Aus der Wörtersammlung: stunde

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liu xiaobo und liu xia

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del­ta : 0.02 – Mit­ter­nacht vor­über. Gleich, in weni­gen Minu­ten, wer­de ich das Haus ver­las­sen und ein wenig spa­zie­ren gehen, rüber zu den Wäch­tern, die vor dem Frank­fur­ter Mes­se­turm Stän­de anti­qua­ri­scher Bücher umsor­gen. Viel­leicht haben sie schon offe­nes Feu­er in einer Ton­ne ent­zün­det. — Wie gut die Luft heut riecht! — Gebra­te­ne Tau­ben segeln durch die Nacht und die Stra­ßen­bah­nen fah­ren jen­seits der Glei­se, wie sie wol­len. Es schneit, aber es schneit rück­wärts, der Schnee fällt zum Him­mel hin­auf. Eine gute Stun­de ist das, Schritt für Schritt im Kreis her­um­zu­lau­fen und an jene Men­schen zu den­ken, die nicht anwe­send sind, weil sie nicht anwe­send sein kön­nen, weil sie ver­haf­tet oder weil sie in ihren Häu­sern arre­tiert wor­den sind. — stop
lliiuu

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déjà vu

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gink­go : 1.28 – Wie sich die Din­ge wie­der­ho­len. Okto­ber. Ich hat­te vor einer Stun­de noch mei­ne Fens­ter weit geöff­net. Kurz dar­auf segel­te ein Nacht­fal­ter durchs Arbeits­zim­mer. Das Tier war so müde und so schwach, dass es nach­gab und sich der Luft anver­trau­te. Bald hock­te der Fal­ter auf dem Boden. Ich hob ihn auf und setz­te ihn behut­sam an eine Wand. Er scheint in die­ser Minu­te zufrie­den, wenn nicht glück­lich zu sein. Ein paar Dioden­lich­ter glü­hen zu mir her­über. Ob ich den Fal­ter nicht viel­leicht füt­tern soll­te, über den Win­ter brin­gen? Er könn­te 250 Jah­re alt, er könn­te ein Lich­ten­berg­fal­ter sein. stop. Ein Déjà-vu. stop. Noch zu tun: stop. Nach ana­to­mi­schen Geräu­schwör­tern lau­schen. stop. Tsching. Tsching. — stop

ping

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situs inversus / apsis 5

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tan­go : 8.58 – Frü­her Mor­gen. Eine Nacht schwe­rer Arbeit liegt hin­ter mir. Ich hat­te ges­tern noch einer Freun­din, deren Vater gera­de gestor­ben ist, wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges von mei­ner Suche nach Rhei­ne­le­fan­ten erzählt. Wie ich auf und ab fah­re, Stun­de um Stun­de mit dem Zug zwi­schen Bin­gen und Koblenz, die Kame­ra gezückt. Und wie sie in ihrer Trau­er doch für einen Moment herz­haft lach­te. Dann sit­ze ich vor dem Schreib­tisch und habe par­tout kein Ver­lan­gen nach ana­to­mi­schen Din­gen. Dem ent­ge­gen men­schen­lee­re Sze­nen wei­ter gele­sen. Ich leh­ne an einer Wand des Präpariersaal’s. Irgend­wo klap­pert ein Stück Metall, nichts wei­ter ist zu hören. Oder doch viel­leicht ein schim­mern­des Geräusch in mei­nem Kopf, lei­se, lei­se. Jen­seits der Fens­ter hüp­fen Vögel in den Bäu­men, Bewe­gung, die anzeigt, dass ich weder vor einem Gemäl­de noch vor einer Foto­gra­fie Platz genom­men habe, dass ich mich von der Wand lösen und zu einem der Tische wan­dern könn­te, etwas ver­än­dern, den Fal­ten­wurf einer Decke viel­leicht, oder eine Sei­te umblät­tern in einem ana­to­mi­schen Atlas, der im Saal zurück­ge­las­sen wur­de. Ich soll­te ein Stück Krei­de in die Hand neh­men und auf eine Tafel schrei­ben: Situs inver­sus / Apsis 5 Tisch 82
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djuna barnes

