india : 6.22 — Ich kenne einen Mann, der leidenschaftlich gerne Wörter erfindet. Es handelt sich bei diesen Wörtern um Wörter, die vor ihrer Entdeckung in der Wirklichkeit tatsächlich noch nicht existierten. Und weil er sich niemals sicher sein kann, ob das Wort, das gerade erst erfunden worden ist, in der Wirklichkeit tatsächlich noch nicht existiert, verbindet er seinen Computer mit der Suchmaschine Google. Wenn das Wort, das erfunden wurde, in den Verzeichnissen der Suchmaschine nicht zu entdecken ist, kann er sich seiner Sache beinahe sicher sein. Das Wort olimambosa, zum Beispiel, wurde in der vergangenen Woche ins Leben gerufen, ein vollständig neues Wort in der digitalen Sphäre. Vielleicht deshalb, weil der Mann im Moment seiner Erfindung sehr zufrieden mit sich und ein wenig stolz gewesen war, sendete er einen E‑Mailbrief an mich, um mir seine Erfindung zu schenken. Er schrieb, er würde sich verwandt mit mir fühlen, da ich ähnlich vorgehen würde wie er selbst. Für diese Behauptung habe er eine beweiskräftige Spur in meinen Particles-Archiven entdeckt. Dort soll ich am 30. Mai des vergangenen Jahres einen Text veröffentlicht haben unter dem Titel Pseudonym No 5. Tatsächlich, ich hatte den Text beinahe vergessen, wurde folgendes geschrieben: Gestern war das Wetter schön, ich suchte spazierend im Park nach einem Namen für mein Pseudonym No 5. Sobald ich glaubte, einen geeigneten Namen gefunden zu haben, sagte ich ihn laut vor mich hin, ich sagte zum Beispiel: Felix Mayer Kekkola. Als Nachmittag geworden war, gefiel mir dieser Name noch immer, ich hatte Lilli M. Murphy bereits verworfen, auch Kaspar Joe Weidemann und weitere Namen waren gründlich vergessen. Ich notierte den gewählten Namen Felix Mayer Kekkola in mein Notizbuch und ging nach Hause. Es ist seltsam, ich war mit meinem neuen Namen an der Seite stark unruhig bis in den Abend hinein. Ich konnte mir diese Unruhe zunächst nicht erklären, dann hatte ich die Idee, dass ich nachsehen sollte, ob der Name Felix Mayer Kekkola vielleicht im Internet schon längere Zeit existiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der diesen Namen verwendet, um sich zu verbergen und zu veröffentlichen in ein und dem selben Moment. Mehrfach prüfte ich mit Suchmaschinen die Existenz einer Spur. Kein Ergebnis für “Felix Mayer Kekkola” war zu finden. Ich könnte nun also erstens annehmen, dass ein Mensch, der diesen Namen trägt, nicht existiert, was sicher nur sehr vorsichtig formuliert werden darf. Zweitens könnte ich jenen feinen Namen nun für mich besetzen, okkupieren sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen, was in dieser Sekunde genau so geschieht, indem ich meinen Text in die digitale Sphäre sende. – stop
Aus der Wörtersammlung: particles
dampfende ohren
