Aus der Wörtersammlung: text

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zoé valdés

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lima : 0.03 — Die sanf­te, sin­gen­de Stim­me Zoé Val­dés. Wie sie erzählt, sie habe in Havan­na mit Freun­den nachts Roma­ne kopiert, um sicher sein zu kön­nen, kost­ba­re, ver­bo­te­ne Tex­te nie­mals zu ver­lie­ren. Beson­de­re Bücher, stel­le ich mir vor, die zu jeder Zeit nur dann in ihre Tie­fen les­bar, also hör­bar, also denk­bar sind, indem sie von Hand auf wei­te­re Papie­re über­tra­gen wer­den. Abends über den Tischen des Hof­gar­tens das fei­ne Orkan­licht der Pro­pel­ler­kä­fer. — stop

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china / mexiko

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tan­go : 0.00 — Ein Bild­schirm­saal, groß wie eine Turn­hal­le. Vor dem Moni­tor No 561 sitzt ein Mann und tippt mit sei­nem rech­ten Zei­ge­fin­ger Pas­sa­gen aus Italo Calvino’s Bänd­chen Herr Palo­mar in eine E‑Mailbox: In die­sem Spät­herbst gibt es in Rom etwas Unge­wöhn­li­ches zu sehen, näm­lich den Him­mel vol­ler Vögel. Zei­chen um Zei­chen arbei­tet sich der Mann vor­wärts. Zunächst wirft er einen Blick auf das mit lin­ker Hand gebän­dig­te Buch, dann einen Blick vor­wärts ins Licht, dar­auf folgt ein wei­te­res elek­tri­sches Zei­chen, ein fei­nes, viel­leicht von einer Feder wie­der­ge­ge­be­nes Geräusch unter dem Rau­schen tau­sen­der Federn, tau­sen­der Fin­ger­werk­zeu­ge, die Text erzeu­gen, Text ver­sen­den, flüch­ti­ges wie Rauch. — Ein­mal dort für eine Minu­te die Zeit anhal­ten. Lesen, was geschrie­ben wur­de, lesen, was auf den Bild­schir­men gera­de noch sicht­bar ist. Viel­leicht auch die Nach­richt, dass der ehe­ma­li­ge  Vor­sit­zen­de des chi­ne­si­schen P. E. N., LIU XIABO, Mit­un­ter­zeich­ner der Char­ter 2008, im Dezem­ber 2008 bereits ver­haf­tet, noch immer ver­schwun­den ist. Oder eine kur­ze Geschich­te, die von der Jour­na­lis­tin LYDIA CACHO RIBEIRO erzählt, deren Leben akut bedroht wird, weil sie in Mexi­ko gegen Han­del mit Frau­en kämpft. — stop

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papierhaut

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alpha : 18.07 — Blät­ter­te in Janet Frames auto­bio­gra­fi­scher Erzäh­lung Ein Engel an mei­ner Tafel. Blitz­ar­tig, nach Jahr­zehn­ten des Lesens, von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de bemerkt, dass Tex­te über sicht­ba­re Struk­tu­ren, dass sie über Unter­bre­chun­gen ihrer Zei­chen­ket­ten ver­fü­gen, dass Kapi­tel oder Absät­ze sie zer­le­gen, dass sie also por­tio­niert sind, dass sie insel­wei­se auf einer Papier­haut von Stil­le schwim­men. — stop

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auftauchen abtauchen

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kili­man­dscha­ro : 10.27 — Tex­te, die wie aus dem Nichts auf dem Papier erschei­nen. Tex­te ohne Anfang, Tex­te, die inmit­ten eines Wor­tes begin­nen. Wal­fisch­li­ni­en, deren damp­fen­de Muschel­rü­cken sich Zei­le für Zei­le aus dem Papier erhe­ben. Ob es viel­leicht mög­lich ist, die Zeit lang­sa­mer ver­ge­hen zu las­sen, indem ich mich zu ihr ver­hal­te, wie ein Domp­teur zu einem Löwen? — stop