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tan­go : 6.38 – Mit Blit­zen, die Him­mel und Erde ver­bin­den, ist das so eine Sache. Man hört sie nicht kom­men. Sie sind immer Erin­ne­rung, nie Ereig­nis, haar­fei­ne Dampf­luft­röh­ren, die Erschei­nung erzeu­gen. Unlängst, wäh­rend ich im Regen spa­zier­te, muss ich von einem Blitz die­ser Art getrof­fen wor­den sein, weil ich kurz dar­auf auf einer Roll­trep­pe Dju­na Bar­nes gesich­tet habe. Sie fuhr nach unten, ich nach oben. Ein fas­zi­nie­ren­der Anblick. Da waren ein Paar hel­ler, ele­gan­ter Schu­he, ein dun­kel­grü­nes, ver­we­gen geschnit­te­nes Kleid, wei­ter­hin ein blau­er Som­mer­hut. Die­ser Hut nun brann­te lich­ter­loh auf ihrem Kopf. Eine Art Feu­er war das gewe­sen, das ölig ruß­te, und als sie nahe her­an­ge­kom­men war, auf glei­che Höhe unge­fähr, Ruß auch auf ihrer Nase. Dann wach­te ich auf und hör­te noch, wie ich zu mir sag­te: Es reg­net. – Die­se klei­ne Geschich­te ereig­ne­te sich vor etwa einer Stun­de. Gera­de eben wird es hell und es reg­net tat­säch­lich, wes­halb ich im Moment nicht ganz sicher bin, wo ich mich eigent­lich befin­de. — stop

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blaue kamele

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tan­go : 3.28 – Wie wir auf den Schul­tern unse­res Vaters durch die Welt schau­kel­ten, als säßen wir auf dem Rücken eines Dro­me­dars, das die mensch­li­che Spra­che spre­chen konn­te. Wie er uns das Licht erklär­te, die Geschwin­dig­keit und die Zeit, die das Licht unter­wegs gewe­sen war, um zu uns zu kom­men. Sei­ne gro­ßen Schu­he, in wel­chen wir durch den Gar­ten segel­ten. Und Gene Krup­pa, Drum­mer­man, dort, noch lan­ge vor unse­rer Zeit, Vater, mit Schlips im Anzug als jun­ger Mann. Heu­te Nacht erzäh­len wir uns Geschich­ten. Und schon ist es kurz nach zwei Uhr gewor­den. Ich habe ganz heim­lich mei­ne Schreib­ma­schi­ne ange­schal­tet, um eine wei­te­re klei­ne Geschich­te auf­zu­schrei­ben, weil Geschich­ten auf Papier oder Geschich­ten, die man von einem Bild­schirm lesen kann, wie alle ande­ren Geschich­ten als lei­se beten­de Stim­men zu ver­neh­men sind. Die­se Geschich­te nun geht so. Immer an Frei­ta­gen, ich war fünf oder sechs Jah­re alt gewe­sen war, brach­te mein Vater aus dem Insti­tut, in dem er als Phy­si­ker arbei­te­te, Kar­ten mit nach Hau­se, die ich bema­len durf­te, Com­pu­ter­loch­kar­ten, kräf­ti­ge, beige Papie­re, in wel­chen sich selt­sa­me Löcher befan­den. Die­se Löcher waren nie­mals an der­sel­ben Stel­le zu fin­den, und ich erin­ne­re mich, dass ich mich über ihr Ver­hal­ten hef­tig wun­der­te. Ich war zu jener Zeit ein begeis­ter­ter Maler, ich mal­te mit Wachs­krei­de und ich mal­te in allen Far­ben, über die ich ver­fü­gen konn­te, weil ich das Bunt­sein schon immer moch­te. Ich mal­te blaue Kame­le und schwar­ze Blu­men und rote Mon­de. Ein­mal frag­te ich mei­nen Vater, was jene Löcher bedeu­te­ten, über deren Exis­tenz ich mich freu­te, weil sie ver­steck­te Bil­der zeig­ten, die ich so lan­ge such­te, bis ich sie gefun­den hat­te. Hör zu, sag­te mein Vater. — stop
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sprechgeräusche