alpha : 6.55 — Ich forsche gern in meinem digitalen Analyseprogramm nach Fragen an Suchmaschinen, die zu meiner Particlesarbeit führten. Merkwürdige, verrückte, poetische Sentenzen sind zu finden. In der vergangenen Woche zum Beispiel folgende: meine schreibmaschine schreibt buchstaben übereinander . kleine rote fliegen in der küche . käfer der auf unserem körper wohnt . lustige geschichten über ohren . ägyptisches frauzeichen mit flügeln . schimpansen im weltall . schlafende elefanten . männer mit kleinen köpfen . ist albert sanchez pinol ein mann . louis’ lichtgeschichte. stop — Über Nacht ist es kalt geworden. An der Straßenbahnhaltestelle beobachte ich einen älteren Herrn, aus dessen Ohren Dampf zu treten scheint. Man könnte sagen, es handelt sich um den ersten rauchenden Kopf, den ich in meinem Leben persönlich gesehen habe. Als ich näher heran trete, erkenne ich, dass sich in den Ohren des dampfenden Herrn je ein Tier befand. Ich fragte, ob ich vielleicht einmal genauer betrachten dürfte, was dort in seinen Ohren existiert. Weil der alte Mann nichts hörte, trug ich mein Anliegen in Zeichensprache vor. Er schien mich zu verstehen und neigte unverzüglich seinen Kopf, so dass ich eine gute Aussicht hatte auf das rechte seiner Ohren. Tatsächlich waren dort Augen und Zangen eines Käfers zu erkennen. Als ich mich näherte, zog sich das Wesen ein wenig in die Tiefe des Ohres zurück, das von weißem flaumigen Haar besetzt war, wie von einem kostbaren Pelz. Der dünne Faden des Käferatems, den ich kurz zuvor beobachtet hatte, war nun gut zu sehen, aber ich konnte nicht eindeutig identifizieren, woher der Atem des Käfers eigentlich kam, wo der Atem, der in der kalten Luft kondensierte, den Käferkörper präzise verließ. Noch ehe ich meine Frage zur Konstruktion des Käfers stellen konnte, war der alte Herr in eine Straßenbahn gestiegen und davongefahren. — Dienstag. — stop.
luftsprache
nordpol : 6.46 — Einmal eine Gebärde erfinden, die das Wort particles vollständig enthält. Eine Berührung der Luft. — stop
mikobeli
alpha : 0.22 — Die Entdeckung des Wortes mikobeli ereignete sich am 20. Dezember des Jahres 2007. Ich machte das so: Zunächst schloss ich die Augen. Dann versuchte ich lauthals Wörter auszusprechen, die ich nie zuvor hörte. Eine nicht ganz leichte Aufgabe. Kurz darauf notierte ich das Wort mikobeli auf ein Blatt Papier und prüfte, ob das Wort in den Verzeichnissen der Googlemaschine bereits enthalten sein könnte. Das war nicht der Fall, ich war zufrieden. Einige Zeit, zwei oder drei Wochen lang, versuchte ich weitere unbekannte und zugleich wohlklingende Wörter zu entdecken, dann hörte ich damit auf. Heute, Dienstag, 4. September 2012 um kurz nach 17 Uhr MESZ, wurde mir das Wort mikobeli wieder in Erinnerung gerufen, in dem ich bemerkte, dass nahe Tiblisi (Georgien) nach genau diesem erfundenen Wort in den Googleverzeichnissen gesucht worden war. Und weil nun das Wort mikobeli in meinem digitalen Schatten zu finden war, durfte ich für wenige Minuten einen Besucher aus dem Kaukasus auf meiner Particles – Seite verzeichnen. Erstaunlich ist, dass das Wort mikobeli von meiner Analysemaschine mittels georgischer Schriftzeichen wiedergegeben wird, fein und weich und vollständig fremd. Irgendein Mensch, stellte ich mir vor, könnte in derselben Art und Weise wie ich das Wort mikobeli erfunden haben und hatte kurz darauf nach Spuren seiner Existenz im Internet gesucht. Eine aufregende Geschichte, die sich tatsächlich genauso ereignete. Bitte melden! — stop
funkköpfe
