Aus der Wörtersammlung: uhr

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steinuhren

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del­ta : 0.01 — Wie­der die Fra­gen: Exis­tie­ren stei­ner­ne Uhr­wer­ke, die auf­zieh­bar sind? Wel­che Gestei­ne prä­zi­se wür­den als Uhr­werk­fe­dern die­nen? Wie schwer oder leicht wür­den stei­ner­ne Uhr­wer­ke sein? Wären die­se Uhren trag­ba­re Uhren? Wären sie genau? Könn­te ein Mensch sie mit der Kraft sei­nes Kör­pers bewe­gen? — stop

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indianer

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del­ta

~ : oe som
to : louis
sub­ject : INDIANER
date : mar 30 12 9.28 a.m.

Ges­tern Abend, stür­mi­sche See, war Mil­ler mit einer Schach­tel Foto­gra­fien Noe’s vom Fest­land zurück­ge­kehrt. Es dun­kel­te bereits, als er mit dem Segel­schiff Esther Val­dez zufrie­den ein­traf. Wir saßen dann die hal­be Nacht an einem Tisch, um eine ers­te Foto­gra­fie unter drei Dut­zend wei­te­rer Foto­gra­fien Noe’s aus­zu­wäh­len. Noe als Säug­ling auf einem Wickel­tisch lie­gend. Noe in einer Bade­wan­ne mit einem Hüt­chen auf dem Kopf. Er war damals vier oder fünf Jah­re alt gewe­sen und lach­te in die Kame­ra. Noe zur Kar­ne­vals­zeit, ein India­ner. Noe wie er ein klei­nes Mäd­chen küsst, das grö­ßer ist als er selbst. Ein Pass­bild in Far­be. Noe ist bereits weit über 20 Jah­re alt gewe­sen, mit die­sem Bild wol­len wir begin­nen, und so haben wir Noes Foto­gra­fie in Glas gepan­zert. Mil­ler mach­te sich dann nach etwas Schlaf höchst­per­sön­lich auf den Weg abwärts. Er ist in die­sem Moment auf Tie­fe 250 Fuß ange­kom­men, noch zwei Stun­den und er wird Noe errei­chen. Mil­ler mel­det, er kön­ne Noe bereits erken­nen, einen leuch­ten­den Punkt, sagt Mil­ler, einen gleich­mä­ßig blin­ken­den Punkt. Noe selbst scheint zufrie­den zu sein. Er ist wach, wir hören sei­nen Atem. Noch vor weni­gen Minu­ten ver­such­te er sei­nen Blick nach oben zu rich­ten, aber sei­ne Kräf­te sind zu gering, um sei­nen schwe­ren Anzug bewe­gen zu kön­nen. Er sei nicht mehr der Jüngs­te, sag­te Noe. Er seh­ne sich nach einer Uhr, setz­te er hin­zu. — Das Meer ist heu­te ruhig. Ein sanft blau­er Him­mel über uns. Nichts an die­ser Stel­le deu­tet dar­auf­hin, welch dra­ma­ti­sche Geschich­te sich unter uns in aller Stil­le ereig­net. Ob Noe sich wie­der erken­nen wird? — Ahoi, lie­ber Lou­is. Dein OE SOM

gesen­det am
30.03.2012
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MLR X‑867

