marimba : 12.15 UTC — Ein Schulmädchen zeigte mir heute im Zug ihre Nase. Sie hatte vielleicht beobachtet, wie ich meine Schutzmaske um meine eigene Nase herum heftig knetete, damit alles schön dicht sei. Kurz darauf musste ich niesen und schon war die Maske wiederum verrutscht. Ich machte ein ernstes Gesicht, da zog das Mädchen ihre Maske herunter, weiss der Himmel warum, vermutlich, um mich zu ärgern. In diesem Augenblick dachte ich an einen Besuch auf Ellis Island. Ein schwülwarmer Tag, Gewitter waren aufgezogen, der Himmel über Manhattan bleigrau. Trotzdem fuhren kleine weiße Schiffe von Battery Park aus los, um Besucher auf die frühere Quarantäneinsel zu transportieren. Ehe man an Bord gehen konnte, wurde jeder Passagier sorgfältig durchsucht, Taschen, Schuhe, Computer, Fotoapparate. Ein griechischer Herr von hohem Alter musste mehrfach durch die Strahlenschleuse treten, weil das Gerät Metall alarmierte. Er schwitzte, er machte den Eindruck, dass er sich vor sich selbst zu fürchten begann, auch seine Familie schien von der ernsten Prozedur derart beeindruckt gewesen zu sein, dass ihnen ihr geliebter Großvater unheimlich wurde. Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten. Es begann heftig zu regnen, das Wasser wurde grau wie der Himmel, Pusteln, Tausende, blinkten auf der Oberfläche des Meeres. Im Cafe des Einwanderermuseums kämpften hunderte Menschen um frittierte Kartoffeln, gebratene Hühnervögel, Himbeereis, Sahne, Bonbons. Ihre Beute wurde in den Garten getragen. Dort Sonnenschirme, die der Wind, der vom Atlantik her wehte, davon zu tragen drohte. Am Ufer eine herrenlose Drehorgel, die vor sich hindudelte, Fahnen knallten in der Luft. Über den sandigen Boden vor dem Zentralhaus tanzten handtellergroße Wirbel von Luft, hier, genau an dieser Stelle, könnte Mary Mallon im Alter von 15 Jahren am 12. Juni 1895 sich ihre Füße vertreten haben, ehe sie mit Typhus im Blut nach Manhattan einreisen durfte. Ihr Schatten an diesem Tag in meinen Gedanken. Ein weiteres Gewitter ging über Insel und Schiffe nieder, in Sekunden leerte sich der Park. Dann kamen die Möwen, große Möwen, gelbe Augen, sie raubten von den Tischen, was sie mit sich nehmen konnten. Wie ein Sturm gefiederter Körper stürzten sie vom Himmel, es regnete Knochen, Servietten, Bestecke. Unter einem Tisch kauerte ein Mädchen, die Augen fest geschlossen. – stop / koffertext
Aus der Wörtersammlung: schuhe
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 15, Luftfahrt — 8, Automobile — 33 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 55, 19. Jahrhundert – 16, 20. Jahrhundert – 423, 21. Jahrhundert — 6506 ], Trolleykoffer [ blau : 2, rot : 88, gelb : 53, schwarz : 702 ], Seenotrettungswesten [ 1409 ], physical memories [ bespielt — 453, gelöscht : 876 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 1256 ], 5 hölzerne Damenhandtaschen [ Baujahr 1968 ], Brummkreisel : 1, Öle [ 0.65 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 5, Kniegelenke – 3, Hüftkugeln – 16, Brillen – 432 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 11, Größen 38 — 45 : 88 ], Plastiksandalen [ 1453 ], Reisedokumente [ 22 ], Kühlschränke [ 3 ], Telefone [ 88 ], Stethoskope [ 18 ], Puppenköpfe [ 18 ] Masken [ 358 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 16 ], Engelszungen [ 1758 ] | stop |
im quarantänegarten
echo : 20.25 UTC — Der Wind fuhr heut mit einem Regenkamm übers Dach. Ich dachte an das Haus im Süden wo Mutter und Vater nicht mehr sind. Wie seltsam doch die Betrachtung der Kleider verschwundener Menschen. Schuhe. Halstücher. Hemden. Schmuck. Und der Garten, wie er wild wird, sobald man nicht immerzu an ihn denkt. Ein Teich, der weniger zu werden droht vom Schilf, von den Schneckenpanzern, vom Laub, von den Häuten der Libellenlarven. Wie viel die alten Menschen noch gearbeitet haben in ihrem hohen Alter wird hier unter den Bäumen sichtbar. Ihre Schuhe, ich fotografierte Schuhe. In einer Handtasche entdeckte ich Reiseproviant, Mutters Müsliriegel, Traubenzucker, Tempotaschentücher, Prospekte, einen Regenschirm, ein Halstuch, einen Lippenstift. Der Schmerz, der mir wie ein Blitz durch den Körper fährt, sobald ich daran denke, dass ich die alte Dame in ihrem Bett liegend nie wieder besuchen kann. — stop