romeo : 6.22 — Ein kleine Geschichte habe ich rasch zu erzählen. Sie ereignete sich gestern Abend gegen 22 Uhr. Ich war zu diesem Zeitpunkt außerordentlich müde geworden, hatte gerade einen Brief an einen Freund geschrieben, in dem ich von neurochirurgischen Konstruktionsarbeiten in Funkvögelköpfen berichtete, wie ich der Einpflanzung eines Peilsenders beigewohnt hatte genauer, von der Öffnung eines Möwenschädels, sowie ersten Flugsteuerungsversuchen, Abstürzen, aber auch geglückten Flugmanövern, Loopings, über welche sich jene erste unter den ferngesteuerten Möwen selbst vermutlich sehr gewundert haben dürfte. Kaum hatte ich den Brief fertig notiert, klingelte das Telefon. Ich wurde in meiner Konzentration gestört, und zwar genau in dem Moment, da ich die Adresszeile meines E‑Mailprogramms bearbeitete. Schon wars passiert, ich hatte meine E‑Mail versehentlich an das Büro Vladimir Putins geschickt, was nun eigentlich von meiner Position aus nicht sehr gefährlich ist, aber doch unangenehm, weil ich dorthin nicht in persönlicher Weise schreiben wollte, weil man nicht weiß, wer bei Putin in Moskau hereinkommende E‑Mails liest, und ob sie vielleicht übersetzt oder weitergeleitet werden. Interessanterweise beobachte ich nun mittels der Liveversion der Google — Analyticsmaschine, dass meine Particles – Texte seit Stunden von Moskau her betrachtet werden. Da ist ein ziemlich eigenartiges Gefühl, das sich nach und nach entfaltet. Bald früher Morgen. Die Amseln vor dem Fenster pfeifen. Ich habe mir eine Entenbrust gebraten. Sie dampft sehr schön auf einem Teller vor mir auf dem Tisch. Ja, eine wirklich unheimliche Geschichte ist das, die Vögel, die Köpfe, der Kreml. — stop
venenstern
echo : 20.55 — Ein Schatten von Wörtern existiert in der elektrischen Welt, Anfragen der Suchmaschine g o o g l e, die particles mittelbar oder unmittelbar berührten: > Fliege : Mondfisch : Schreibmaschine : Roman Opalka : Kolibri gezeichnet : DNA : Doppelhelix : Trompetenkäfer : Venenstern : Brummkreisel : Geräuschwörter : Pergamenthaut : Chirurg : Pyramidenbahn : > 2345 Begriffe im Monat August. stop. Feuerkäfer. stop. Ich könnte vielleicht sagen, dass Wörter dieser Art Lockstoffen ähnlich sind. Oder Landebahnen. Oder Fliegenfallen. — stop
luftteilchen
romeo : 6.02 — Wie mich das begeistert, Details einer Geschichte nachzudenken, feinsten Teilchen einer Wirklichkeit, die später einmal unsichtbar sein werden in der Zeichenlinie auf Papieren, nur für mich wahrnehmbar im Moment der Erfindung. Ein Duft. Ein Geräusch. Die Farbe der Wolken über einer Landschaft. Oder eine Bewegung. Die Bewegung einer Hand, eines Mundes, einer Schrift. Das Murmeln einer Stimme im Schlaf. Gestern habe ich darüber nachgedacht, welcher Art ein Geschenk sein könnte, das ich mit mir nehmen würde, wenn ich ein befreundetes Ehepaar besuchte in seiner wohlgestalteten Wohnung, die eine menschliche Wohnung ist, aber eben vollständig mit Wasser gefüllt. Ich dachte, dass ich ihnen eine Schmuckschnecke zum Geschenk machen sollte, ein ganz besonderes Exemplar von der Größe einer Hand, das nun über die Wände der unterseeischen Behausung gleiten und musizieren würde, warme, leise pfeifende Geräusche. Diese freundliche Molluske könnte von innen her blau beleuchtet sein, so weit lässt sich das gut denken. Wie aber verpacke ich mein Geschenk, ja, wie zum Teufel lassen sich 2 Pfund Süßwasserschnecke artgerecht verschnüren?