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nord­pol : 3.55 — Fol­gen­dem Mol­lus­ken­we­sen gilt nacht­wärts mei­ne Auf­merk­sam­keit: MLR X‑867, 10 cm in der Län­ge, 1 cm in der Höhe, 2 cm in der Brei­te, sam­tig schwar­zer Kör­per, 30 Gramm schwer, hohl und höchst beweg­lich. Die­ses Schne­cken­we­sen lebt vor­nehm­lich im Was­ser, wes­we­gen es über Kie­men gebie­tet, wan­dert dort lang­sam auf Lamel­len­bei­nen über den Boden hin oder fel­si­ge Wän­de auf und abwärts. Aber auch in Gefan­gen­schaft über­lebt es ger­ne, solan­ge man war­me Flie­gen­lar­ven füt­tert, die groß­zü­gig über die Ober­flä­che des Mol­lus­ken­ge­wäs­sers zu ver­tei­len sind. Es ist viel­leicht so, dass in ste­ti­ger Erwar­tung, das klei­ne Tier in genau jenem Moment, da es der beben­den Lar­ven­kör­per ansich­tig gewor­den ist, Hoch­ge­schwin­dig­keits­zun­gen in Rich­tung sei­ner Beu­te schi­cken wird, Zun­gen, die einem schma­len Rücken ent­kom­men, dort reiht sich ein Mund an den nächs­ten, es sind sie­ben ins­ge­samt, die geschlos­sen voll­stän­dig unsicht­bar blei­ben. Nun wäre das noch nichts Beson­de­res, wenn es sich bei die­sem Wesen, nicht um eine Per­sön­lich­keit von her­vor­ra­gen­der Musi­ka­li­tät han­deln wür­de, man leuch­tet näm­lich in jeder erdenk­li­chen Far­be, sobald man Geräu­sche, noch die lei­ses­ten hört. Das Schwarz­sein bedeu­tet also Stil­le. Art und Posi­ti­on der Schne­cken­oh­ren sind zu die­sem Zeit­punkt, 3 Uhr 28 Minu­ten, noch nicht bekannt. — stop
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wörterzunge

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alpha : 2.05 Hör­te im Bild­schirm­ge­spräch Tho­mas Bern­hard wie­der sagen: Alles ist immer wirk­lich, es gibt nichts Erfun­de­nes. Froh bin ich über die­sen Satz. Nach Selbst­be­ob­ach­tung scheint in mei­ner erzäh­len­den Welt ein Zeit­an­nä­he­rungs­werk zu exis­tie­ren, das nach Ent­de­ckung zunächst arbei­ten muss im Kopf. Ich habe ges­tern unter ande­rem den Ver­such eines Man­nes notiert, eine Bie­ne von Stein zu fabri­zie­ren, ein sozia­les Wesen, das in der Lage sein soll­te, sich in die Luft zu erhe­ben. Die­se Vor­stel­lung war mir zunächst fremd gewe­sen, mein eige­ner Gedan­ke. Als ich dann nach zwei Stun­den von einem Spa­zier­gang an den Schreib­tisch zurück­kehr­te, war mir der Mann und sein Unter­neh­men so ver­traut gewor­den, als wür­de er in einer benach­bar­ten Woh­nung leben, ich wür­de ihn besucht haben und über die Schul­ter geschaut, wie er etwas Fels­spat mit einem Mei­ßel­chen behut­sam fächert, dass es als Flü­gel­teil­chen bald ein­mal durch die Luft segeln könn­te. Es scheint viel­leicht so zu sein, dass sich mei­ne Wirk­lich­keit zunächst mit­tels einer Wör­t­er­zun­ge vor­sich­tig in unbe­kann­te Räu­me tas­tet. — Vier Uhr zwei in Homs, Syria. — stop
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ein ballon