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gink­go : 2.15 – Etwas Selt­sa­mes ist gesche­hen. Bin ges­tern Abend im Gar­ten ein­ge­schla­fen, obwohl ich in einem äußerst span­nen­den Buch geblät­tert hat­te. Viel­leicht war’s die schwe­re, war­me Luft oder eine schlaf­lo­se Nacht der ver­gan­ge­nen Jah­re, die rasch noch nach­ge­holt wer­den muss­te. So oder so schlief ich eine Stun­de tief und fest im Gras und wäre ver­mut­lich bis zum frü­hen Mor­gen hin in die­ser Wei­se anwe­send und abwe­send zur glei­chen Zeit auf dem Boden gele­gen, wenn ich nicht sanft von einer nacht­wan­deln­den Amei­se geweckt wor­den wäre. Kaum hat­te ich die Augen geöff­net, war ich schon mit einer Fra­ge beschäf­tigt, die ich erst weni­ge Stun­den zuvor ent­deckt hat­te, mit der Fra­ge näm­lich, wie Tief­see­ele­fan­ten hören, was sie mit­ein­an­der spre­chen, da doch die Sprech­ge­räu­sche ihrer Rüs­sel sehr weit von ihren Ohren ent­fernt jen­seits der Was­ser­ober­flä­che zur Welt kom­men und rasch in alle Him­mels­rich­tun­gen ver­schwin­den. Eine dif­fi­zi­le Fra­ge, eine Fra­ge, auf die ich bis­her viel­leicht des­halb kei­ne Ant­wort gefun­den habe, weil ich eine Ant­wort nur im Schlaf fin­den kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Fan­gen wir an. – stop – Drei Uhr und zwölf Minu­ten in Isfa­han, Iran. – stop
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lichtforscher

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echo

~ : louis
to : Mr. jona­than noe kekkola
sub­ject : TRAUMLICHT

Lie­ber Mr. Kek­ko­la, ahoi! Was machen Sie denn so? Seit Tagen kei­ne Nach­richt aus der Wild­nis. Sind Sie noch am Leben oder wur­den Sie bereits heim­lich von Bären gefres­sen? Ver­mut­lich haben Ihnen lüs­ter­ne Flie­gen der­art zuge­setzt, dass Sie kaum noch aus den Augen sehen kön­nen. Hör­te, küh­len­de Moo­se, sol­len hel­fen, dass Sie wie­der in die Welt hin­aus schau­en und mir schrei­ben wer­den. Nach einer klei­nen Rei­se süd­wärts wird nun wie­der über Tief­see­ele­fan­ten nach­ge­dacht. Das ist schon selt­sam, wenn ich Stun­den an ein und die­sel­be Sache den­ke, dann wird sie so ver­traut, dass ich sie mit mir ins Bett neh­men kann, ich mei­ne, ich träu­me, ich träu­me, mein lie­ber Kek­ko­la, mit Ele­fan­ten über atlan­ti­schen Tief­see­bo­den zu spa­zie­ren. Erin­ne­re mich gera­de an einen For­scher des Lichts. Wenn Du einem Pro­blem, einer Idee, einer Spur wirk­lich nahe kom­men willst, sag­te mein Vater, dann musst Du so inten­siv dar­an arbei­ten, dass Du nachts im Schlaf nicht davon ablas­sen kannst. Das hab ich nun also gemacht. Ich betrach­te­te fünf­tau­send Meter lan­ge Rüs­sel und Pater­nos­ter­auf­zü­ge, die es bei Ihnen in Ame­ri­ka nicht gibt, aber bei uns in Euro­pa, end­los dahin­fah­ren­de Kof­fer ohne Deckel, in die man ein­stei­gen kann, ein­stei­gen wie jene Luft, die Tief­see­ele­fan­ten in klei­nen Pake­ten atmen, Mee­res­win­de in Beu­teln von Haut. Die fah­ren dann per­lend abwärts, ein Beu­tel nach dem ande­ren Beu­tel, zur Lun­ge hin, die rie­sig ist und rosa und kühl, wie das Moos, von dem ich Ihnen erzähl­te. Mein lie­ber Kek­ko­la, was hal­ten Sie davon? Schrei­ben Sie mir, sobald Sie wie­der schrei­ben kön­nen, ja, schrei­ben Sie mir! Ich komm Sie sonst holen! Ihr Louis.