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jonglieren

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char­lie : 3.05 — Das Wort weicht nicht vor dem Wort, son­dern vor dem Text zurück. — Eine merk­wür­di­ge Erfah­rung. — Ich neh­me das Wort REGENKÄFER aus einem Text her­aus, lege es auf ein Blatt Papier und suche wei­te­re Wör­ter. Solan­ge Zeit suche ich, bis das WORT zufrie­den gewor­den ist. Dann mache ich eine Pau­se, beob­ach­te einen Film, der vom Vic­to­ria­see erzählt, schla­fe ein, wache auf, gehe zum Schreib­tisch zurück und neh­me das Wort ERINNERUNG aus einem Text her­aus, lege es auf ein Blatt Papier und suche so lan­ge Zeit wei­te­re Wör­ter, bis das WORT zufrie­den gewor­den ist. — Ich notie­re: Zwei Uhr und acht­zehn Minu­ten. Wie­der habe ich bemerkt, dass sich die Zeit rück­wärts nur in klei­nen oder gro­ßen Sprün­gen ein­neh­men lässt. Die Zeit mag sich nicht in die Ver­gan­gen­heit spu­len. — stop

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mrs. callas zählt schneeflocken

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marim­ba : 0.01 — Wenn Mrs. Cal­las Schnee­flo­cken zählt, will sie jede Flo­cke mit ihren Zei­ge­fin­gern berüh­ren. Aus der Ent­fer­nung betrach­tet, könn­te man dann mei­nen, Mrs. Cal­las wür­de sich mit nicht sicht­ba­ren Engeln unter­hal­ten, oder mit Engeln, die so klein sind, dass sie für das Licht nicht ins Gewicht fal­len. Ja, wenn Mrs. Cal­las Schnee zu zäh­len wünscht, spricht sie mit ihren Hän­den mit der Luft. Sie ist sehr schnell in die­ser Bewe­gung des Spre­chens und sie ist glück­lich, habe ich den Ein­druck, ein Mäd­chen, wie sie am klei­nen See des Pal­men­gar­tens auf Zehen­spit­zen steht und so herz­lich lacht, dass die Rei­her ange­flo­gen kom­men, die eigent­lich längst schon nach Afri­ka abge­reist sein soll­ten. Ich glau­be, flüs­tert sie, jetzt habe ich den Über­blick ver­lo­ren. Wir sind dann noch her­um­spa­ziert zwei Stun­den und haben dis­ku­tiert, was Mrs. Cal­las an Bord der Sea­town gern tra­gen wür­de, etwas Leich­tes natür­lich, wegen der schwü­len Hit­ze, die zu erwar­ten sein wird, weil wir uns das so aus­ge­dacht haben von Zeit zu Zeit, das Inven­tar einer Welt, die eigent­lich nicht exis­tiert. — stop

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lichtspiel

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romeo : 0.08 — Ges­tern Abend gegen 22.00 Uhr ist etwas Merk­wür­di­ges gesche­hen. Ich hat­te drei Stun­den ver­tieft an einem Text gear­bei­tet, da wur­de ich von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de von einem hef­ti­gen Glücks­ge­fühl ange­sprun­gen, von einem Kat­zen­tier, das viel­leicht schon eini­ge Wochen in nächs­ter Nähe gewar­tet hat­te, um sich nun, – geschmei­di­ges, schnur­ren­des Wesen -, wär­mend um mei­nen Hals zu legen. stop. Was frisst die­ses Tier, was trinkt es, kann es schrei­ben? stop. Gute Nacht. — stop.

