lima : 3.02 – Gestern, Sonntag, um 10 Uhr und 42 Minuten MESZ, bin ich zu einem Vogelwesen geworden, weil mir eine Nordländerin schrieb, ich sei genau das, ein Vogel, ein Nachtvogel präzise. — Wie nun sind die Bedingungen, zunächst in meinen Zimmern herum oder auf der Straße vor dem Haus auf und abfliegen zu können?
Aus der Wörtersammlung: stunde
speed
lima : 0.01 — Ich hörte im Radio, ein Mann aus Jamaika sei eine Strecke von 100 Metern in 9.69 Sekunden gelaufen. Sofort setzte ich mich vor das Fernsehgerät und beobachtete diesen Mann, von dem ich gehörte hatte, und ich dachte, dass ich ihn gerne einmal berühren würde, abklopfen, oder mein Ohr auf einen seiner Oberschenkel legen und lauschen.
vögel
echo : 6.05 — Eine Frau, sehr alt, sitzt in einem verwüsteten Zimmer auf dem Boden. Ihr Gesicht ist verletzt, das linke Auge erblindet, eine tiefblaue, geschwollene Wunde. Dann ist eine Straße zu sehen. Automobile fahren im Schritttempo schwer bepackt nach Norden oder Süden. Ein Hubschrauber der russischen Armee jagt über diese Straße hin, als würde ein Kinofilm gedreht. Ich schalte das Fernsehgerät aus, schließe die Wohnungstür und trete vor das Haus. Vögel pfeifen, immer pfeifen im Sommer Vögel, wenn ich auf die Straße trete, auch gestern, als wollten sie mir etwas sagen. Vielleicht wollten sie sagen, dreh dich um, setz Dich an Deine Schreibmaschine, denk nach, versuche herauszufinden im Sucher Deines Seamonkeybrowsers was dort geschieht vor den kaukasischen Bergen. Gestern, nachmittags, habe ich mich also doch auf den Weg gemacht, um in einem Warenhaus ein weißes Hemd zu kaufen. Zwei Stunden später saß ich im Café vor einer Tasse Schokolade und notierte warum ich wegen ausgedehnter Beobachtungstätigkeit scheiterte in dem Versuch ein weißes Herrenhemd zu kaufen. — stop
memory
olimambo : 3.02 — Vor einer Stunde ungefähr, aus heiterem Himmel, erinnerte ich mich an eine Briefmarke, die sich zu einer Zeit in meinem Besitz befunden hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. Diese Marke, obwohl sehr viele Jahre weit von mir entfernt, war so gegenwärtig von einer Sekunde zur anderen, als hätte ich sie wenige Minuten zuvor einem Sammelalbum entnommen und auf einen Luftpostbrief geklebt. Zu Ehren des Schimpansen Ham, der in den Weltraum gereist war, um dort einige Übungen in der Schwerelosigkeit zu absolvieren, war sie in einer begrenzten Auflage gedruckt geworden. Das Besondere an Ham war ohne Frage seine Menschenähnlichkeit gewesen, auch dass Ham, im Gegensatz zu Leica, einer russischen Hundedame, seinen Ausflug in den Kosmos überlebte. Der kleine Briefmarkenaffe trug einen Helm, genau genommen einen weißen Astronautenhelm, der unglücklicherweise von einem Stempel getroffen worden war. In diesem Moment, da ich notiere, erinnere mich an einen Riss, der mein Briefmarkenalbum bedrohte, weil er mit jeder Besichtigung der Sammlung, knisternd wuchs. Einmal habe ich einem Mädchen, in das ich verliebt gewesen war, mein Album mit Riss gezeigt, eine seltsame Erfahrung, weshalb ich das Sammeln der Briefmarken aufgeben habe und mich den Schallplatten zu widmen begann. Dieses Mädchen, das mich von den Briefmarken entfernte, hieß Patrizia und trug sehr kleine blaue Knöpfe in beiden Ohren, die herrlich funkelten, sobald sie sich bewegte. Ja, sie funkelten damals bis in meine Träume hinein und sie funkeln noch heute oder wieder, während ich hier still in einer kühlen Nacht herumsitze und mich wundere, dass ich an Dinge denke, die ich vor einer Stunde noch nicht wusste.
flugglas
nordpol : 22.05 — Lag nachmittags unter Sonne vor Ameisenstadt. Beobachtete, wie Bewohner, nein, Konstrukteure der knisternden Metropole, Käfer, Spinnen, Fliegen, Raupen, Rosenblätter, auch menschliche Papiere ins Wohngehäuse transportierten. Was, fragte ich mich, wird mit einer getöteten oder einer gelähmte Fliege, mit schlafenden Käfern und schlafenden Spinnen geschehen hinter der Fichtennadelhaut? Vielleicht einmal mit einer sehr kleinen Kamera eintauchen und schauen. Ich würde wohl auf eine Halle treffen, auf einen Ort der Zerlegung, des Tranchierens am laufenden Band. Hier also werden Prachtfliegen zerteilt und dort noch lebende Spinnen feinsortiert. In tiefer gelegenen Arsenalen dann die Kammer der Fluggeräte, die Kammer der Fliegen‑, der Libellenflügel, bitter duftende Luft, leichtes Flugglas bis unter die Decke geschichtet. In einer weiteren Höhlung sind ihrer Länge und Stärke nach Spinnenbeine aufgestapelt, Baumstämme, haarig, noch immer in zitternder Bewegung. Stunden werde ich in Magazinen schillernder Augen verweilen, ein begeisterter Zeuge in Fabriken gefangener Spinnen, man hat ihnen die Beine abgenommen, aber sie leben und singen feinste Seide in die warme Ameisenhausluft. Werden sie müde, werden sie an Soldaten verfüttert. — Kurz nach elf Uhr. Abend. Gerade eben hörte ich vom Tod des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn.