missing flamingos
sierra : 22.58 — Sanfte Frauenstimme spricht: Achtung! Halten Sie 1 Meter 50 Abstand. Meiden Sie Menschenansammlungen! In der Halle indessen kein Mensch zu sehen, kein Koffer, kein Hund, keine Katze, aber Mäuse, ein gutes Dutzend Mäuse, die über den spiegelnden Marmorboden flitzten, als hätten sie Schlittschuhe an ihren Füßen. Ich war die einzige menschliche Person an einem Ort, der vermutlich nie ohne Menschen gewesen ist. Ich erinnere mich, selbst inmitten der Nacht habe ich im Terminal immerzu flüsternde Menschen wahrgenommen, auch Schlafende auf Sitzbänken oder Stühlen der Cafés. Nun war Stille, kein Traum wurde erzählt. Selten einmal das Geräusch sich bewegender Zeichen auf einer Anzeigetafel. Aus Neuseeland kommend sollte Minuten später ein Flugzeug landen, ein Hinweis wie ein letzter Reflex. Jene über den spiegelnden Boden dahin gleitenden Mäuse jedoch, unbeirrt, ob sie sich wunderten über diese eine wartende Person im Saal, die ich selbst gewesen war in einem Moment des Notierens auf meiner flachen Schreibmaschine? Wie ich sie vermisste, Stehschläfer, meine Stehschläfer, welche nicht Vögel sind, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer, die Menschen sind, gegenwärtige Personen, die sich, sollten sie einmal zurückkehren, genau so verhalten werden, wie das Wort, das sie bezeichnet: Sie schlafen im Stehen. — stop
kreisgang
lima : 2.52 — In Genf, nahe einer Straßenkreuzung von der Rue de Rhone zur Rue d’Italie, waren seltsame Dinge zu bemerken. Männer und Frauen nämlich, die sich kreisend oder auf und ab über das Pflaster bewegten, während sie das Grünlicht der Ampeln erwarteten. Bei genauerer Betrachtung mochte man meinen, sie könnten vielleicht nicht in der Lage sein, stillzustehen. Sie trugen Damenkostüme, Herrenanzüge, feine Schuhe, waren vermutlich gerade aus dem Büro gekommen, befanden sich auf dem Weg vielleicht nach Hause, zur Busstation nach Ferney oder ins Kino, ins Theater, zum Jazz. Die Sonne schien, erste warme Stunden. Aber, so dachte ich, auch an einem eiskalten Tag im Winter würden sie sich genau so bewegt haben, in Kreisen oder auf und ab. Ein neue Zeit ist angebrochen. Man nimmt jetzt nur noch selten den Aufzug, man nimmt die Treppe, stets der Blick hin zum Handgelenk, zur Apparatur, die Pulse, Temperaturen, und auch den Schlaf auszumessen vermag. Und noch einen Kreis gleich hinterher und über die Strasse, wie viele Schritte, wie viele Schritte heute, wie viele Schritte mehr als gestern, wie weit bin ich gekommen in diesem Monat, vielleicht bis nach Chambéry, vor dem Sommer noch könnt ich Montpellier erreichen, im Winter Valencia, am Ende des kommenden Jahres werde ich in Essaouira sein. – Einmal war 2 Uhr und 44 Minuten in der Nacht gewesen. Ich beobachtete meinen Kaktus wie er blühte. Wenn mein Kaktus blüht, hält er seine Blüte auch bei Nacht geöffnet, als ob er ahnte oder wüsste, dass in meinen Zimmern Nachtbienen und Nachtwinde wohnen. — stop
mundsegel
alpha : 3.15 UTC — Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Ich beobachtete am Flughafen eine Frau wie sie im Supermarkt Früchte berührte. Ihre Hände steckten in Plastikhandschuhen, sie trug eine Brille, die sehr groß ausgefallen war, und einen papierenen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem blähte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Hände bewegten sich hastig, zwei Äpfel, einen Pfirsich, drei Bananen legte sie in ihr Körbchen ab, dann eilte sie weiter sofort zur Kasse, wo sie warten musste. Sie wirkte seltsam verloren, kaum jemand schien sie zu beachten. Sie stand in der Schlange, unruhig, eine Erscheinung, als wäre sie versehentlich viel zu früh an einem Zeitort angekommen, der noch nicht bereit war, sie aufzunehmen. Plötzlich stellte sie das Körbchen, das sie auf ihrem Rollkoffer balancierte, auf den Boden ab und flüchtete. — Das ist doch seltsam, dachte ich heute bald sechs Jahre später. Dieser Text wurde bereits am 14. Oktober 2014 von mir selbst notiert. Ich hatte ihn verlegt. Das papierene Segel erinnerte mich. — stop