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die liebe der zeppelinkäfer

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india : 2.12 — Schon weit nach Mit­ter­nacht, aber immer noch ein spä­ter Abend sum­men­der Luft. Habe drei lan­ge Stun­den ver­sucht 18.924.150 Zei­chen des mensch­li­chen Genoms als Sequenz in mein Text­ver­ar­bei­tungs­pro­gramm zu laden. Immer wie­der schei­tert die For­ma­tie­rung mit der Sei­te 32.678 des Doku­ments, als ob mei­ne Com­pu­ter­ma­schi­ne sagen woll­te, die­sen Unsinn mache ich nicht län­ger mit. — Nun aber rasch noch einen ernst­haf­ten Gedan­ken notie­ren. Neh­men wir ein­mal an, es wäre mög­lich, einen Käfer zu ent­wi­ckeln, sagen wir, einen Zep­pel­in­kä­fer, der nahe abso­lu­ter Schwe­re­lo­sig­keit unter letz­ten Mole­kü­len von Sau­er­stoff schwe­bend Ozon pro­du­zie­ren wür­de, dann könn­te man sich einen zwei­ten Käfer vor­stel­len, einen Zep­pel­in­kä­fer gleich­wohl, der eine Käfer­da­me sein soll­te, die sich natür­lich sofort ver­lie­ben wird, wes­halb wir bald einen Nebel kleins­ter, sehr gefrä­ßi­ger Zep­pel­in­kä­fer vor uns am Him­mel sehen wür­den. — Eine beru­hi­gen­de Vor­stel­lung, sagen wir, sehr beru­hi­gend. — Was aber fres­sen sie dort oben, wo es doch nichts gibt außer Mond, Stern und Son­nen­licht? Man könn­te eine Gat­tung wei­te­rer Käfer erfin­den, Käfer, die sehr schmack­haft sind und lei­den­schaft­lich ger­ne, sobald man sie frei­las­sen wird, hin­ter die Wol­ken stei­gen, um sich ihren Freu­den, den Zep­pel­in­kä­fern, mit allem, was sie sind und haben, hin­zu­ge­ben. — Ich soll­te sofort ein kom­bi­nier­tes Patent versuchen.

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glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller

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marim­ba

~ : louis
to : Mr. vla­di­mir nabokov
sub­ject : PROPELLER

Lie­ber Mr. Nabo­kov, ges­tern Abend, nach einem lan­gen Spa­zier­gang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halb­wegs betrun­ke­ne Freun­de saßen, hab’ ich mich an ihre Vor­le­sung über Franz Kaf­kas Ver­wand­lung erin­nert, an Ihre lie­be­vol­le und akri­bisch genaue Unter­su­chung des Tex­tes, an ihre Käfer­zeich­nun­gen von eige­ner Hand, mit wel­chen Sie ver­such­ten eine Vor­stel­lung zu gewin­nen von Wesen und Gestalt jener Hül­le, in die Gre­gor Samsa ein­ge­schlos­sen wor­den war. Ja, die Genau­ig­keit, mit der man sich erfin­dend einem Gegen­stand nähert oder die Genau­ig­keit, mit der man einen erfun­de­nen Gegen­stand sezie­ren kann, immer wie­der begeg­ne ich wäh­rend mei­ner Arbeit Ihren Unter­su­chun­gen, Ihrer Metho­de. Vor­ges­tern hat­te ich bei einer ers­ten Annä­he­rung an eine Geschich­te, die von leben­den Papie­ren erzäh­len wird, das Wort Pro­pel­ler­flü­gel in den Mund genom­men, ohne zu ahnen, dass Pro­pel­ler in der Welt leben­der Orga­nis­men nur sehr schwer zu ver­wirk­li­chen sind, weil ein Pro­pel­ler sich doch frei bewe­gen muss, dre­hend in einer Fas­sung, die ihn lose hält, sodass ein leben­der Orga­nis­mus aus einem wei­te­ren Kör­per bestehen müss­te, der ganz zu ihm gehö­ren wür­de und doch nicht ganz zu ihm gehö­ren kann. Nun habe ich beschlos­sen, die Vor­stel­lung der Pro­pel­ler­flü­gel nicht so ohne Wei­te­res auf­zu­ge­ben. Ich habe mir gedacht, dass ein Pro­pel­ler, der aus orga­ni­schen Mate­ria­li­en bestehen wird, viel­leicht auf ato­ma­rer Ebe­ne einem flug­fä­hi­gen Kör­per ver­bun­den sein könn­te, ver­bun­den durch Mole­kü­le, die im Moment einer Flug­be­we­gung, den Rotor von Haut und Kno­chen einer­seits anzu­trei­ben in der Lage sind und ande­rer­seits je für einen kur­zen Moment in die Frei­heit ent­las­sen. Und jetzt bin ich glück­lich und hof­fe, dass sie an mei­nem Ent­wurf Gefal­len fin­den wer­den. – mit aller­bes­ten Grü­ßen, Ihr Louis