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echo : 6.22 — Ein Vogel, ein Sper­ling, sitzt auf dem Sims vor mei­nem Fens­ter. Es ist kurz nach zwei Uhr. Der Vogel scheint zu schla­fen unter einem geschlos­se­nen Augen­lid, das ande­re Auge schaut mich an, wie ich mich vor­sich­tig nähe­re. Lang­sam fah­re ich mit dem Kopf an die Schei­be her­an. Ich glau­be, ich bin einem Sper­ling in mei­nem Leben noch nie so nahe gekom­men, nur Zen­ti­me­ter, etwas Glas, etwas Luft tren­nen uns. Der Vogel scheint mich in die­sem Moment sorg­sam zu beob­ach­ten, bei­de Augen sind geöff­net, er plus­tert sich, jetzt macht er bei­de Augen wie­der zu. Ich gehe zum Schreib­tisch, bin schläf­rig gewor­den, nein, ich darf mich auf kei­nen Fall aufs Sofa set­zen, das wäre das Ende der Arbeits­nacht. Ich notie­re: Auf dem Broad­way, Ecke 28. Stra­ße, steht ein Mann zwi­schen Autos vor einer Ampel. Er ver­kauft Pis­to­len, die Sei­fen­bla­sen erzeu­gen. Es ist kalt und win­dig, wes­we­gen dem Lauf der Pis­to­le nur klei­ne Sei­fen­bla­sen ent­kom­men. Der Mann schimpft vor sich hin, er droht dem Him­mel mit der Waf­fe. Die Ges­te bleibt ohne Wir­kung, wes­halb der Mann sich wie­der auf den Lauf sei­nes Werk­zeu­ges kon­zen­triert. Sobald ein kopf­gro­ßer Sei­fen­bal­lon doch ein­mal ent­steht, der Aus­druck empör­ter Zufrie­den­heit auf sei­nem Gesicht, aber dann platzt die Bla­se und er fängt wie­der von vor­ne an, wischt sich die Nase, die ihm davon­zu­lau­fen droht, rich­tet sich den Lum­pen, der sein Gesicht umhüllt, die Ampel springt auf Grün, Autos fah­ren an, wei­te­re Autos hal­ten. Es ist kalt heu­te. Ich gehe süd­wärts spa­zie­ren, bis ich den Uni­on Squa­re errei­che, sit­ze ein wenig in der Son­ne, Eich­hörn­chen wäl­zen sich wie Kat­zen auf dem san­di­gen Boden. Nach drei Stun­den keh­re ich zur Kreu­zung Broad­way Ecke 28 Stra­ße zurück. Ein Mann steht dort zwi­schen Autos vor einer Ampel. Er ver­kauft Pis­to­len, die Sei­fen­bla­sen erzeu­gen. Es ist der­sel­be Mann, den ich bereits beob­ach­te­te, es scheint sich bei die­ser Men­sche­n­er­schei­nung um einen Loop zu han­deln. Es ist denk­bar, dass es Hun­dert­tau­sen­de ähn­li­cher Loops in der Stadt New York zu beob­ach­ten gibt, Loops, die in der Sub­way sich voll­zie­hen, Loops in Büro­land­schaf­ten, Loops in Waren­häu­sern. Ich freue mich über die­se Ent­de­ckung. Der Vogel vor dem Fens­ter lun­gert dort immer noch her­um. Es ist jetzt schon viel spä­ter gewor­den, ich habe sehr lang­sam gear­bei­tet. – Astor Pia­zolla / El Con­cier­to De Luga­no. — stop

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romantische kurzgeschichte

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sier­ra : 4.28 — Genè­ve / Place Bel Air. Es ist 1 Uhr und 30 Minu­ten MEZ : Ein Mann dunk­ler Haut­far­be, schwer betrun­ken, wird von städ­ti­schen Gen­dar­men im zen­tra­len Poli­zei­amt fest­ge­setzt. Ruhe­stö­rung. — 1 Uhr 35 Minu­ten MEZ : Der Betrun­ke­ne, Hän­de auf den Rücken gefes­selt, behaup­tet Char­lie Par­ker zu sein. Er will sein Saxo­phon wie­der­ha­ben. — 2 Uhr 05 Minu­ten MEZ : Die Iden­ti­tät des Gefes­sel­ten wird zwei­fels­frei fest­ge­stellt. Es han­delt sich um US-Bür­ger Jon­ny Wil­ker­son, 36, wohn­haft zu Paris, 8, Rue de Javel. – 2 Uhr 38 Minu­ten MEZ : Über­ga­be des Blas­in­stru­men­tes an den Ran­da­lie­ren­den. – 2 Uhr 40 Minu­ten bis 4 Uhr und 5 Minu­ten MEZ : Fünf sta­tio­nä­re Gen­dar­men der Nacht­schicht sind von ent­fes­sel­ten Geräu­schen, die einer ver­git­ter­ten Aus­nüch­te­rungs­zel­le ent­kom­men, stark beein­druckt. Man hat Stüh­le von Holz vor dem Gehäu­se abge­stellt. — 4 Uhr und 6 Minu­ten MEZ : Par­ker, Char­lie, ein­ge­schla­fen. — stop

