Aus der Wörtersammlung: schlaf

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zimmer 202

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sier­ra : 18.15 — Ich kann ohne Geräu­sche nicht schla­fen. Ich ver­ste­he die Leu­te nicht, die ein ruhi­ges Zim­mer wol­len. Ich will ja nicht ster­ben, ich will ja nur schla­fen. Ich mag mensch­li­che Geräu­sche. Lie­ber Press­luft­häm­mer, als tota­le Stil­le. Ich kann auch zu Hau­se stun­den­lang auf Kurz­wel­le irgend­ei­ne Fremd­spra­che hören, so als Back­ground. Das ist mit auch ein Grund dafür, dass ich viel in Eisen­bah­nen geschrie­ben habe, weil ich Geräu­sche brau­che. Ich muss einen Rhyth­mus hören. — Peter Bich­sel in der 58. Minu­te des Doku­men­tar­films Zim­mer 202 : Peter Bich­sel in Paris — stop
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PRÄPARIERSAAL : whiteout

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nord­pol : 22.28 – An einem Mor­gen, da es hef­tig schnei­te, erzählt Sil­ja im Prä­pa­rier­saal von einer Erschei­nung, die bei ihr Zuhau­se, in Schwe­den auf dem Lan­de, zur all­täg­li­chen Erfah­rung wer­den kann. Wenn das Schnee­licht unter Wol­ken den Hori­zont ver­birgt, wenn der Ort, an dem man sich befin­det, gren­zen­los zu sein scheint: Das gro­ße Weiß. Auch im Prä­pa­rier­saal, hell beleuch­tet, habe sie immer wie­der beob­ach­tet, ihre eige­ne Posi­ti­on in Raum und Zeit für Momen­te zu ver­lie­ren: > Es ist so hell in die­sem Saal, dass ich manch­mal mei­ne Posi­ti­on in Raum und Zeit für Sekun­den zu ver­lie­ren schei­ne, Schnee­licht, ein Licht, das ich von Schwe­den her ken­ne, das gro­ße Weiß, das den Hori­zont ver­birgt. Ich prä­pa­rie­re an dem Kör­per einer Frau. Ich glau­be, sie ist mir ver­traut gewor­den. Wenn ich mor­gens zu ihr kom­me, habe ich den Ein­druck, sie bereits lan­ge Zeit zu ken­nen. Sie scheint sehr gedul­dig zu sein. Ich weiß nicht, ob Sie das ver­ste­hen. Manch­mal habe ich das Gefühl, dass die­se tote Frau auf uns war­tet. Ich hat­te in den ers­ten Tagen des Prä­pa­rier­kur­ses die Vor­stel­lung, sie wür­de uns zuhö­ren oder schla­fen und träu­men. Und wir bewe­gen uns also behut­sam, als wären wir sehr jun­ge Eltern, die ein uraltes Kind behü­ten. Ist das nicht selt­sam? Ich habe immer wie­der die Emp­fin­dung von Ruhe, von Stil­le, von Schlaf. Ich über­leg­te, was wäre, wenn wir den Kör­per die­ser alten Frau nicht unter­su­chen, nicht zer­le­gen wür­den, son­dern nur sehr sorg­fäl­tig pfle­gen. Wir wür­den dann vie­le Jah­re, Tag für Tag und Mor­gen für Mor­gen, in den Saal kom­men und sie umsor­gen, damit sie uns nicht zer­fällt. Wir wür­den sie vor dem Licht der Son­ne schüt­zen, vor Pil­zen, und wir wür­den sie befeuch­ten, wir wür­den sie davor bewah­ren, zu Staub zu wer­den. Irgend­wann wäre sie dann jün­ger als wir selbst, ich mei­ne, ihre Erschei­nung. Ich fin­de manch­mal sehr merk­wür­dig, dass ich so etwas den­ke. — stop
mikroskop