reisende pinguine
nordpol : 20.01 UTC — Lese in Louis Kekkola’s Eisbuch Jennifer.Five. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends, Vögel pfeifen. In diesem Moment trage ich Handschuhe. Ich habe mein Tonbandgerät angeschaltet und spreche leise, indem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen halte. Kaum habe ich eine Seite abgetastet, schließe ich den Kühlschrank, gehe in der Wohnung spazieren und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Dann kehre ich zurück und lese mit dampfendem Atem weiter. Höre in diesen Minuten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekunden Zeit erteilt, um das Buch ungestüm warmer Heizluft auszusetzen. Auf Seite 52 entdecke ich Louis Kekkola’s Notiz über 22 Pinguine, die nordwärts reisten in Flugzeugen in hölzernen Behältern, um auf Grönland weiterzuleben. Sie sollen dort das Nordlicht ( Aurora borealis ) studíeren. — stop
am telefon
ulysses : 18.05 UTC — L. berichtet, er habe mit seiner Mutter telefoniert, die in Russland lebe nahe der Stadt Irkutsk. Das war an einem Sonntagnachmittag sibirischer Ortszeit. Die Stimme seiner Mutter sei gut zu vernehmen gewesen. Er habe zunächst drei Telefonnummern gewählt, eine Nummer nach der anderen Nummer, dann auf die Stimme seiner Mutter gewartet. Seine Mutter habe ihn gefragt, wie es ihm gehe. Dann habe sie ihm erzählt, dass es schon geschneit habe, und dass sein Päckchen angekommen sei, alles sei drin gewesen im Päckchen genauso wie er es beschrieben hatte, Schuhe und Schokolade aus Belgien und Hartkäse aus Luxemburg. L. freute sich und lauschte der Stimme seiner Mutter, die vertraut war, weil er sehr oft mit ihr sprechen kann, dann meinte er ein knisterndes Geräusch am Telefon vernommen zu haben, da erzählte ihm seine Mutter, dass es schon geschneit habe, und dass sein Päckchen angekommen sei, alles sei drin gewesen im Päckchen wie er es beschrieben hatte, Schuhe und Schokolade aus Belgien und Hartkäse aus Luxemburg. Und wieder knisterte es im Telefonhörer, und seine Mutter erzählte, dass es schon geschneit habe, und dass sein Päckchen angekommen sei, alles sei drin gewesen im Päckchen wie er es beschrieben hatte, Schuhe und Schokolade aus Belgien und Hartkäse aus Luxemburg. Das war schon sehr merkwürdig gewesen und Sonntag. — stop
nahe aleppo
echo : 21.11 UTC — Der Wagen schaukelte vor sich hin wie ein Schiff im Sturm auf hoher See. Das war gewesen als Mutter versuchte im Laufschritt eine Straße zu überqueren. Auch der Himmel schaukelte und das hölzerne Spiel, das vor meinen Augen angebracht worden war, damit ich das Greifen und Fangen übte. Kaum hatten wir die Straße überquert, sortierte ich mein Bett im Wagen, meine Rassel, meinen Teddybär, meine Handschuhe und Decke. Ein Winterbild. Auch immer wieder Gesichter, die näher kamen, um in mein schaukelndes Zimmer zu spähen. Und Hände, die mich neckten, fremde Finger. Manchmal schlief ich ein, weil ich mich gut und sicher fühlte. Ich war vielleicht zwei Jahre alt. Eine Fotografie existiert vom Kinderwagen und mir, eine Hand, ich erinnere mich, ist zu sehen, die aus dem Verdeck greift, das sich über meinem Köpfchen wölbte, als wollte sie etwas fangen in der Luft oder die Luft selbst. — Vor wenigen Minuten noch habe ich bewegte Bilder von Kindern gesehen, die nahe Aleppo blutend in einem Krankenhaus auf einer Bahre ruhten. Die Kinder weinten nicht. Ihre Arme und Hände ohne Bewegung, aber ihre Augen. Sie waren nah auf dem Bildschirm meiner Fernsehmaschine. Ich hörte klagende Stimmen aus dem Off, von dort wohin mein Bildschirm nicht reichte . — stop
im windhaus brillen
india : 15.12 UTC — Im Haus meiner Eltern habe ich 18 Brillen entdeckt. Sie waren geputzt. Da und dort ein Fingerabdruck. 4 Brillen für die Welt. 14 Brillen für Bücher und Zeitung. Brillen wie Schuhe und Hüte, sehr nah wie von Zeitfäden an meine Tage genäht. — stop