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in der dritten stunde schlafloser nacht

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gink­go : 2.55 — In dem Doku­men­tar­film Unter Kon­trol­le, der von den inne­ren Räu­men des Atom­kraft­zeit­al­ters her erzählt, erklärt ein lei­ten­der Inge­nieur den Wir­kungs­zu­sam­men­hang zwi­schen com­pu­ter­ge­steu­er­ten Rou­ti­nen und mensch­li­chen Wir­kungs­op­tio­nen, die zu Sicher­heit oder mög­lichst gerin­ger Unsi­cher­heit füh­ren sol­len. Es ist ein sym­pa­thi­scher älte­rer Herr, der dort spricht. Man sieht, er ist stolz auf die von mensch­li­chem Geist geschaf­fe­ne Maschi­ne. Um sei­ner Über­zeu­gungs­kraft nicht voll­stän­dig zu erlie­gen, muss ich mich bemü­hen, ich schwim­me, mit­tels Gedan­ken­be­we­gung, gera­de­zu an gegen den Sog sei­ner Argu­men­ta­ti­on, ich den­ke: Three Mile Island, Tscher­no­byl, Fuku­shi­ma, ein Tele­gramm, den­ke ich, das sich wie­der­ho­len lässt, ein klei­ner Kopf­ro­tor. Ein­mal äußert der sym­pa­thi­sche alte Mann einen höchst bemer­kens­wer­ten Gedan­ken, er sagt, dass sta­tis­tisch gese­hen jeder Mensch 10 Feh­ler in einer Stun­de unter­neh­men wür­de. Das ist eine sehr selt­sa­me Sache. Mir geht das nicht mehr aus dem Kopf. Es ist jetzt bald drei Uhr in der Nacht, der Sta­tis­tik zufol­ge habe ich bis­her 28 Feh­ler unter­nom­men, die jeder für sich nicht schwer gewe­sen sein dürf­ten, weil ich noch immer exis­tie­re. Ich ruh­te, zum Bei­spiel, in der ver­gan­ge­nen Stun­de auf einem Sofa, ich habe weder tele­fo­niert noch habe ich Musik gehört, auch habe ich in kei­nem Buch gele­sen, ich habe an mei­nen Vater gedacht, an mei­ne Mut­ter, an mei­ne Schwes­ter, an mei­ne Brü­der, und auch an jenen älte­ren Herrn und sei­ne Begrün­dung der Maschi­ne. Bald, in weni­gen Minu­ten, wer­de ich in die vier­te Stun­de die­ses Tages tre­ten. — stop
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ein engel im koffer