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lampion

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marim­ba : 2.27 — Man könn­te viel­leicht sagen, dass es sich bei der Gat­tung der Lam­pion­kä­fer um Geschöp­fe han­delt, die bevor­zugt nach innen aus­ge­dacht wor­den sind, wes­halb man an ihrer äuße­ren Gestalt spar­sam zu wir­ken wünsch­te. Man mach­te ihnen Flü­gel, sehr klei­ne, kaum noch sicht­ba­re Flü­gel, die kur­ze Stre­cken des Luft­rei­sens gestat­ten, spar­te dage­gen an Bei­nen, ver­gaß Augen und Füh­ler, auch Ohren sind an ihrem voll­kom­men run­den Kör­per bis­lang nicht zu ent­de­cken gewe­sen. Nie­mand könn­te zu die­sem Zeit­punkt also ernst­haft behaup­ten, an wel­cher Stel­le nun genau der Kopf, also das Vorn des Käfer­we­sens zu fin­den sein könn­te. Meis­tens lie­gen sie dem­zu­fol­ge bewe­gungs­los auf dem Boden her­um, schla­fen viel­leicht oder träu­men. Man kann sie dann leicht über­se­hen, weil sie sehr klein sind und fast licht­los auf den ers­ten Blick. Uner­kannt haben sie in die­ser beschei­de­nen Wei­se bis vor Kur­zem in den Wäl­dern des Kar­wen­del­ge­bir­ges nahe der Baum­gren­ze gelebt, bis ein Stein­samm­ler ihr Geheim­nis unlängst ent­deck­te, in dem er sich mit einem sehr fei­nen Boh­rer ins Inne­re eines der Käfer­kör­per vor­ar­bei­te­te. Lan­ge Stun­den des War­tens, des Küh­lens, des Ban­gens, dann späh­te der jun­ge For­scher in eine voll­stän­dig unbe­kann­te Welt. Seit­her fehlt ihm jede Spra­che. Die Augen weit geöff­net, scheint er zu suchen, nach Sät­zen viel­leicht, nach Wör­tern, nach ange­mes­se­nen Geräu­schen der Bewun­de­rung, der Aner­ken­nung. — Was bleibt noch zu bemer­ken? — Sie sum­men wie die Bie­nen, sobald sie fliegen.

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whiteout

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papa : 5.44 — Vom Regen­was­ser, das ich hör­te, schläf­rig gewor­den, war ich vom Stuhl gefal­len. Ich hat­te, als ich fiel, bereits in der drit­ten Stun­de ver­sucht, eine Tele­fon­num­mer zu erfin­den, die einer wirk­li­chen New Yor­ker Tele­fon­num­mer täu­schend ähn­lich sein wür­de, das heißt, eine Num­mer, die nicht exis­tiert, aber exis­tie­ren könn­te. Eine schwie­ri­ge Geschich­te! Kaum hat­te ich eine Num­mer ent­wor­fen, eine Zah­len­rei­he, die in kei­nem digi­ta­len Ver­zeich­nis auf­zu­fin­den gewe­sen war, ent­deck­te ich, dass eine Stun­de nach der Erfin­dung alle Mühe schon ver­geb­lich gewor­den sein könn­te. Ich müss­te dem­zu­fol­ge eine Num­mer, die Erfin­dung blei­ben muss, reser­vie­ren, also mel­den, eine Num­mer ohne Tele­fon an ihrem Ende, die vir­tu­el­le Beset­zung eines nume­ri­schen Ortes. Vie­le Fra­gen sind offen am Ende die­ser Nacht. Auch die­se fol­gen­de Fra­ge, ob es ehren­voll ist, schla­fen­de Men­schen zu foto­gra­fie­ren? — stop

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alesund

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romeo : 22.58 — Plötz­lich bin ich in Ale­sund am Meer. Mei­ne Arme lie­gen traum­wärts auf einem Tisch von Holz. Bäu­me wach­sen auf ihrer Haut, Regen­wäl­der, dicht. Wenn ich mich mit einem Ohr nähe­re, hör ich das Brül­len der Affen, das Sin­gen der Vögel. Blau­es, ewi­ges Licht. Die Erde steht still. Ein schnee­wei­ßes Schiff glei­tet geräusch­los am Pier vor­über. Eis­ber­ge schau­keln am Hori­zont. Wenn ich sie betrach­te, schla­fe ich auf der Stel­le ein. — stop