tapetum cellulosum lucidum /// IED EXPLOSION IN BAGHDAD (ZONE X) 2004-01-14 18:40:00 ///
sierra : 22.01 — Knisternde Kälte. Dompfaffen, Rotkehlchen, Grünfinken hängen, zwitschernde Trauben, an Futterbällen im Garten über Schnee. Ich hatte, in dem ich sie beobachtete, die Idee, dass mir bald einmal reflektierende Zellschichten in den Augenhöhlen wachsen könnten, tapetum cellulosum lucidum, hinter den Glaskörpern hinter den Pupillen, Katzenaugenhäute, nicht von der Beobachtung der Natur da draußen im Garten, sondern vom Lesen der Wikileaks – Irak — Protokolle : IED EXPLOSION IN BAGHDAD (ZONE X) 2004-01-14 18:40:00 — IP X REPORTED THAT A GREY X EXPLODED IN A RESIDENTIAL AREA. IPS AND X ELEMENTS WENT TO THE SITE AND FOUND THE EXPLODED CAR. X BROTHERS AND THEIR X CLAIMED THAT SOMEONE ELSE MUST HAVE PUT THE EXPLOSIVES IN THEIR CAR. IZ EOD BELIEVES AN IED WENT OFF PREMATURELY. — UPDATE: DETAINED THE X BROTHERS AND HAVE COORDINATED TO HAVE THE BOMB DOGS GO TO THE HOUSE LATER TODAY. IED TRACKING NUMBER IS X. stop. stop. 390136 Dokumente. stop. Nehmen wir einmal an, ich versuchte Tag für Tag 100 dieser Texte zu lesen und nachzufühlen, was sie bedeuten könnten, Particles, die von Bombenanschlägen, Scharfschützen, Enthauptungen, Feuergefechten, Entführungen berichten, dann würde ich längere als zehn Jahre Zeit in dieser Arbeit verbringen. Inwiefern würde sich bald die Gestalt meines Gehirnes verändert haben, meine Sprache, welcherart wären die Geschichten, die ich noch erzählte?
01001010
echo : 0.02 — Eine Fotografie, die ich lange Zeit vergeblich wiederzufinden suchte, zeigt die Raumstation MIR in großer Höhe über der Erde schwebend. Ich kann mich noch gut an das farbige Bild erinnern, vielleicht deshalb, weil ich mich die Aufnahme tagelang berührte. Ein Bullauge, dort das Gesicht einer Frau, deren Namen ich vergessen habe, ein ernstes Gesicht, Ahnung, Schatten, Züge einer russischen Kosmonautin, die Monate alleine auf der MIR-Station lebte. Sie beobachtet die äußerst behutsame Annäherung eines Raumschiffes der NASA, in dem sich Menschen befinden, die mittels Funk vermutlich bereits Kontakt aufgenommen haben: Wir sehen Dich! — Da war das tiefe Schwarz des Weltalls im Hintergrund, ein absolut tödlich wirkender Raum, der sich zwischen den beiden Raumkörpern erstreckte. Immer wieder einmal in den vergangenen Jahren habe ich mich an das Gesicht der Kosmonautin erinnert, eine Ikone menschlicher Verlorenheit, und insgeheim weiter gezeichnet.
die privatheit der engel
echo : 0.28 – Wovon ich nicht berichtet habe, am Mittwoch bereits ist mir ein Fieberengel zugeflogen. Jetzt kommen sie schon im Oktober angereist, wollen getröstet, wollen unterhalten werden. Der Engel, von dem ich gerade spreche, lungert seit zwei Tagen in meiner nächsten Nähe auf Kissen herum. Ein Anblick, der mich nicht einschlafen lässt, das Beben seines Gefieders, Herbstlaubfarben, die über einen blassen Körper stürmen. Durch hohe Temperaturen, die in seinem Inneren brennen, ist der kleine Engel so matt geworden, dass ich ihn in eine Hand legen, dass ich ihn wiegen konnte. Eine leichte Person, 80 g, sitzt in diesen Minuten, da ich meinen Text notiere auf meiner Schulter links nicht ohne Grund. Ich hatte meine Particlesarbeit betont und dass ich dort von seiner Gegenwart erzählen würde. Man ahnt ja nichts von der Wildheit ihres Wesens. Meinen Namen solltest Du nicht erwähnen! Ich warne Dich, flüsterte der Engel. Er saß im Moment seiner Drohung auf dem Stiel eines Löffels in meiner Küche, steckte die Spitze einer Feder in warmen Honig und dozierte von Geheimnissen, die Engel und Menschen umgeben. Du und ich! So sitzt er also und beobachtet, was ich gerade notiere. Ich weiß, ich könnte, ein Wort zuviel, sofort in Flammen aufgehen, also hör ich besser auf. — Eine halbe Stunde nach Mitternacht, der letzte Tag des Oktobers ist angebrochen. – Gute Nacht!