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zou­lou : 2.18 — Jeder Mensch soll­te für Zei­ten der Sor­ge, der Furcht, der inne­ren Not über einen Kof­fer klei­ner Geschich­ten gebie­ten, Geschich­ten, die man sich selbst erzäh­len kann, ohne die Lip­pen öff­nen zu müs­sen, hei­te­re, tröst­li­che Kopf­ge­schich­ten, Geschich­ten, die sich bei Tag und bei Nacht, auch eben im Dun­keln ereig­nen. Ich selbst tra­ge seit bald 15 Jah­ren einen Kof­fer die­ser Art mit mir her­um. Manch­mal, wenn ich an mei­nen Kof­fer den­ke, fan­ge ich an zu lachen, ohne ihn noch geöff­net zu haben. Es ist ein Kof­fer, – jeder, der selbst einen Behäl­ter die­ser Art besitzt, wird das wis­sen -, der durch sei­ne rei­ne, gehei­me Anwe­sen­heit bereits wirk­sam wer­den kann. Man­che mei­ner Geschich­ten sind kur­zen Fil­men ähn­lich, sie ver­fü­gen über kaum eine Hand­lung, und weil ich sie mir immer wie­der vor­stel­le oder erzäh­le, sind sie zu wah­ren Geschich­ten gewor­den. Ein­mal, zum Bei­spiel, in einem weit in der Zeit zurück­lie­gen­den Som­mer saß ich auf mei­nem Sofa und las in irgend­ei­nem Buch her­um. Als ich kurz zum Fens­ter sah, flat­ter­te ein Zitro­nen­fal­ter vor­über, er flog von links nach rechts, und zwar sehr gera­de, das heißt in ein und der­sel­ben Höhe. Kaum war er ver­schwun­den kehr­te er wie­der, die­ses Mal flog er von rechts nach links, war nun aller­dings nicht mehr allein, ein Engel, groß wie ein Men­schen­fin­ger, folg­te ihm. Die­ser hell­häu­ti­ge Engel ver­such­te in der Art und Wei­se der Zitro­nen­fal­ter zu flie­gen. Er hat­te eine Flie­ger­bril­le auf den Kopf gesetzt und sei­ne äußerst fili­gra­nen Arme über einem run­den Bauch gefal­tet, er flog näm­lich auf dem Rücken und stürz­te aus die­ser unge­wöhn­li­chen Hal­tung ab. Bald war der Zitro­nen­fal­ter vor mei­nem Fens­ter ver­schwun­den gewe­sen, aber der Engel kam wie­der und wie­der vor­bei in dem Ver­such, ein Fal­ter zu sein. Sei­ne Stür­ze waren so senk­recht wie plötz­lich, ein tap­fe­res Wesen, das nicht auf­ge­ben woll­te. Ich las dann bald wei­ter in irgend­ei­nem Buch, und war glück­lich, wür­de ich sagen. – 2 Uhr Nacht. Lou Donald­son Cal­lin’ all cats. — stop
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charles mingus

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nord­pol : 0.08 — Ich stel­le mir eine Stadt ohne Trep­pen vor, eine Stadt ohne Kel­ler, ohne Auf­zü­ge, eine Stadt ohne Lei­tern, eine voll­stän­dig ebe­ne Stadt. Die Dächer der Stadt sind von durch­sich­ti­gen Stof­fen gewirkt, Licht fällt zu jeder Tages­zeit in jedes ihrer Zim­mer. Kaum Bäu­me, kei­ne grö­ße­ren Stra­ßen, kei­ne Auto­mo­bi­le. In die­ser Stadt woh­nen 8 oder 10 oder 12 Mil­lio­nen Men­schen. Wür­de man auf einen der sel­te­nen Bäu­me klet­tern, wäre kein Ende, kein Land jen­seits der Stadt zu erken­nen. Es exis­tie­ren kei­ne Plä­ne der Gas­sen, der Plät­ze, der Win­kel, nach wel­chen man sich rich­ten könn­te. Alle Wege sind schmal, sind ver­win­kelt, sind ohne Namen. Um sich zu ori­en­tie­ren, wenn sie ihre ver­trau­te Umge­bung ver­las­sen, mar­kie­ren die Bewoh­ner der Stadt ihre Wege an Wän­den, die sie pas­sie­ren, des­halb sind die Häu­ser der ebe­nen Stadt über und über von Zei­chen bedeckt, die­se nacht­wärts vor­ge­stell­te Stadt ist eine beschrif­te­te Stadt. Man rich­tet sich wan­dernd auch nach der Son­ne, nach den Ster­nen, wer sich ver­läuft, ist ver­lo­ren, jeder Abschied könn­te der letz­te sein, die Lie­ben­den gehen immer zu zweit, es ist eine Stadt zum Ver­schwin­den schön, die Häu­ser sind hell, sind von der Far­be der Kame­le, das bestän­di­ge Rau­schen der Stim­men macht einen wei­chen Him­mel. – Es ist drei Uhr. Ich habe wun­der­vol­les Cha­os zu Gast. Charles Min­gus At Car­ne­gie Hall : C Jam Blues — stop