torero
marimba : 4.52 — Dichte Fliegenwolken in der Gewitterluft überm Palmengartensee. Man müsste als Vogel mit aufgerissenem Schnabel nur zwei oder dreimal knapp über das Wasser rasen, schon hätte man sich den Magen verdorben. In genau diesem Zusammenhang vergangene Woche einen Falter beobachtet, der sich über der Wasseroberfläche wie ein Torero verhielt. Rasante Flugmanöver lockten einen angreifenden Sperling immer wieder ins Leere. Mit Spannung auf den Absturz des Vogels ins Wasser gewartet. Aber dann führte ein minimaler Windstoß in der falschen Sekunde doch noch zum Ende des Falters, der ein verwegenes Tagpfauenauge gewesen war. — Es ist jetzt 4 Uhr und noch immer Nacht, weil es dunkel ist. Ich habe gerade eine Notiz seziert, die ich auf einem sehr alten Zettel wieder entdeckte. Ich kann mich an den Moment der Notiz nicht erinnern, aber die Schrift ist meine Handschrift, und sie ist zwanzig Jahre alt. Ein merkwürdiger Anblick, als würde ich die Gedanken eines Fremden betrachten, der mir doch vertraut ist. Der Fremde schrieb: Einmal für eine Stunde lang über einer sehr großen Stadt unter einem Zeppelin auf der Stelle schweben, für diese eine Stunde nur, da die Gedanken der Menschen in der Stadt hörbar werden, die strengen, die leichten, die erinnerten, die rasenden Gedanken einer Stadt. — Ein Rauschen vielleicht.
simbabwe
delta : 0.02 — Gestern, am frühen Nachmittag, legte ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nachtarbeit sehr müde war. Ich stellte mein Fernsehgerät an, dort lief ein kleiner Charlie Chaplin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wieder wach wurde nach zwei Stunden, war der kleine Film zu Ende und ich sah in einem anderen Film eine Frau in einer sehr schönen, grünen Landschaft auf dem Erdboden liegen. Die Frau, die ich sah, war eine afrikanische Frau, eine Bürgerin des Staates Simbabwe. Sie lag dort in Simbabwe auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sitzen konnte. Sie war ungefähr so alt wie ich oder sehr viel jünger, der tägliche Hunger hatte sie vielleicht älter gezeichnet, und sie schaute in die Kamera, eine europäische Kamera, und sagte, dass sie so gerne eine Apfelsine haben würde.
nachtzeppelin
whiskey : 5.25 — Seltsame Lufterscheinung heute Nacht. Warm war’s bis 1 Uhr, dann plötzlich kühl bis 2, dann wieder warm. Arbeitete bei geöffneten Fenstern, hörte Duke Ellington, überlegte einen Brief an Daisy Hilton. Vielleicht ist ein kühles Objekt lautlos über die Stadt geflogen, ein Nachtzeppelin, oder ein Schwarm sehr kalter Faltertiere, völlig unbekannte Wesen, oder aber alle Eisspinnen der Stadt, so wie sie im Geheimen in jedem Kühlschrank existieren, haben ihre Boxen verlassen und sich zum Plaudern draußen vor den Fenstern getroffen. Wer könnte schon sagen, was genau geschehen ist in dieser Stunde mit ihrer seltsamen Luft. Haben doch fast alle Menschen geschlafen. — Es ist 7 Uhr morgens. Ich leg mich jetzt nieder. Gute Nacht.
tonbandstimmen
echo : 5.15 — Vier Abendstunden mit Tonbandmaschine im Palmengarten gearbeitet. Folgte Stimmen junger Menschen, die von einer Zeit erzählen, die sie im anatomischen Präpariersaal verbrachten. Manchmal spule ich das Tonband zurück, notiere mit der Schreibmaschine Wort für Wort, um sie in einen größeren Textkörper zu transportieren. Da ist Mel, zum Beispiel, ihre hellsichtigen Gedanken zur Lunge. Als ich an den Tisch komme, um ihr meine Fragen zu überreichen, legt sie gerade Bronchien frei. Sie sagt, ich solle doch rasch fühlen, wie weich das Gewebe der Lunge sei und wie erstaunlich leicht. Während sie eine halbe Stunde zu mir spricht, verknüpft sie kunstvoll einen Handschuh mit einem weiteren Handschuh, ohne den Blick auch nur einmal von meinem Mikrophon zu heben. Etwas später wird sie sagen, dass ihr mein Mikrophon wie ein kleines fliegendes Ohr vorgekommen sei. – Libellen. — In der Dämmerung noch Unschärfen der Luft.
libellen
sierra : 3.22 — Heut Nacht sitz ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle eben, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochendheiß, die kühler geworden sein mochten während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren.