun­den­lang und laut­los dicht über die Kro­nen der Ahorn­bäu­me dahin. Was haben Pil­ze dort oben am Him­mel ver­lo­ren? Und wie fin­den sie wie­der zurück auf die Erde? War­um über­haupt kom­men sie zurück? Selt­sa­me Sub­stan­zen. Ich muss das im Auge behal­ten. – Es ist jetzt kurz nach 2 Uhr. Eigent­lich hat­te ich vor, einen klei­nen Brief an Kenzabu­ro Oe zu schrei­ben, um ihm mit­zu­tei­len, dass Mrs. Cal­las ges­tern in den frü­hen Mor­gen­stun­den end­gül­tig abrei­sen konn­te, dass sie für mich wie­der zu rei­nen Schrift­zei­chen gewor­den ist. Für die­sen Brief ist es jetzt zu spät. Wer­de mor­gen eine Depe­sche notie­ren. — stop

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von der poesie der insekten

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echo

~ : louis
to : mon­sieur jean-hen­ri fabre
sub­ject : VON DER POESIE DER INSEKTEN

Mein lie­ber Mon­sieur Fab­re, an die­sem wun­der­schö­nen, eis­kal­ten Dezem­ber­tag gegen Zehn, habe ich ent­lang Ihrer fei­nen Zei­chen­ket­te die Bestei­gung des Mont Ven­toux in Angriff genom­men. Nun bin ich wie­der ein­mal begeis­tert von hin­rei­ßen­der Land­schaft, von der dün­ner wer­den­den Luft, von ihren gelieb­ten Wes­pen, die ich noch nie in mei­nem Leben mit eige­nen Augen wahr­ge­nom­men habe. Heu­te Mor­gen sehr früh, als ich vor dem Fens­ter saß und mei­ne Polar­spin­ne beob­ach­te­te, wie sie sich freu­te, nach einer sehr lan­gen Zeit im Eis­fach end­lich unter der frei­en, kal­ten Luft die Ster­ne betrach­ten zu kön­nen, hat­te ich die Genau­ig­keit Ihres Sehens erin­nert, die Geduld Ihrer Augen, und sofort in Ihr klei­nes, bedeu­ten­des Buch von der Poe­sie der Insek­ten geschaut. Man kann das Atmen ver­ges­sen. Wie lan­ge Zeit wer­den Sie wohl eine gra­ben­de Sand­wes­pe betrach­tet haben, ehe Sie einen ers­ten Satz for­mu­lier­ten? Und was, zum Teu­fel, haben Sie da unter der Lupe, als Nadar Sie foto­gra­fier­te? — Ihr Lou­is, mit bes­ten Grüßen.

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papiertierchen

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nord­pol : 9.15 — Man stel­le sich ein­mal vor, Papier­tier­chen exis­tier­ten in unse­rer Welt. Nicht etwa Tier­chen, die aus Papier gemacht sind oder ver­gleich­ba­rer Ware, son­dern tat­säch­li­che Lebe­we­sen, die so aus­ge­dacht sind, dass sie sich zu For­men ver­sam­meln, die einer Papier­sei­te ähn­lich sind. Weil die­se Lebe­we­sen, wie ich sie mir gera­de male, sehr klein sein soll­ten, sagen wir in der Flä­che so groß wie die Spit­ze einer Nadel, wür­de ein Maschi­nen­bo­gen von nicht weni­ger als zwei Mil­lio­nen Indi­vi­du­en nach­ge­bil­det sein. Jedes Papier­tier­chen, sicht­bar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikro­skops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier wei­te­ren Tier­chen, die es schon immer kennt, mit­tels feins­ter Ten­ta­keln zu ver­bin­den oder zu befreun­den, und zwar nur mit die­sen, sodass man von ein­deu­ti­ger Ord­nung spre­chen könn­te, nicht von einer belie­bi­gen Anord­nung. Ja, jedes der klei­nen Wesen für sich spricht von einem urei­ge­nen Ort, den es nie­mals ver­gisst. Sobald alles schön zu einer Sei­te geord­net ist, wer­den mit Licht, mit einem Licht­stift genau­er, Zei­chen gesetzt auf das leben­de Papier, indem man leich­ter Hand wie mit einem Fül­ler schreibt. Wird ein schnee­wei­ßes Tier­chen berührt vom notie­ren­den Licht, nimmt es sogleich die schwar­ze Far­be an und ver­bleibt von die­sem Schwarz, bis es von wei­te­rem Licht berührt wer­den könn­te, einem Licht natür­lich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lam­pe das Zei­chen der Nacht sofort über die Land­schaft der fili­gra­nen Kör­per schrei­ben wür­de. Ich hat­te, wäh­rend ich die­sem Gedan­ken noch auf einer gewöhn­li­chen Com­pu­ter­schreib­ma­schi­ne folg­te, die Idee, dass sie viel­leicht alle sehr schreck­haft sind, also zunächst unvoll­kom­men oder wild, dass sie, zum Bei­spiel, wenn ein Feu­er­wehr­au­to in ihrer Nähe vor­über kom­men soll­te, sofort aus­ein­an­der flie­gen in Panik, sich ver­ste­cken, um jedes für sich oder in grö­ße­ren Grup­pen an den Wän­den mei­ner Zim­mer zu sit­zen. Viel­leicht lun­gern sie auch auf Kaf­fee­tas­sen her­um oder in den Haar­blät­tern eines Ele­fan­ten­fuß­bau­mes, ja, das ist sehr gut denk­bar. Ich wer­de dann war­ten, ruhig und gelas­sen war­ten, bis sie sich wie­der beru­higt haben wer­den und zurück­kom­men, sagen wir nach einer Stun­de oder zwei. Dann wei­ter schrei­ben oder lesen oder den­ken. Und jetzt hab ich einen Kno­ten im Kopf. — stop

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simbabwe

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del­ta : 0.02 — Ges­tern, am frü­hen Nach­mit­tag, leg­te ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nacht­ar­beit sehr müde war. Ich stell­te mein Fern­seh­ge­rät an, dort lief ein klei­ner Char­lie Chap­lin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wie­der wach wur­de nach zwei Stun­den, war der klei­ne Film zu Ende und ich sah in einem ande­ren Film eine Frau in einer grü­nen Land­schaft auf dem Erd­bo­den lie­gen. Die Frau, die ich sah, war eine afri­ka­ni­sche Frau, eine Bür­ge­rin des Staa­tes Sim­bab­we. Sie lag dort in Sim­bab­we auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sit­zen konn­te. Sie war unge­fähr so alt wie ich oder sehr viel jün­ger, der täg­li­che Hun­ger hat­te sie viel­leicht älter gezeich­net, und sie schau­te in die Kame­ra, eine euro­päi­sche Kame­ra, und sag­te, dass sie so ger­ne eine Apfel­si­ne haben wür­de. — stop

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die sonne ist rund

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india : 5.08 — Wie in schwie­ri­ger Zeit im Schlaf die Welt nach und nach neu geord­net wird, kein Stein bleibt auf dem ande­ren. Jeder begin­nen­de Tag, ein Tag vor unbe­kann­ter Land­schaft. Jede erleb­te Geschich­te erzählt sich, als wäre sie nie gesche­hen. Die Son­ne ist rund.