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PRÄPARIERSAAL : schwärme

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tan­go : 1.16 — Ges­tern, Punkt 10 Uhr abends, habe ich mei­ne ana­to­mi­sche Ton­band­ma­schi­ne wie­der ange­wor­fen. Ich hör­te eine Auf­nah­me, die ich mit der Beschrif­tung No 87 ver­se­hen hat­te. Lei­der konn­te ich mich nicht erin­nern, wo das Doku­ment auf­ge­nom­men wor­den sein könn­te, weil ich ver­säum­te, Zeit und Ort des Gesprächs, sowie den Namen der spre­chen­den Per­son zu notie­ren. Eine Frau­en­stim­me war zu hören und das Zwit­schern von Vögeln. Die Stim­me sprach rasend schnell, als ob sie den Vögeln nach­ei­fern woll­te. Mehr­fach muss­te ich die Auf­nah­me in einem ers­ten Durch­gang anhal­ten und wie­der­ho­len, um ver­ste­hen oder erah­nen zu kön­nen, was die Stim­me gesagt hat­te. Ich habe ihr einen pro­vi­so­ri­schen Namen gege­ben. Mela­nie erzählt: > Es ist eine auf­re­gen­de Zeit. Da sind Schwär­me von Gedan­ken, Geräu­schen, Bil­dern, Gerü­chen in mei­nem Kopf. Ich kann sie jeder­zeit her­vor­ho­len. Manch­mal kom­men sie von selbst. Unge­fragt. Viel­leicht dar­um, weil ich etwas Beson­de­res erle­be. Oft habe ich schon den Ver­such unter­nom­men, von mei­nen Erfah­run­gen zu berich­ten. Ich habe das Gespräch gesucht, Sie ver­ste­hen, ich bin stolz, der Auf­ga­be gewach­sen zu sein. Des­halb erzäh­le ich mit Begeis­te­rung. Ich habe zum Bei­spiel davon erzählt, dass ich sehr ger­ne an Mus­keln prä­pa­rie­re. Ich habe von der luzi­den, perl­mutt­far­be­nen Haut berich­tet, die Mus­keln umgibt. Ich habe von der Befrie­di­gung erzählt, die ich emp­fin­de, wenn ich einen Mus­kel voll­stän­dig frei­ge­legt habe, wenn ich den Mus­kel begrei­fen konn­te, sei­nen Ursprung und sei­nen Ansatz erken­nen. Ich habe, wäh­rend ich erzähl­te, mit mei­nen Hän­den vor­aus­ge­ar­bei­tet, habe mit mei­nen Hän­den auf dem Tisch Bewe­gun­gen aus­ge­führt, als war­te­te dort eine Struk­tur, die ich noch rasch prä­pa­rie­ren soll­te. Hand­ar­beit, sag­te ich, wenn du eine gute Ärz­tin sein willst, musst du zunächst eine gute Hand­wer­ke­rin sein. Wenn du nicht Hand anle­gen willst an einen Men­schen, ist alle Mühe nicht wert. Eine Pro­fes­so­rin erklär­te ein­mal: Sei­en Sie neu­gie­rig. Ver­fol­gen Sie die Struk­tu­ren wei­ter bis zu ihrem Ende. Glau­ben Sie nichts, prü­fen Sie, ob das, was in den Ana­to­mie­bü­chern steht, wirk­lich stimmt. Sehen Sie nach und sie wer­den mit Struk­tu­ren belohnt. — Ja, es ist auf­re­gend. Eine Assis­ten­tin notier­te eine wun­der­ba­re Geschich­te für mich. Das war an dem Tag gewe­sen, als Gehir­ne ent­nom­men wor­den waren. Da sei eine Kol­le­gin durch den Saal auf sie zuge­kom­men und habe ihr ein Gehirn in die Hän­de gelegt. Sie woll­te ihr eine ers­te Erfah­rung schen­ken, und sie woll­te in die­sem bedeu­ten­den Moment an ihrer Sei­te sein. Das Gehirn, ihr ers­tes Gehirn, sei uner­war­tet schwer gewe­sen. Sie erin­ner­te sich gut an ihre Sor­ge, sie könn­te das Gehirn fal­len las­sen. Sie habe in die­sem Augen­blick dar­an gedacht, dass sie eine ganz Welt in Hän­den hal­te, Träu­me eines Lebens, Bil­der, Sät­ze, Wör­ter, Wör­ter, die nie wie­der erreich­bar sein wer­den. – stop

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