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luftteilchen

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romeo : 6.02 — Wie mich das begeis­tert, Details einer Geschich­te nach­zu­den­ken, feins­ten Teil­chen einer Wirk­lich­keit, die spä­ter ein­mal unsicht­bar sein wer­den in der Zei­chen­li­nie auf Papie­ren, nur für mich wahr­nehm­bar im Moment der Erfin­dung. Ein Duft. Ein Geräusch. Die Far­be der Wol­ken über einer Land­schaft. Oder eine Bewe­gung. Die Bewe­gung einer Hand, eines Mun­des, einer Schrift. Das Mur­meln einer Stim­me im Schlaf. Ges­tern habe ich dar­über nach­ge­dacht, wel­cher Art ein Geschenk sein könn­te, das ich mit mir neh­men wür­de, wenn ich ein befreun­de­tes Ehe­paar besuch­te in sei­ner wohl­ge­stal­te­ten Woh­nung, die eine mensch­li­che Woh­nung ist, aber eben voll­stän­dig mit Was­ser gefüllt. Ich dach­te, dass ich ihnen eine Schmuck­schne­cke zum Geschenk machen soll­te, ein ganz beson­de­res Exem­plar von der Grö­ße einer Hand, das nun über die Wän­de der unter­see­ischen Behau­sung glei­ten und musi­zie­ren wür­de, war­me, lei­se pfei­fen­de Geräu­sche. Die­se freund­li­che Mol­lus­ke könn­te von innen her blau beleuch­tet sein, so weit lässt sich das gut den­ken. Wie aber ver­pa­cke ich mein Geschenk, ja, wie zum Teu­fel las­sen sich 2 Pfund Süß­was­ser­schne­cke art­ge­recht ver­schnü­ren? — stop

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an der nachtzeitküste

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gink­go : 6.00 – Flug­ha­fen. Ter­mi­nal 1. Drei Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Ich sto­ße auf Char­lie, 36, Arbei­ter. Der Mann, der in Togo gebo­ren wur­de und lan­ge Zeit dort gelebt hat­te, sitzt unter schla­fen­den Rei­se­men­schen an der Nacht­zeit­küs­te. Er sieht selt­sam aus an die­ser Stel­le, ein Mann, der in sei­nem Leben noch nie mit einem Flug­zeug reis­te, statt­des­sen in Zügen, Bus­sen, Schif­fen durch den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent Rich­tung Euro­pa geflüch­tet war, ja, merk­wür­dig sieht Char­lie aus, wie er so unter schlum­mern­den Nord­ame­ri­ka­nern, Usbe­ken, Chi­le­nen, Japa­nern, Neu­see­län­dern sitzt. Er trägt Sicher­heits­schu­he, ein karier­tes Holz­fäl­ler­hemd und Hosen von kräf­ti­gem Stoff, mit Kat­zen­au­gen besetz­te dun­kel­blaue Bein­klei­der, die in jede Rich­tung reflek­tie­ren. Nein, unsicht­bar ist Char­lie, auch im Dun­keln, sicher nicht. Er macht gera­de Pau­se, trinkt Kaf­fee aus einer schrei­end gel­ben Ther­mos­kan­ne und genießt ein Stück­chen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorg­fäl­tig kaut er vor sich hin, nach­denk­lich, viel­leicht weil er sich auf ein Spiel kon­zen­triert, das er seit Jah­ren bereits an die­ser Stel­le war­tend stu­diert. Char­lie tippt Lot­to. Char­lie ist ein Meis­ter des Lot­to­spiels, Char­lie spielt mit Sys­tem. Er hat noch nie ver­lo­ren. Er hat noch nie ver­lo­ren, weil er noch nie einen wirk­li­chen Cent auf eine der Zah­len­rei­hen setz­te, die er in sei­ne Notiz­bü­cher notiert. Char­lie ist ein beob­ach­ten­der Spie­ler, Vater von fünf Kin­dern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nacht­ar­bei­ter ist. Wenn ich mich neben ihn set­ze und ihm zuse­he, wie er mit einem roten Kugel­schrei­ber Zah­len­ko­lon­nen in sei­ne Hef­te notiert, freut er sich, macht eine klei­ne Pau­se, erkun­digt sich nach mei­nem Befin­den, und schon schreibt er wei­ter, ana­ly­siert, rech­net, sucht nach einer For­mel, die sei­ne Fami­lie zu einer rei­chen Fami­lie machen wird. Ein­mal fra­ge ich Char­lie, ob er noch Brie­fe schrei­ben wür­de an sei­ne Eltern in Lomé. Ja, sagt Char­lie, jede Woche schrei­be er einen Brief an sei­ne Eltern, die am Meer leben, am Atlan­tik näm­lich. Ein ander­mal will ich wis­sen, war­um er nicht einen Com­pu­ter ein­set­zen wür­de, um viel­leicht schnel­ler fin­den zu kön­nen, was er sucht. Char­lie lacht, sieht mich an durch kräf­ti­ge Glä­ser einer Bril­le, sagt, dass er wis­se, wie bedeu­tend Com­pu­ter sei­en für die Welt, in der wir leben, sei­ne Kin­der spiel­ten mit die­sen Maschi­nen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er wei­ter. Eine ruhi­ge, kla­re Schrift. Rote Zei­chen. In die­sem Moment begrei­fe ich, dass ich einer Beschwö­rung bei­woh­ne, einem Gebet, Male­rei, einer Kom­po­si­ti­on, der all­mäh­li­chen Ver­fer­ti­gung der Idee beim Schrei­ben. Her­mann Bur­ger — stop
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kairobildschirm