gesen­det am
20.08.2009
5.32 MESZ
1650 zeichen

lou­is to jonathan
noe kekkola »

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ohrwesen

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romeo : 0.08 – Kurz nach Mit­ter­nacht. Leich­ter Regen, aber nur als Vor­stel­lung, als Übung, als Suche in den Maga­zi­nen mei­nes Gehörs. Plötz­lich erin­ner­te ich mich, ein­mal heim­lich ein Ohr aus nächs­ter Nähe beob­ach­tet zu haben, ein Wun­der der Schöp­fung. Ich betrach­te­te die­ses Ohr so lie­be­voll und so lan­ge Zeit, dass ich bald etwas ganz ande­res in ihm sehen woll­te, als eine hal­be Stun­de noch zuvor, ein Wesen näm­lich ganz für sich. Der Gedan­ke, ich könn­te jeder­zeit ein schla­fen­des Ohr mit mei­nem Blick berüh­ren, ohne dass es davon wach wer­den wür­de, fas­zi­niert mich außer­or­dent­lich. Wenn ich aber sagen wür­de, lei­se, lei­se: Du bist wun­der­schön, dann wür­de das Ohr mich viel­leicht anse­hen, ein noch halb­wegs träu­men­des Auge von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de, und ein Mund, ein Mund, der lächelt. — Gute Nacht.
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abendsegeln

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echo : 0.01 — Der Ver­such, im Gar­ten die Däm­me­rung des Abends mit mei­nen Augen, also mit mei­nem Gehirn zu begrei­fen. Es ist wie­der ein­mal son­der­bar, ich habe einen Kno­ten in mei­nem Kopf. Immer genau dann, wenn ich sagen woll­te: Schau her, vor einer Sekun­de ist es ein wenig dunk­ler gewor­den, war ich mir nicht sicher, ob ich nicht irr­te, weil ich das Dun­kel­wer­den nicht eigent­lich gese­hen, son­dern viel­mehr gefühlt oder ange­nom­men hat­te. Ein­mal schloss ich mei­ne Augen für zwei Minu­ten und hoff­te ver­geb­lich, mir das Licht­bild mer­ken zu kön­nen, das ich zuletzt gese­hen hat­te. Und doch habe ich eine fei­ne Ent­de­ckung gemacht. Sobald ich im Dun­keln mein Gehirn mit mei­nen Lidern bede­cke, wird das Dun­kel hel­ler. Ich muss das im Auge behal­ten! — stop

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südpol

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nord­pol : 22.50 — Ges­tern, abends kurz nach Acht, wur­de mir das ers­te Eis­buch mei­nes Lebens zuge­stellt. Fol­gen­des, beglei­tend, war notiert: Das Wal­fisch­or­ches­ter. Eine Novel­le von Lou­is Kek­ko­la. 102 Sei­ten. 22.85 £. Halt­bar bei minus 5° C bis Dezem­ber 2012. Hoch­ach­tungs­voll ∼ Marks & Com­pa­ny, 84. Cha­ring Cross Road. Lon­don. / Zwei Stun­den lang, ein Tiger, vor dem Kühl­schrank auf und ab. — stop

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