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walfischspaziergang

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hima­la­ya : 8.05 — Wie ich mor­gens erwa­che und anstatt in einem Zim­mer zu lie­gen, mich unter einem schö­nen frei­en Him­mel wie­der­fin­de. Das ist eigent­lich noch kei­ne gro­ße Sache. Ich wür­de zunächst die Augen schlie­ßen und den­ken, das ken­ne ich doch, wie oft schon bin ich von einem Traum in den nächs­ten gewan­dert. Ganz still wür­de ich war­ten, um kurz dar­auf mei­ne Augen erneut zu öff­nen, und schon wie­der oder noch immer wäre die­ser schö­ne Him­mel über mir, ein leich­ter Wind wür­de wehen und die Luft duf­ten nach Salz und Tang. Wie ich mich auf­set­ze und schaue, hur­ra, Was­ser in allen Rich­tun­gen, Was­ser hin bis zum Hori­zont. Was für ein sel­te­ner Anblick, was für eine merk­wür­di­ge Erfah­rung! So plötz­lich auf hoher See, und der Boden, auf dem ich sit­ze, zit­tert, nein bebt, nein pulst, und ich wür­de den­ken, wie kost­bar die­ses Leben doch ist und dass ich mich nicht erin­nern kann, wie ich hier­her auf den Rücken eines Wales gekom­men bin. – Es ist jetzt zwei Stun­den nach Mit­ter­nacht, die Luft riecht nach Schnee und die Welt ist still. Alles schläft. Auch Sie wer­den schla­fen, wäh­rend ich die­sen Text notie­re. Aber nun ist etwas Zeit ver­gan­gen, und da Sie wach gewor­den sind, wer­den Sie viel­leicht fra­gen, wie ich zu die­ser Über­le­gung einer nächt­li­chen Mee­res­lan­dung gekom­men bin. Nun, das ist ganz ein­fach. Vor weni­gen Tagen hör­te ich, eine Frau habe sich gewünscht, ein­mal in ihrem Leben auf dem Rücken eines Wales zu ste­hen. Sie wür­de sich, sag­te man, ihrer Schu­he ent­le­di­gen und auf dem Rücken des Wales spa­zie­ren wie auf einem Unter­see­boot. Natür­lich habe ich dar­über nach­ge­dacht, was gesche­hen wür­de, wenn die­ser Wal, von dem hier tat­säch­lich die Rede ist, sich nicht in der Nähe einer Küs­te, son­dern auf dem offe­nen Meer, auf hoher See, befin­den wür­de. Ja, und was wür­de gesche­hen, wenn der Wal zu tau­chen wünsch­te, viel­leicht weil er hung­rig gewor­den ist, obwohl er doch die Schrit­te einer Men­schen­frau auf sei­nem Rücken spür­te. Stel­len Sie sich vor, ich weiß, wie er das macht. Der Wal wird lang­sam und geräusch­los sin­ken, jawohl. Aber noch ehe voll­stän­dig in die Tie­fe abge­taucht wer­den wird, wird er noch ein­mal zurück­keh­ren und ruhig neben der schwim­men­den Frau im Was­ser lie­gen, wird etwas Luft­schaum bla­sen und ihr sein Auge zei­gen. Ja, so genau wird der Wal das machen, und dann wird er in der Tie­fe ver­schwun­den sein, und viel­leicht, nein, sehr sicher, wird die schwim­men­de Frau einen fei­nen Gesang aus der Tie­fe ver­neh­men, die Geschich­te einer Begeg­nung von einem Wal den Walen erzählt, eine Kurz­ge­schich­te, mehr Zeit ist nicht. — stop

 

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