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pullmann

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echo : 0.02 – Im Traum im Pull­man­wa­gen durch eine selt­sa­me Land­schaft gereist. Ich stand an einem Fens­ter. War­mer Wind fuhr mir übers Gesicht, und die Luft duf­te­te nach Zimt und blaue Frö­sche schwirr­ten wie Vögel her­um. Sie waren blind, wes­halb ich hören konn­te, wenn sie in den Erd­bo­den ras­ten oder gegen den Zug, Geräu­sche, für die auch in die­ser frü­hen Mai­nacht noch kein ange­mes­se­nes Wort in mei­nem Kopf exis­tiert. Ein­mal fuhr der Zug an einem Fluss ent­lang. An den Ufern die­ses Flus­ses stan­den tau­sen­de Angel­ru­ten in den Boden ver­senkt. Maschi­nen zupf­ten die Sei­le der Ruten, pling : pling : pling. Sie schleu­der­ten Fisch um Fisch an Land, auch Men­schen, gan­ze Men­schen oder Arme oder Bei­ne von Men­schen. Die­se Men­schen zap­pel­ten, wie die Fische zap­pel­ten, und auch die Arme und Bei­ne zap­pel­ten im Sand und schnapp­ten ver­geb­lich nach Luft. — stop

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take five

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10.16 — Eigen­ar­tig, wie sie vor mir sitzt, die fla­chen Schu­he gegen die Bei­ne des Stuh­les gestemmt, bei­de Hän­de auf dem Tisch, Innen­sei­ten nach oben, der­art ver­renkt, als gehör­ten die­se Hän­de nicht zu ihr, als sei­en sie vor­sätz­lich ange­brach­te Instru­men­te, Werk­zeu­ge des Fan­gens, Blü­ten. Jetzt schlie­ßen sie sich, Fin­ger für Fin­ger, Nacht wird. — ::: — Eine Foto­gra­fie kommt über den Tisch, Take Five, läs­si­ge Ges­te, als wür­de eine Kar­te aus­ge­spielt. „Was siehst Du?“, fragt sie. – ::: — „Land­schaft!“, — ant­wor­te ich, „Afri­ka. Süd­li­ches Afri­ka. Einen Affen­brot­baum und zwei Män­ner. Einen jun­gen Mann schwar­zer Haut­far­be, der einen hel­len Anzug trägt, und einen älte­ren, einen wei­ßen Mann, der einen dun­kel­grau­en Anzug trägt, einen Stroh­hut und eine Bril­le. Eine stau­bi­ge Stra­ße. Men­schen, die schwarz sind und bewaff­net. Geweh­re. Mache­ten. Har­te Schat­ten. Spu­ren von Hit­ze, infer­na­li­scher Hit­ze. Sie sehen alle so aus, als schwitz­ten sie. Jawohl, alle, die dort auf der Stra­ße ste­hen, schwit­zen.“ — ::: — „Was noch?“ -, fragt sie, — „was siehst Du noch?“ – ::: — Sie fährt sich mit ihrer rech­ten Hand über die Stirn. – ::: — „Ich sehe ein Auto. Das Auto steht rechts hin­ter dem wei­ßen Mann, eine dunk­le Limou­si­ne, ein schwe­rer Wagen. Ich sehe einen Chauf­feur, einen Chauf­feur von schwar­zer Haut, Schirm­müt­ze auf dem Kopf. Der Chauf­feur lächelt. Er schaut zu den bei­den Män­nern hin­über, die unter dem Baum im Schat­ten ste­hen. Der wei­ße Mann reicht dem schwar­zen Mann die Hand oder umge­kehrt. Sieht ganz so aus, als sei der wei­ße Mann mit dem Auto ange­kom­men und der schwar­ze Mann habe auf ihn gewar­tet. His­to­ri­scher Augen­blick, so könn­te das gewe­sen sein, ein bedeu­ten­der Moment, eine ers­te Begeg­nung oder eine letz­te. Bei­de Män­ner haben erns­te Gesich­ter auf­ge­setzt, sie ste­hen in einer Wei­se auf­recht, als woll­te der eine vor dem ande­ren noch etwas grö­ßer erschei­nen. Da ist ein merk­wür­di­ger Aus­druck in dem Gesicht des jun­gen, schwar­zen Man­nes, ein Aus­druck von Über­ra­schung, von Ver­wun­de­rung, von Erstau­nen.“ – ::: — „Das ist es!“, sie flüs­tert. „Tref­fer!“- ::: — Jetzt lacht sie, öff­net ihre Fäus­te und das Licht kehrt zurück, der gan­ze Film. “Die Kli­ma­an­la­ge. Der ver­damm­te Wagen dort unterm Baum. Der Wei­ße hat dem Schwar­zen eine küh­le Hand gereicht, Du ver­stehst, eine küh­le Hand. Der Kerl hat­te eis­kal­te Hän­de.” — stop