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sier­ra : 0.05 — Wie sich eine Wel­le vom Strand zurück­zieht, ent­zie­hen sich die Geräu­sche des Tages nacht­wärts den Stra­ßen. Viel­leicht ist die Stun­de von 2 bis 3 Uhr die Stun­de der lei­ses­ten Geräu­sche, oder aber jene Stun­de von 3 bis 4 Uhr, da die Her­zen der Schla­fen­den so vor­sich­tig schla­gen, dass man sie zur Sicher­heit wecken möch­te. — stop. — Nach­mit­ter­nacht­stun­den in Kai­ro, Ägyp­ten. monasosh via twit­ter for black­ber­ry : > 2 mins away from the squa­re. U? — Com­mon ppl, be nice, atleast give us a chan­ce to feel hap­py abt the pos­si­bi­li­ty of him step­ping down even if the batt­le isn’t over yet. — BREAKING: New Face­book upgrade opti­on is cal­led Muba­rak. You click on quit and not­hing hap­pens. — enta fi helio­po­lis? How many r u? — chants, ever­y­thing is peaceful. — A group of pro­tes­ters mar­ched to the pre­se­den­ti­al palace in Helio­po­lis. All is peaceful & they r spen­ding the night the­re. — I am her­ein­front of TV buil­ding, a lot of ppl r still in Tah­r­ir, may­be no one tweeting :) — Ppl are chan­ting “here are the liars” while poin­ting at ppl loo­king at us from the TV buil­ding. — Ama­zing ener­gy, ppl just seem to recy­cle their anger into posi­ti­ve blasts of ener­gy. Chants and drums & whist­les all over.

 

 

interview
tahrir square februar 2011
kurz vor ausbruch staatlicher gewalt
gegen aktivisten/innen auf dem platz
source : zero silence project

 

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nord­pol : 16.15 — Die Welt der gro­ßen Kof­fer, die Welt der grund­sätz­li­chen Dis­kur­se kommt in Bewe­gung. Das Ver­mö­gen, lesen und schrei­ben zu kön­nen, die Frei­heit des Den­kens, Spre­chens, Glau­bens, Brot und Zucker­prei­se, Kor­rup­ti­on, Selbst­be­stim­mung, die Glaub­wür­dig­keit west­li­cher Poli­tik, west­li­cher Kul­tur. Auf dem Tah­r­ir-Platz wird getanzt, man betet, man fei­ert Hoch­zeit, man reicht Was­ser, ver­sorgt Wun­den, bewacht den Schlaf der Schla­fen­den. Bedeu­ten­des geschieht. stop. Eine Wel­le. stop. Zuhö­ren. stop. Ler­nen. — stop

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