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nadine gordimer

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10.15 — Lek­tü­re der Erzäh­lung Some­thing out The­re von Nadi­ne Gor­di­mer auf­ge­nom­men. Sofort der Wunsch, in der Elek­tro­sphä­re nach einer Foto­gra­fie des Kari­ba­see zu suchen, weil Mrs. Gor­di­mer vom künst­li­chen Gewäs­ser in der Savan­nen­land­schaft erzählt, von Ele­fan­ten gleich­wohl, die sich in sei­ne Flu­ten stürz­ten, um uralten Wan­der­rou­ten zu fol­gen. — Was haben die ertrin­ken­den Tie­re dort unter dem Was­ser­spie­gel gese­hen? — Wovon haben sie gehört in ihrer letz­ten Lebens­se­kun­de? — Ich lese von der Tie­fe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sol­len, von der Luft­feuch­tig­keit und vom Gewicht der Ele­fan­ten­kör­per, von der Bio­dich­te ihrer Kör­per und von Kul­tu­ren in See­nä­he sie­deln­der Men­schen. Und wäh­rend ich so vor mich hin lese, von Sei­te zu Sei­te, von Link zu Link, ver­geht eine Stun­de Zeit. Plötz­lich erin­ne­re ich mich an Nadi­ne Gor­di­mer und ihr Buch und setz­te mei­ne Lek­tü­re fort. — stop

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ilse aichinger

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5.38 — Es soll jetzt Ton­fil­me geben. — Das war ein rät­sel­haf­ter Satz. Und es war einer von den ganz weni­gen rät­sel­haf­ten Sät­zen der Erwach­se­nen, die mich nicht los­lie­ßen. Eini­ge Jah­re spä­ter, ich ging schon zur Schu­le, sag­te die jüngs­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter, wenn wir an den Sonn­ta­gen zu mei­ner Groß­mutter gin­gen, bei der sie leb­te, fast regel­mä­ßig am spä­ten Nach­mit­tag: > Ich glaub, ich geh jetzt ins Kino. < Sie war Pia­nis­tin, unter­rich­te­te für kur­ze Zeit an der Musik­aka­de­mie in Wien und übte lang und lei­den­schaft­lich, aber sie unter­brach alles, um in ihr Kino zu gehn. Ihr Kino war das Fasan­ki­no. Es war fast immer das Fasan­ki­no, in das sie ging. Sie kam frös­telnd nach Hau­se und erklär­te meis­tens, es hät­te gezo­gen und man kön­ne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasan­ki­no nicht, und sie hol­te sich dort nicht den Tod. Den hol­te sie sich, und der hol­te sie gemein­sam mit mei­ner Groß­mutter im Ver­nich­tungs­la­ger Minsk, in das sie depor­tiert wur­den. Es wäre bes­ser gewe­sen, sie hät­te ihn sich im Fasan­ki­no geholt, denn sie lieb­te es. Aber man hat kei­ne Wahl, was ich nicht nur bezüg­lich des Todes, son­dern auch bezüg­lich der Aus­wahl der Fil­me zuwei­len bedaue­re, wenn mei­ne liebs­ten Fil­me plötz­lich aus den Kino­pro­gram­men ver­schwin­den. Obwohl ich es ger­ne wäre, bin ich lei­der kei­ne Cine­as­tin, son­dern gehe sechs oder sie­ben­mal in den­sel­ben Film, wenn in die­sem Film Schnee fällt oder wenn die Land­schaf­ten von Eng­land oder Neu­eng­land auf­tau­chen oder die von Frank­reich, denen ich fast eben­so zuge­neigt bin. Ilse Aichin­ger : Mitschrift

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